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Neuanfang oder Krise?

Ausgabe 289

Foto: KRM, Facebook

Seit der Ankündigung einer Erweiterung des Koordinationsrates der Muslime (KRM), überschlagen sich die Ereignisse in Nordrhein-Westfalen. In den letzten Jahren war es um das das Gremium eher still geworden. Das Gremium selbst hielt sich weitgehend aus den öffentlichen Diskursen heraus. In den letzten zwei Jahren sind auf der Webseite des Rates gerade einmal sieben Pressemitteilungen erschienen, aus denen kaum Rückschlüsse auf den Diskurs um Muslime und Islam in Deutschland gezogen werden können.

Ähnlich der gesamtgesellschaftlichen Wahrnehmung hatte er im innermuslimischen Diskurs ebenfalls seit Längerem kein Gewicht mehr. Zu den Gründen dafür werden wir noch kommen. Eine Erweiterung des KRM, der mittlerweile in vielen Kontexten dysfunktional ist, stellte deswegen selbst für informierte Beobachter eine Überraschung dar. Für einige der neuen Mitglieder und auch für einige andere muslimische Gemeinschaften außerhalb dürfte dieser Schritt auch deshalb überraschend gewesen sein, weil sich der Koordinationsrat bisher einer solchen Öffnung vehement verweigert hat. Schon vor Jahren hatten einige Gemeinschaften Interesse an einer Aufnahme bekundet – zu einer Zeit, als der KRM noch öffentlich relevant gewesen ist. „Sie (der KRM) haben nicht einmal auf unsere Terminanfrage geantwortet“, gibt einer der Akteure den damaligen Umgang mit diesen Anfragen wieder.

Der aktuelle Schritt mag zwar als Befreiungsschlag gedacht gewesen sein. Bei näherem Hinsehen entpuppte er sich ­jedoch als Verzweiflungstat. Dieser Eindruck wird zudem dadurch verstärkt, dass sich der nordrhein-westfälische Landesverband der Islamischen Gemeinschaft der Bosniaken in Deutschland (IGBD NRW) von der Presseerklärung des KRM distanziert und als für sich nicht relevant erklärt hat. Aber wieso kommt solch ein Schritt von der IGBD NRW, welchen Bezug hat diese Erweiterung zum Land Nordrhein-Westfalen?

Die Erweiterung und die nun entstandene kritische Diskussion darüber werden erst dann verständlich, wenn man den nordhein-westfälischen Kontext berücksichtigt. Wie bereits ausgeführt, gab es schon vorher Interessenten für eine Aufnahme in den KRM, bisher immer ohne Ergebnis. Selbst vor einem halben Jahr wäre eine Erweiterung wohl kaum vorstellbar gewesen. Was hatte sich nun geändert? Es brauchte erst die Suche des Landes NRW nach einem Ersatz für das auslaufende Beiratsmodell des islamischen Religionsunterrichts (IRU) und die Einrichtung einer für alle muslimischen Gemeinschaft offenen Kommission dafür, damit die Aufnahme von neuen Mitgliedern möglich werden sollte.

Der KRM hat seit seiner Gründung einen bedeutenden Makel. Seinen Gründungszweck kann er nicht umsetzen und für alles andere fehlt es ihm oft an Legitimation und Entscheidungskompetenz. Einerseits soll er die „Vertretung der Muslime in der Bundesrepublik“ (organisieren) und „[…] Ansprechpartner für Politik und Gesellschaft“ sein. Andererseits sollte er „an der Schaffung einer ­einheitlichen Vertretungsstruktur auf Bundesebene und […] gemeinsam mit den bereits bestehenden muslimischen Länderstrukturen sowie den vorhan­denen Lokalstrukturen an der Schaffung rechtlicher und organisatorischer Voraussetzungen für die Anerkennung des ­Islams in Deutschland im Rahmen von Staatsverträgen“ mitwirken.

