Aktivismus: Ist es zu einer Transformation des muslimischen Denkens gekommen?

Ausgabe 312

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(iz). Wer sich mit der Terminologie „politischer Islam“ und dem damit beschriebenen Phänomen beschäftigen will, muss sich vor Vereinfachungen und Polarisierungen hüten. Das Problem ist evident. Von muslimischer Seite wird der Begriff – oft nachvollziehbar – in den Kontext von Diskriminierung gerückt und als Vehikel von Dominanz kritisiert.

Einleitung

Hier soll es eigentlich nicht um dieses Thema gehen, sondern darum, ob und wie Politisierung unserer Diskurse im Westen das Denken verändert hat. Genauer gesagt geht es mir um ein Segment des „muslimischen Aktivismus“, dessen Ideen und Methoden sich aus dieser ­modernen Politikgeschichte speisen.

Vorab scheint ein dritter Standpunkt zum Konzept des „politischen Islam“ nötig. Seit Jahren prägt der Begriff die Debatte weit über unsere Grenzen hinaus. Frankreich und Österreich beispielsweise betreiben eine Politik, durch der diese schwammige Terminologie in verfassungsrechtlich fragwürdige Gesetze fließt.

Einordnung eines Begriffs

Wenn wir sie ablehnen, wie bezeichnen wir die Ideologisierung des muslimischen Denkens ab dem späteren 19. Jahrhundert? Immerhin macht der Autor Wael bin Hallaq („The Impossible State“) deutlich, dass sich die Pointe der islamischen Geschichte anders als heute üblich beschreiben lässt. Für ihn besteht der diesseitige Kern der Offenbarung in der Dominanz des Rechts über dem ­Politischen.

Es muss betont werden, „dass der Islam kein agierendes Subjekt der Politik ist“, merkte IZ-Herausgeber Abu Bakr Rieger vor einiger Zeit an. Es seien immer Muslim*innen, die je nach ihren Überzeugungen oder Interpretationen der Quellen handeln. „Dass es muslimische Ideologen, Extremisten oder Gewalttäter gibt, kann gar nicht ernsthaft bestritten werden.“ Dass die medial und diskursive Beschäftigung mit Allahs Din (im Gegensatz zur gelebten Realität unzähliger Menschen) seit geraumer Zeit durch eine politische Perspektive dominiert ist, belegen Medienanalysen von renommierten Wissenschaftlern wie Prof. Dr. Kai Hafez und anderen.

Allerdings ist das nicht nur bei Diskursen des „Anderen“ so, sondern ­betrifft uns ebenso. Unser Denken wird in der Moderne zusehends durch politische Argumentationslogiken bedingt. Man ahne, dass diese Sicht längst begonnen habe, „auch sehr stark unser ­gesamtes Erkenntnisverfahren zu bestimmen“, und blicke heute häufig durch ein „politische Brille“.

Rieger schlägt eine eigenständige ­Definition vor: „Politischer Islam ist für mich ein gesellschaftliches Modell, das Erkenntnis, Agenda, Praxis und Recht politischen Zielen und (Macht-)Interessen absolut unterordnet.“

Fragen an den Aktivismus

Anhand von Fragen will ich mich dem Thema nähern: Hat ein muslimischer Aktivismus, der sich dominant an politi­schen Parametern orientiert, Konsequenzen für das Verständnis unseres Dins? Hat er eine transformierende Wirkung und führt zur Beschleunigung von Prozessen der Säkularisierung?

Grundsätzlich ist es wichtig, jeder Dialektik eine Absage zu erteilen. Als Teil der Schöpfung stehen wir mit einem Bein in dieser Welt und dem anderen in der Nächsten. Das Eintreten für Gerechtigkeit ist für Muslim*innen ein theolo­gischer und ethischer Imperativ. Es ­besteht keine Notwendigkeit, einen ­Gegensatz zwischen Verwurzelung in Spiritualität und Engagement in der Welt zu konstruieren.

