
Muslimische Community: Interview mit Samy Adamou über Commonsplace, Barmherzigkeit und warum Menschen wichtiger sind als Technik.
(iz). Samy Adamou ist 29 Jahre alt. Er wurde in Aachen geboren, wo er aufwuchs. Gemeinsam mit anderen Mitstreitern gründete er vor rund drei Jahren die Crowdfundingplattform commonsplace.de.
Im Gespräch befragten wir ihn über das Projekt und seinen Ansatz. Es konzentriert sich auf die muslimische Community in Deutschland und möchte durch deren Stärken die eigene Selbstorganisation fördern.
Islamische Zeitung: Lieber Samy Adamou, es gibt mittlerweile mehrere Plattformen für Crowdfunding im Netz. Was zeichnet Ihre aus und warum ist sie wichtig für die muslimische Community in Deutschland?
Samy Adamou: Wir konzentrieren uns auf die muslimische Community in Deutschland und möchten mithilfe der gemeinschaftlichen Kraft die muslimische Selbstorganisation und Vernetzung fördern. Wir verbinden großzügige Unterstützer aus der Community mit Projektinitiatoren und kreativen Geistern – und damit auch mit der Sadaqa.
Bisher konnten wir rund 400 Projekte fördern. Diese stammen aus verschiedensten Bereichen wie Moscheeprojekten, sozialen Initiativen, Entrepreneurship und Bildung. Besonders freuen wir uns über innovative Ideen, die die Community stärken – davon gibt es noch zu wenige. Ein Beispiel dafür ist ein Bruder, der Notfallarmbänder an Senioren verteilen möchte. Mit einem QR-Code könnten dadurch direkt die Notfallkontakte des Betroffenen aufgerufen werden. Genau für solche Projekte steht commonsplace.
Wir zeigen, wie aktiv und vielfältig die muslimische Community in Deutschland ist.
Das Potenzial der Community ist weitestgehend unerforscht
Islamische Zeitung: Es gibt sehr wenige belastbare Statistiken in Bezug auf die Muslime in Deutschland. Habt ihr irgendeine Vorstellung davon, wie groß ihr finanzielles Potenzial ist?
Samy Adamou: Interessante Frage. Wir vergleichen uns oft mit Amerika oder England, wo es wohlhabende Communities gibt, die viel erreichen.
Die deutsch-muslimische Migrationsgeschichte verlief jedoch anders. Anders als in Amerika oder England, wo viele Akademiker eingewandert sind, kamen nach Deutschland vor allem Gastarbeiter und Flüchtlinge. Das bedeutet, dass ein direkter Vergleich nicht möglich ist.
Dennoch sehen wir großes Potenzial. Mit rund 400 Projekten und bis zu 70.000 Unterstützern haben wir längst nicht die gesamte Community in Deutschland erreicht. Gleichzeitig sehen wir, wie viele Projekte außerhalb unserer Plattform stattfinden – zum Beispiel über PayPal oder die Seiten von Hilfsorganisationen.
Trotzdem können wir mit Stolz sagen, dass wir in den letzten dreieinhalb Jahren, seit wir online sind, etwa 3,5 bis 4 Millionen Euro gesammelt haben. Diese finanzielle Stärke sollte nicht unterschätzt werden.
Das zeigt, dass die muslimische Community in Deutschland bereit ist, mehr zu schaffen – wenn wir die richtigen Strukturen und Netzwerke aufbauen. Die nächste Phase könnte darin bestehen, diese Kraft gezielt für nachhaltige, innovative Projekte zu nutzen, um die Selbstorganisation und die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Community weiter zu stärken.
Foto: Muslimfoodbank.com
Funktionieren die „Likes“ der Netzwerke im realen Leben?
Islamische Zeitung: Seit Ende der 2000er Jahre gab es in der weiteren muslimischen Gemeinschaft eine Hinwendung zum Denken in Netzwerken – die Zahnräder wären ein Stichwort. Netzwerke sind ihrem Wesen nach horizontal. Relevanz bzw. Priorität eines Themas ergibt sich dort durch die Anzahl der Vernetzungen und der „Likes“. Geht dieser Ansatz – insoweit Projekt aus dem Kontext „Islam“ betroffen sind – nicht gegen die vertikale Struktur der islamischen Themen, in der bei der Relevanz zwischen wichtig und weniger wichtig unterschieden wird bzw. werden kann?
Samy Adamou: Wir möchten mit unserer Plattform einen Netzwerkeffekt erzielen, sehen aber, dass die muslimische Community die islamische Ordnung bei der Priorisierung von Themen selbst berücksichtigt. Die Sadaqa, die das Herzstück unserer Plattform ist, entfaltet sich bei jedem Projekt – wir wissen, dass selbst ein Lächeln eine Sadaqa ist. Deshalb sehen die Menschen in jedem Projekt ein Potenzial für Sadaqa.