Die Schaffung einer „einheitlichen Vertretungsstruktur“ wurde in der Präambel als zentrale Daseinsberechtigung des Gremiums angeführt. Und an dieser Aufgabe scheiterte er bereits sehr früh. Der vor der Gründung begonnene Prozess der Etablierung von einheitlichen Landesreligionsgemeinschaften, die das Gremium ja weiter verstärken sollte, kam mit der Gründung dieses Gremiums weitgehend zum Erliegen. Die DITIB konnte sich mit dem Gedanken, die eigenen Gemeinden auf der Landesebene in eine Struktur zu geben, die eine gewisse Eigenständigkeit haben müsste, nicht anfreunden. Lange verwies der Verband auf eine erwartete Absegnung der geplanten Landessatzungen aus Ankara, die erst einmal ins Türkische, dann zurück ins Deutsche übersetzt werden mussten. Den Segen der Diyanet bekamen sie nicht. Recht schnell fiel damit einer der Hauptzwecke des Koordinationsrates weg.

Eine Zeit lang konnte dieser Wegfall des Fokus durch die gemeinsame Vorbe­reitung und Abstimmung auf die Deutsche Islam Konferenz (DIK) kompensiert werden. Aber auch dies fiel mit dem Beginn der zweiten Runde der DIK weg. Zwei der Mitgliedsverbände waren aus der Runde ausgetreten, zwei hatten beschlossen, an ihr weiter teilzunehmen. In der dritten Phase der Islamkonferenz hatten sich die KRM-Mitglieder gar auf zwei neu gegründete Vereine für die musli­mische Flüchtlingshilfe verteilt, weil sie sich nicht auf einen gemeinsamen Träger einigen konnten. Faktisch wurden damit eine gemeinsame Linie und Vertretung auf der Bundesebene nicht mehr möglich. Der Koordinationsrat hatte sich ­hinsichtlich seiner beiden Zwecke selbst blockiert und zur Arbeitsunfähigkeit ­verdammt. Das Gremium war damit auf der Bundesebene weitgehend auf die Teilnahme an Empfängen und ab und an ein Grußwort beschränkt.

Die Rettung kam dann tatsächlich aus Nordrhein-Westfalen. Das Bundesland wollte das Provisorium des Modellversuchs Islamkunde nach fast einem Jahrzehnt in einen regulären Islamischen ­Religionsunterricht (IRU) überführen. ­Zudem mussten theologische Lehrstühle besetzt werden. Für beides bedurfte es muslimischer Partner, die ein islamisches Bekenntnis vertreten konnten. Der KRM als Gremium, in dem bereits alle größeren Gemeinschaften zusammensaßen, bot sich als Gesprächspartner an. Diese Gesprächsaufnahme gab dem Koordi­nationsrat zwar die Möglichkeit, sich eine neue Daseinsberechtigung zu geben, aber selbst in dem später eingerichteten Beirat sollte nicht der KRM als Gremium vertreten sein, sondern die Mitgliedsverbände mit jeweils einem Vertreter.

Seine koordinierende Rolle in Fragen der Kooperation mit den Ländern konnte jedoch nie über Nordrhein-Westfalen ­hinaus ausgeweitet werden. Bereits bei der Einführung des islamischen Religionsunterrichts in Hessen bestand der KRM seine Feuerprobe nicht. Während in ihm noch beschlossen wurde, als Mitglieder für Alleingänge beim Islamischen Religionsunterricht in den Ländern nicht zur Verfügung zu stehen, verhandelte die DITIB in Hessen mit dem Kultusministerium über die mittlerweile in Verruf geratene alleinige Trägerschaft des Religionsunterrichts durch die DITIB. Tage nach einem Beschluss in dem Gremium, nur gemeinsam in den Ländern vorzugehen, verkündete das Bundesland die angebahnte Kooperation mit dem hessischen DITIB-Landesverband. Von allen Krisen des Koordinationsrates erscheint in der Rückschau dieser Moment seine Zukunft endgültig besiegelt zu haben. Der eingetretene Vertrauensverlust konnte danach nicht wiederhergestellt werden.