Es geht mir nicht um die Frage nach dem „Was“, sondern um eine nach dem „Wie“. Das vorliegende Engagement (wenn es „muslimisch“ sein will) und seine führenden Stimmen (deren Expertise meist nicht aus der islamischen Lehre kommen) müssen befragt werden, ob und wie sie in einem Zusammenhang zum islamischen Kontext stehen.

Diese Erkundigungen können nur skizziert werden: Kann die (zumeist atheistische und/oder postmoderne) ­Erklärung von Welt, auf der Segmente des heutigen muslimischen Aktivismus basieren, mit grundlegenden Aspekten der Glaubenslehre in Einklang gebracht werden? Aus welcher Sphäre speist sich Engagement? Und für was steht es?

Um nicht missverstanden zu werden: Selbstverständlich ist es wichtig, sich bei einer jeweiligen Frage mit dem entsprechenden Stand der Debatte zu beschäftigen. Es fällt allerdings auf, dass die ­hörbarsten Stimmen des muslimischen Aktivismus im Westen ihre Argumentation mehrheitlich aus zumeist post­marxistischen oder postmodernen Diskursen beziehen. Zeitgenössische oder klassische theologische Gesichtspunkte fließen kaum in die Debatte ein.

Im innermuslimischen Diskurs Deutschlands haben sich der Aktivismus und seine hörbarsten Vertreter*innen einen nennenswerten Anteil der hörbaren Stimmen sichern können. Das hat reale Gründe: Gerade jüngere Muslim*innen mit akademischem Hintergrund suchen Antworten auf gemachte Erfahrungen mit Ungerechtigkeit und Diskriminierung. Bei Strukturen der muslimischen Selbstorganisation sehen sie nur eine begrenzte Aufnahme ihrer Anliegen. ­Darüber hinaus verstehen sie sich selbstverständlich als Bürger*innen dieses Landes und nehmen daher an seinen Diskussionen teil. Längst sind Konzepte wie struktureller Rassismus, Empowerment oder „critical whiteness“ auch Teil der muslimischen Diktion.

Parallel dazu kam und kommt es zur Veränderung des Diskurses beziehungsweise zur Verschiebung von Relevanzen. Das hat – ganz wertfrei – Folgen für das muslimische Denken und Gespräch: Ausgangspunkt ist weniger ein Beitrag aus der islamischen Lehre zu aktuellen Fragen, sondern eher Reaktion auf äußere Reize. Der Andere (dem oft die Verantwortung für eigene Missstände zugeschrieben wird) bestimmt den Diskurs. 

Dialektisch wird hier auch das muslimische Selbstverständnis, denn es speist sich aus der Wahrnehmung des Muslimseins als Zugehörigkeit zu einer oder verschiedener „Opfergruppen“. Kurzum: Politische Maßgaben werden Richtschnur von Handeln. Die Ironie dabei: Trotz des relativen diskursiven Erfolgs hat dieser Aktivismus bisher nicht zur Bildung eines handelnden Subjekts oder einer Mobilisierung geführt.

Zentral ist auch die Frage, ob jener Aktivismus bzw. das ihm zugrunde liegende Denken eine transformierende Wirkung im Sinne von Säkularisierung hat. Ohne verallgemeinern zu wollen, ist sie zumindest berechtigt.

Soweit die Mehrheit der Diskurse betroffen ist, basieren ihre Hypothesen auf säkularen oder atheistischen Grundannahmen. Sie bewegen sich, wohl unbeabsichtigt in der Zwei-Welten-Lehre des deutschen Philosophen Kant (ohne positiv auf ihn Bezug zu nehmen). Letzte Fragen, unser Schicksal oder eine Rückbindung zu theologischen Fragestellungen spielen keine sonderliche Rolle. Mehr noch: Ein Verweis auf islamische Normativität gilt manchen als „verdächtig“. Neben der offenkundigen Dies­seitigkeit werden die Umstände des Menschseins in An­lehnung an den Postmodernismus als Geflecht von Machtbe­ziehungen verstanden.

