„Nicht alles falsch“: Substantielle Medienkritik ist gerade aus der Sicht von Minderheiten wichtig

Ausgabe 330

Dilemma Ukraine
Fotos: Martin Kraft, via Wikimedia Commons | Lizenz: CC BY-SA 3.0 (links) | Gregor Fischer re:publica 18, via Wikimedia Commons / Lizenz: CC BY-SA 2.0 (rechts)

„Eigentlich sind es aber die anderen Thesen des Buches, die aus Sicht der Minderheiten und der muslimischen BürgerInnen im Lande bedenkenswert sind. Unter dem Stichwort ‘Helikopterblick’ wird zum Beispiel die Berichterstattung in der Flüchtlingskrise kritisiert.“

(iz). Bücher über die Vierte Gewalt im Lande sind nicht neu. Der Philosoph Richard Precht und der Sozialpsychologe Harald Welzer sind keine Unbekannten in der Medienwelt und versuchen sich in diesem Jahr mit einem neuen Anstoß. Ihr Buch versucht zu zeigen, „wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist“. Die Autoren sehen in ihrem Beitrag, wie sie auf der Veranstaltung bei der Buchmesse 2022 klarstellten, eine Aufforderung zum Diskurs und der Selbstreflexion. „Nicht alles falsch“, resümierte der Medienjournalist Stefan Niggemeier über das Werk. Er wies pauschal auf Fehler hin, beanstandete schlampige Recherchen, bis hin zur Verwechselung eines Twitter-Posts mit einem Instagramtext. Das mag zumindest in Einzelfällen korrekt sein, aber die wünschenswerte Debatte über die eigentlichen Thesen sollte der Vorwurf nicht abwürgen.

Die Veranstaltung verlief exemplarisch für eine Diskussionskultur, die sich eher mit den beteiligten Charakteren auseinandersetzt, als sich mit den vorgestellten Thesen beschäftigt. Auf der Bühne beklagte sich Precht lautstark, dass ihm unlautere Motive unterstellt werden, obwohl die Qualitätsmedien im Buch verteidigt werden. Und es stimmt: Ausdrücklich setzen er und sein Mitstreiter sich von der Logik der „Lügenpresse“-Ideologie ab. Die inhaltliche Kritik des Buches, so vermuten die Intellektuellen im Vorwort, wird nach ihrer Erwartung entweder ignoriert oder durch Personalisierung abgewehrt werden.

Sie rechnen damit, dass das Buch in eine Schablone gepresst und ihnen vorgeworfen wird, sie trügen zur Spaltung der Gesellschaft bei; genau das Gegenteil dessen, was sie beabsichtigen. Die Klage wird dann provokant in einer fundamentalen These zugespitzt: Medien entziehen sich aus ihrer Sicht der Kontrolle, ihre eigene Macht wird durch keine Mechanismen von „Checks und Balances“ eingebunden. Der Vorwurf im Kern: „Kritik von außen ist im leitmedialen System nicht vorgesehen.“

Tatsächlich hat das Duo Precht / Welzer einen heftigen Meinungsstreit ausgelöst. Über mangelndes Interesse der Medien an ihrem Werk können sich die Medienprofis nicht beklagen. Besonders ihre Positionen zum Ukrainekrieg werden diskutiert und sind umstritten. Im „Spiegel“ wird das populistische Thesenbuch, so wird im Heft das Werk tituliert, heftig kritisiert. Die vorgeschlagene „vielfältige Berichterstattung“ zum Krieg zu betreiben hieße aus Sicht des Journalisten Bernhard Pörksens: „immer neue Staubwolken der Pseudo-Ungewissheit produzieren, Vernebelung des Offensichtlichen, durch endloses Konfrontainment“. 