Am Ende war es tatsächlich nur noch die gemeinsame Mitwirkung im nordrhein-westfälischen IRU-Beirat, die den KRM noch aufrechterhalten sollte. Vom Anspruch, an einer Bundesvertretung der Muslime zu arbeiten, hatte sich das ­Gremium selbst zurechtgestutzt zu einer losen Gesprächsrunde, die wenn überhaupt nur noch in NRW und Einladungskarten eine Rolle spielte. Nun will aber das Bundesland diesen Rettungsanker „IRU-Beirat“ in eine Kommission überführen, die nicht mehr vom Koordinationsrat als alleinigen Ansprechpartner abhängig sein wird.

Damit dürfte das Land auch auf die fehlende Entscheidungsfreude des KRMs und die fehlende Krisenfestigkeit des Zusammenschlusses reagieren. Bei der Anhörung zum aktuell laufenden Gesetzgebungsverfahren für die Neuordnung des Islamischen Religionsunterrichts waren die KRM-Mitglieder nicht in der Lage, eine gemeinsame, von allen getragene Stellungnahme zu den Gesetzesentwürfen einzubringen. Stattdessen wurde ein inhaltlich identisches Dokument von drei der Mitglieder jeweils unter eigenem ­Namen, von einem der Mitglieder mit einigen zusätzlichen Ausführungen ebenfalls unter eigenem Namen in die Anhörung eingebracht. Während das Gremium in die Sachverständigen-Anhörung 2011 einen eigenen Sachverständigen entsenden konnte, verfolgten die Vertreter seiner Mitglieder die Anhörung diesmal von den Zuhörertribünen des Landtags.

Die im Koordinationsrat organisierten Verbände lehnen die neu einzurichtende Kommission weitgehend ab. Dabei erfüllt sie eine zentrale Kritik und Forderung des KRM gegenüber dem bisherigen Beirat, nämlich die notwendige Staatsferne eines solchen Gremiums. In der Kommission fallen die bisherigen staatlichen Vertreter aus dem Beirat weg. Damit wird dem Anspruch der bekenntnismäßigen Selbstbestimmung und der staatlichen Neutralität wesentlich besser entsprochen, als im bisherigen Beirat. Was sich aber auch verändert, ist die ­Beschränkung der möglichen Teilnehmer auf die Koordinationsrats-Mitglieder. Auch andere Gemeinschaften können ­einen Vertreter in die Kommission entsenden. Somit bekommen auch die ­Gemeinschaften, die jetzt neu in den KRM eintreten sollen, die Möglichkeit direkt an der Gestaltung des Religionsunterrichts in Nordrhein-Westfalen mitzuwirken.

Das Angebot des Koordinationsrates an diese neuen Mitglieder lautet, nicht in die neu zu etablierende IRU-Kommission einzutreten, sondern die eigene Vertretung mit der Mitgliedschaft im KRM an diesen abzugeben. Statt direkt an dem Prozess mitzuwirken und die muslimische Vielfalt in der Kommission abzubilden, sollen diese als „klein“ angesehenen Gemeinschaften nur indirekt am Religionsunterricht „mitwirken“.

Dem KRM fehlt es jedoch an der notwendigen Verfasstheit, um überhaupt im eigenen Namen oder im Namen seiner Mitglieder in die Kommission einzutreten. Der Koordinationsrat ist nicht einmal ein nicht-eingetragener Verein; nur ein Gremium, das seit 12 Jahren auf der Basis einer Geschäftsordnung existiert. Ein Gremium, das sich gerade in der ­Krise nicht als verlässlich erwiesen hat und das fehlende Vertrauen unter den bisherigen Mitgliedern augenscheinlich ist. Er kann also nicht selbst Mitglied in der Kommission werden, vielmehr dürften dann wohl die alten Mitglieder des Gremiums als „Vertretung“ auch für die neuen Mitglieder in die ungeliebte Kommission einsteigen. So erhofft man sich wahrscheinlich, als 4er-Block die Mitglieder überstimmen zu können, die man von einer Mitgliedschaft im KRM nicht überzeugen konnte.