In dieser Logik tritt das Göttliche im Sinne einer prinzipiellen Ausrichtung muslimischen Daseins mindestens in den Hintergrund. Es wird dabei nicht mehr als Akteur verstanden. Damit schwindet die Option, Muslime könnten die Welt beeinflussen, wenn sie ändern, „was in ihren Herzen ist“ (Qur’an). Praktisch zeigt sich das am Verständnis von antimuslimischem Rassismus. Kategorisch wird hier ausgeschlossen, er könnte zum kleinen Teil Reflexion eines Bildes sein, das real existierende Muslime abgeben.

Bezeichnend für diese Entwicklung ist auch die Veränderung des muslimischen Selbstverständnisses. Zusehends wird es hier als Relation zu soziologisch definierten Gruppen gesehen. Nicht länger eine Ausrichtung auf Allah und eine spirituell fundierte Lebenspraxis machen Muslimsein aus, sondern – wie es im Jargon heißt – ob eine Person „als Muslim gelesen wird“.

Eine weitere Frage, ob es problematisch sei, wenn Muslim*innen Allahs Din vorrangig als politische Ideologie oder gar Staatstheorie verstanden wird, schließt den Bogen und kehrt zum Anfang zurück. Insofern reicht es für Muslim*innen in Deutschland nicht aus, wenn sie – aus verständlichen Motiven – das Konzept des „politischen Islam“ ablehnen. Stattdessen brauchen wir eine Beschäftigung mit dem Phänomen selbst, dass durch solche Begriffe für viele nicht ausreichend erhellt wird.

Gibt es Alternativen?

Ich habe versucht, aufzuzeigen, dass es überhaupt nicht um die banale Zurückweisung eines gesellschaftlichen Engagements geht, noch um die Forderung nach einem passiven Pietismus. Vielmehr geht es darum, dass die Verbindung einer spirituellen Existenz mit Einsatz für eine sozial wichtige Sache widerspruchsfrei möglich ist.

Die Skizzierung dieser Möglichkeit steht im deutschsprachigen Kontext – von wenigen Ausnahmen abgesehen – noch am Beginn. Stattdessen können wir hierzu in den englischsprachigen Raum blicken, wo die Debatte um eine harmonische Aufhebung dieses vermeintlichen Widerspruchs deutlich ­weiter ist.

Für die US-amerikanische Theologin und Seelsorgerin Leenah Safi sei Aktivismus „zu einem Rahmen geworden, durch den viele die Welt verstehen“. ­Allerdings sei er häufig auf äußerliche Handlungen beschränkt. „Muslime, die für soziale Gerechtigkeit arbeiten, müssen sich zuerst und vor allem ihrem ­spirituellen Wachstum widmen. Andernfalls riskieren die Beteiligten und ihre Absichten Schaden.“

Zu den US-Autor*innen, die sich einer ganzheitlichen Betrachtung widmen, gehören Sherman Abdul Hakim Jackson und Dawud Walid. Der bekannte Islamwissenschaftler  hat mit „Islam and the Problem of Black Suffering“ ein Buch verfasst, in dem er zeigt, dass und wie „die klassische sunnitische Theologie“ zum Verständnis des Leidens von Schwarzen beitragen kann.

Der Imam und Islamwissenschaftler Dawud Walid hat mit „Towards a Sacred Activism“ (Auf dem Weg zu einem heiligen Aktivismus) eine knappe und praktische Handreichung für Muslim*innen geschrieben, die sich für Gerechtigkeit einsetzen wollen. Ihm geht es weder darum, beide Sphären gegeneinander auszuspielen. Noch fordert er Passivität in der Welt. Vielmehr umreißt Walid einen Rahmen, in dem das Heilige und der Aktivismus harmonisieren können. „Dieser verleiht ihrem/ihrer Inhaber/in ein Tauhid-Bewusstsein sowie ein Gefühl für den Zweck, der sie motiviert, Wissen davon zu erlangen, dass der göttliche Wille unser Handeln bestimmt.“ 

Stimmen wie Walid und Jackson zeigen, dass es möglich ist, vermeintliche Gegensätze zugunsten eines Höheren aufzulösen.