Unser Ziel ist es, auch kleinere Communities auf die Plattform zu holen, damit sie vom größeren Netzwerk profitieren können. Wir bemühen uns, dass die kleineren und schwächeren Projekte durch die Unterstützung der größeren und stärkeren gestärkt werden. So entsteht ein echter Community-Effekt.
Islamische Zeitung: Um noch einmal nachzuhaken – es gibt Fragen für die Muslime in Deutschland, die sind wichtiger als andere. Die Praxis der Zakat hat eine größere Relevanz als ein flächendeckendes Angebot osmanischer Buchkunst. Bei einem Netzwerk ist problematisch, dass hier „Likes“ entscheiden und nicht die Priorität eines Themas.
Samy Adamou: Tatsächlich werden humanitäre Projekte in der muslimischen Community oft höher bewertet als beispielsweise Kunst- und Kulturprojekte. Wir versuchen, dieses Ungleichgewicht zu verändern – unter anderem durch unser „Muslim Lab“ und durch gezielte Aufklärung, zum Beispiel in Form von Videos. Es geht darum, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass auch Kunst und Kultur einen wichtigen Beitrag zur muslimischen Identität und Gemeinschaft leisten.
Gleichzeitig stehen wir in engem Austausch mit unseren Projektinitiatoren und versuchen gezielt herauszufinden, welche Unterstützung sie tatsächlich benötigen. Wir sehen jedoch, dass es den Communities bei uns auf der Plattform bisher oft an strategischem Denken fehlt. Häufig geht es um konkrete Bedürfnisse wie den Ausbau einer Moschee oder die Finanzierung eines Projekts – eine langfristige, nachhaltige Strategie bleibt jedoch oft aus – Kunst und Kulturprojekte müssen nachhaltiger sein.
Genau deshalb haben wir im letzten Jahr das „Muslim Lab“ ins Leben gerufen. Dort bringen wir Muslime auch außerhalb unserer technischen Plattform zusammen, um kollektive Intelligenz zu nutzen und nachhaltige Lösungen zu entwickeln. Ein Beispiel dafür war unser Fokus auf die „Moschee der Zukunft“: Welche Herausforderungen gibt es und wie können wir sie zukunftsfähig gestalten? Damit wollten wir bewusst über die digitale Welt hinausgehen und Raum für strategisches Denken schaffen.
Foto: imago | Uwe Steinert
Muslime können eine Rolle in ihren Nachbarschaften spielen
Islamische Zeitung: Wir tendieren als Community u.a. dazu, uns in Metafragen und -diskursen zu verlieren und viel zu wenig an das konkrete Leben zu denken. Seht ihr die Möglichkeit, dass sich die Erfahrung von commonsplace.de und ähnlicher Plattformen auch auf die Organisationen von realen Nachbarschaften übertragen ließe?
Samy Adamou: Das ist ein sehr wichtiger Punkt. In unserem Muslim Lab und auf unserer Plattform versuchen wir gezielt, das Bewusstsein dafür zu schaffen, dass wir von unserem „Elfenbeinturm“ herunterkommen und konkret handeln müssen. Abstrakte Diskussionen über große Visionen sind wichtig – aber ohne Umsetzung bleiben sie wirkungslos. Wenn wir das Leben von Muslimen sozial, humanitär und auch in Bezug auf Innovationen wirklich verändern wollen, müssen wir diese abstrakten Ideen in die Praxis bringen.
Ein gutes Beispiel dafür ist die Vision „Wir wollen eine schöne, vielfältige Moschee“ – das bleibt zu abstrakt. Wir müssen das herunterbrechen auf konkrete Schritte: Wer macht was, wann und wie? Genau hier setzen wir mit unserer Plattform an – durch gezielte Vernetzung und die Nutzung kollektiver Intelligenz.
Wir haben dafür spezielle Themenseiten eingerichtet. Dort sieht man einen Querschnitt der laufenden Projekte – von Moscheen bis hin zu Bildungsinitiativen. Unser Ziel ist es, dass Unterstützer nicht nur in ihrer eigenen Heimatmoschee spenden, sondern auch sehen, welche Herausforderungen andere Moscheen und Projekte haben. So entsteht ein Bewusstsein für die Bedürfnisse der gesamten Community.
Ein wichtiger Bereich sind dabei auch finanzielle Herausforderungen. Wir wissen, dass viele Muslime mit Schulden kämpfen und wie sehr das Menschen belasten kann. Mit unserer Plattform möchten wir Barmherzigkeit innerhalb der Community fördern – damit Menschen nicht nur in die eigene Umgebung investieren, sondern auch auf die Bedürfnisse anderer Muslime und Institutionen achten.