Die Erweiterung des Koordinationsrates würde damit nur dazu beitragen, dass gerade diejenigen „kleinen“ Gemeinschaften, die dem Gremium vertrauen, keine eigene Mitwirkungsmöglichkeit in der IRU-Kommission haben. Dies führt aber gleichzeitig dazu, dass das Gewicht der Gemeinschaften, die sich nicht in das Gremium einreihen, viel größer sein wird, als wenn die neuen zukünftigen KRM-Mitglieder selbst der Kommission angehören werden. Zudem kann davon ausgegangen werden, dass sie sich auch aus anderen Gesprächskontexten mit dem Land werden zurückhalten müssen, da der KRM beziehungsweise seine Altmitglieder dann wohl auch dort die Führerschaft für sich beanspruchen werden.

Es geht im nordrhein-westfälischen Kontext bei dieser Frage nicht nur um den Religionsunterricht. Es geht auch darum, ob man zum Beispiel auch bei Fragen der muslimischen Wohlfahrtsarbeit, Jugend- und Sozialarbeit und anderen Kooperationsbereichen mit dem Land als eigenständige Institution auftreten kann oder darauf hoffen muss, dass der KRM seinen Vertretungsaufgaben effizient und gerecht nachkommt. An­ge­sichts der Bedeutung für die jeweils eige­ne Zukunft der Gemeinschaften, erscheint der Schritt des bosnischen Landesverbands in NRW, sich nicht vom Koordinationsrat vereinnahmen zu lassen, mehr als nachvollziehbar. Nur so werden wohl die Bedürfnisse der bosnischen Gemeinden in NRW eine tatsächliche Berücksichtigung finden können.

Vor diesem Hintergrund mögen die Beweggründe der angehenden Neumitglieder beim Koordinationsrat wenig nachvollziehbar sein. Zumal sie selbst bisher auch keine eigene Erklärung bezüglich ihrer Mitgliedschaft abgegeben haben: Wir kennen ihre Beweggründe nicht. Sie scheinen dem KRM einen großen Vertrauensvorschuss entgegenzubringen. Bisher hat nur der Koordinationsrat die geplante Mitgliedschaft anderer Gemeinschaften verkündet, und ein Landesverband der IGBD (Bosniaken) hat sich von dieser Erklärung distanziert. Inwieweit es sensibel vom KRM war, teilweise über die Köpfe der direkt Betroffenen in NRW und dann auch noch über die Herkunftsländer zu agieren, darf bezweifelt werden. In der Frage seiner Erweiterung und auch der Frage, welche Gemeinschaften selbst Mitglied in der IRU-Kommission in NRW werden, scheinen die letzten Worte noch nicht gesprochen zu sein.

Das eherne Vorhaben, die Einheit der Muslime voranzutreiben, das dürfte der Koordinationsrat mit diesem Aktionismus angesichts der Kommissionspläne des Landes NRW beiseite gelegt haben. Vielleicht vor einem Jahr noch, als es nicht darum ging, die alleinige Entscheidungsmacht der KRM-Mitglieder im nordrhein-westfälischen Religionsunterricht zu verteidigen, hätte er sich  noch auf dieses richtige und wichtige Ziel einer gemeinsamen Vertretungs- und Kooperationsinstanz berufen können. Das Argument verliert jedoch seine Bedeutung, wenn es am Ende nur noch um die Wahrung der Besitzstände der „Großen“ geht – auf Kosten der berechtigten Interessen kleinerer muslimischer Gemeinschaften.

Der Text wurde erstmals im Juni auf der Webseite religion-recht.de veröffentlicht. Der Autor und Jurist betreut seit Anfang 2014 Migrantenselbstorganisationen (MSOs) mit u­nterschiedlichen Herkunftsbezügen in den Bereichen Öffentlichkeitsarbeit, Politik­beratung, NGO-Management und ­Projektberatung.