Die Autoren nutzen die Kommentierung des Ukrainekrieges um einige ihrer Argumente festzumachen. Ob das eine Stärke ihrer Argumentation oder eher eine Schwäche ist, sei dahingestellt. Es geht ihnen darum, an diesem Beispiel ein grundsätzliches Problem offen zu legen: „Dass die Grenze zwischen politischem Journalismus und politischen Aktivismus in den Leitmedien ohnehin immer fließender wird, ist eine der Hauptthesen dieses Buches.“

Nichtgewählte Journalisten schauen der Politik nicht nur auf die Finger, sondern sie gestalten sie mit. Precht und Welzer kritisieren das einheitliche Meinungsbild, insbesondere zu Beginn des Krieges und die (angebliche) de facto Übernahme der Regierungsnarrative. Inzwischen rudert Precht öffentlich zurück, gesteht zu, dass seine Erwartung eines schnellen Sieges Russlands und daraus resultierend, die Forderung nach einer Kapitulation der Ukraine, aus heutiger Sicht falsch war.

Dennoch bleiben ihre Vorwürfe der Übertreibung im Raum: „Und der gewaltige Schritt vom brutalen Angriff der russischen Armee auf die Ukraine zum Angriff auf Moldau, das Baltikum, Polen, Deutschland und den ganzen Westen erscheint nicht als absurd, sondern als zwingende Folge der Entfesselung eines unbegrenzten Bösen.“ Aus Sicht der Medienkritiker wird in der Öffentlichkeit eine Dialektik aufgebaut, ein simples pro oder contra, statt mit Hilfe des Journalismus und der Abbildung eines ausgewogenen Meinungsbildes zu differenzieren: „Man kann für die Lieferung schwerer Waffen in die Ukraine sein, aber trotzdem darauf drängen, dass der Westen möglichst schnell einen diplomatischen Friedensvorstoß wagen soll.“ Dabei setzten die Autoren selbst das Mittel der Polemik ein, zum Beispiel in einer Passage, in der die sogenannten NATO-Versteher und ihr Bezug zu Lobby-Gruppen angeprangert werden: „all diese Organisationen haben auf sicherheitspolitische Fragen immer dieselben Antworten: mehr Rüstung!“

Eigentlich sind es aber die anderen Thesen des Buches, die aus Sicht der Minderheiten und den muslimischen BürgerInnen im Lande, bedenkenswert sind. Unter dem Stichwort „Helikopterblick“ wird zum Beispiel die Berichterstattung in der Flüchtlingskrise kritisiert. Die Wort- und Meinungsführer der politischen Eliten treten nach der Analyse des Buches zu stark in Erscheinung. „Die eigentlichen Hauptakteure, die Helfergruppen, Einrichtungen, freie Träger und Initianden, die sich, viele freiwillig, in erster Linie um Flüchtlinge kümmerten, stellten nur rund 3,5% aller relevanten Personen, die in redaktionellen Beiträgen genannt werden.“ Durch diese Einseitigkeit, argumentieren die Autoren, sei ein sozial entleertes Geschehen präsentiert worden. Die Mahnung folgt mit erhobenem Zeigefinger: Der Auftrag an die Leitmedien sei „den Unterrepräsentierten zu ihrem Recht zu verhelfen und ihnen – gemäß der Idee des Vierten Standes – eine Stimme zu geben.“ Bei diesem Kritikpunkt dürften viele Muslime im Lande zustimmen, die immer wieder beklagen, dass die eigene Intelligenz in der Berichterstattung mit Bezug zum Islam und dem muslimischen Leben in Deutschland zu selten eine Rolle spielen. In der Debatte über die vierte Gewalt kommen die Minderheiten, folgerichtig im Sinne der These, kaum zu Wort.