Islamische Zeitung: Beim Austausch von Geld geht es – mit der richtigen Absicht – ja auch um Support und Solidarität. Wie wichtig ist im Rahmen der gegenseitigen Unterstützung auch die Vermittlung von Wissen wie Mentoring?
Samy Adamou: Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Wir planen – so Allah will – eine kleine Online-Akademie aufzubauen, um genau dieses Wissen gezielt weiterzugeben. Aktuell haben wir bereits ein Handbuch für Projektinitiatoren, das ihnen hilft, die Grundlagen zu verstehen.
Darüber hinaus bieten wir ein solides Support-System an: Die Leute können uns direkt kontaktieren und Termine vereinbaren – wir sind für jeden da, der Unterstützung sucht.
Unser Team verfügt über ein breites Spektrum an praktischem und theoretischem Wissen, das wir gerne weitergeben. Dabei geht es nicht nur um organisatorische und strategische Fragen – auch die spirituelle Dimension spielt eine wichtige Rolle.
Oft geht es nicht nur darum, wie ein Projekt konkret umgesetzt wird, sondern auch um die innere Haltung: die Absicht Baraka und die Verbindung zu Allah. Die praktischen Skills sind oft erst der zweite Schritt. Mit unserer Plattform möchten wir genau diese Verbindung zwischen Wissen, Strategie und Spiritualität stärken – damit die Projekte nicht nur erfolgreich, sondern auch gesegnet sind.
Islamische Zeitung: Wir haben in Deutschland mittlerweile Stadtviertel, in denen es den Leuten wirklich schlechter geht im Vergleich zu früher. Könnt ihr euch vorstellen, dass man dieses netzbasierte Konzept von commonsplace.de im realen Raum bspw. als eine Art Kiezprojekt adaptieren könnte?
Samy Adamou: Selbstorganisation ist ein sehr weitreichender Begriff. Uns ist die Erkenntnis wichtig, dass unsere Technik nur ein Mittel zum Zweck ist – wer glaubt, dass Technik allein die Lösung der Menschen sei, hat die Menschen nicht wirklich verstanden. Unsere Plattform kann nur ein Werkzeug sein, um etwas Größeres zu ermöglichen.
Ich bin überzeugt, dass wir nicht alles institutionalisieren müssen, sondern zunächst vertikal beginnen sollten – also bei Allah. Die Transformation muss auf der Ebene des Herzens beginnen: mit Barmherzigkeit, Nächstenliebe und Respekt vor den Rechten anderer. Bildung bleibt dabei ein zentrales Thema in der muslimischen Gemeinschaft – etwas, das wir weiter kultivieren und stärken müssen.
Wenn diese Grundlage geschaffen ist, entwickelt sich lokales Helfen oft von selbst und erhält eine natürliche Eigendynamik. Aber uns ist schon wichtig, dass wir auch ein Werkzeug hier sein können und hoffen, dass wir hier mit unserer Plattform ansetzen können: Wir wollen die Selbstorganisation der Community auch in lokale Projekte und Events übertragen. Durch die Verbindung aus digitaler Vernetzung und gelebter Solidarität vor Ort kann eine starke, nachhaltige Dynamik entstehen – getragen von der Liebe und der Kraft der muslimischen Community.
Foto: Glen C. Peters, Unsplash
Was Commonsplace.de zukünftig plant
Islamische Zeitung: Was sind eure Pläne für dieses Jahr?
Samy Adamou: Dieses Jahr haben wir einiges vor. Wir arbeiten daran, unsere Technik und Plattform weiter zu verbessern. In den letzten dreieinhalb Jahren haben wir viel Feedback aus der Community gesammelt und besser verstanden, wie sie agiert. Gleichzeitig möchten wir unsere Ästhetik weiterentwickeln – es gibt diesen schönen Satz: „Alles, was schön ist, ist wahr.“ Diesen Gedanken wollen wir in unserer Plattform und unserem Auftreten stärker kultivieren.
Wir möchten unser Muslim Lab, das wir letztes Jahr ins Leben gerufen haben, dieses Jahr auf die nächste Stufe heben – eventuell mit neuen Partnern und weiteren Akteuren aus der Community. Ein weiteres Ziel ist es, unser Team langsam auszubauen und die Verantwortung auf mehrere Schultern zu verteilen, damit wir nachhaltiger und effektiver arbeiten können.
Und schließlich möchten wir die Möglichkeiten der Selbstorganisation auf unserer Plattform verbessern. Zum Beispiel bieten wir die Möglichkeit, Tickets für Events zu verkaufen. Dadurch sollen Muslime in Deutschland einfacher auf Veranstaltungen aufmerksam werden. Diese technische Funktion möchten wir weiter ausbauen und optimieren, damit die Community noch besser vernetzt wird.
Islamische Zeitung: Lieber Samy Adamou, wir bedanken uns für das Interview.