Grundsätzlich monieren Precht und Welzer, dass bei allen fundamentalen Krisen, über die Coronakrise, die Flüchtlingskrise oder den Ukrainekrieg, die schreibende Zunft eine Art künstliche Mitte schafft, sich gegenseitig angleicht, ohne die Realität umfassend abzubilden. Der „Cursor-Journalismus“ (Precht), mit seiner Praxis der Herstellung von interner Übereinstimmung, ist in der Lage, eine dominante, mitunter aber nur scheinbare herrschende Meinung zu konstruieren, unabhängig davon, ob diese sich real ebenfalls abbildet. Die Konformität wird desto wahrscheinlicher, je scriptloser und unklarer eine Situation ist. Die Risiken in dieser Nachrichtenlage eine abweichende Meinung zu vertreten sind evident. Wer sich von dieser Mitte absetzt, ist nicht etwa wie in früheren Zeiten „unbequem“, sondern „umstritten“ und läuft Gefahr in das gesellschaftliche Abseits zu geraten. Für eine streitende Demokratie, die auf die Meinungsfreiheit setzt, keine akzeptable Situation. 

Ihr Argument weist damit indirekt die Logik der Verschwörungstheoretiker zurück, die agitieren, die Regierung kommandiere oder kontrolliere etwa die Medien. Das Gegenteil ist aus Sicht der Autoren der Fall, denn „Parteien und Politiker, haben sich, (…), in den letzten Jahrzehnten, mitunter bis zur Selbstaufgabe, den Spielregeln und Personalisierungen der Medien angepasst.“ 

Diese Dynamik wird durch die wachsende Bedeutung der Onlinemedien verstärkt. Hier hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Die altbewährten Zeitungen waren im Grunde redakteursgesteuert, während die neuen Medien lesergesteuert sind. Der Online-Journalismus ist in vielen Fällen von Klickzahlen stimuliert, die den eigentlichen Maßstab für die Bedeutung und Nutzbarkeit von Nachrichten anzeigt. Der Redakteur und der Reporter werden Dienstleister der User, zum Teil eines Algorithmus. Aus diesem Phänomen erklärt sich grundsätzlich der (uns Muslimen bekannte) Trend zum Erregungs- und Blaulicht-Journalismus.

Precht und Welzer setzen hier an:  „Je mehr die Vierte Gewalt selbst zum Akteur politischer Erregungssteuerung und Steigerung wird“, umso gefährlicher werde es für die Demokratie. Der Preis, den der Wesenswandel der Medienwelt mit sich bringt, ist hoch. Je stärker die Leitmedien sich der Wirkmechanismen von Direktmedien bedienen, um ihrem Publikum möglichst nahe zu sein, umso mehr schwindet dessen Vertrauen in sie. Die Rolle von Zeitungen und Rundfunk besteht darin – zumindest wenn sie Qualitätsmedien bleiben –, nicht etwa Stimmungen zu verstärken. Vielmehr haben sie die Aufgabe, die in vielfältigen Interessen differenzierte Gesellschaft abzubilden. 

In diesen Tagen bietet das Spektakel der Fußballweltmeisterschaften in Katar eine weitere Möglichkeit, einige Thesen über die Vierte Gewalt zu überprüfen. Nachdem seit 12 Jahren bekannt ist, dass das Sportereignis in dem Wüstenland stattfindet, überschlagen sich die Medien mit Kritik. Zu Recht: Die Menschenrechtslage und die Bedingungen für die Wanderarbeiter sind problematisch. Dennoch fehlt es an differenzierten Stimmen, an einer nüchternen Einordnung und an der Verhältnismäßigkeit der Debatte im Vergleich zu Ereignissen in China oder Russland zuvor. Wenig liest man darüber, warum die öffentlich-rechtlichen Sender trotz ihrer Kenntnis über die Lage in Katar hunderte Millionen Euros für die Übertragungsrechte eingesetzt haben. Ein wenig mehr Selbstkritik – hier stimmt man den Medienkritikern zu – wäre in jedem Fall angebracht. Fakt ist: Die Debatte über die Streitkultur und die Macht der Medien im Lande verdient breite Aufmerksamkeit. Nicht nur von den VertreterInnen der Mehrheitsgesellschaft.