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Eine Radtour – ungewöhnliches Gedenken an die Opfer

Ausgabe 339

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Radtour: Sejfuddin Dizdarevic berichtet über eine Reise von Wien nach Srebrenica.

(iz). Als eine Form des ungewöhnlichen Andenkens an die Opfer des Völkermordes in Srebrenica unternahm ich im August 2021 zusammen mit drei Freuden eine Fahrradtour von Wien nach Srebrenica. Die Reise dauerte 8 Tage und war knapp 700 km lang. Von Sejfuddin Dizdarevic

Mit Radtour an Opfer von Srebnica erinnern

Mit dem ICE kamen wir mit unseren Rädern nach Wien, von wo aus die Reise ihren Anfang nahm. Wir alle waren durchschnittlicher Kondition und haben nicht übermäßig trainiert. Im Schnitt fuhren wir am Tag ca. 90 km. Geschlafen haben wir in festen Unterkünften, die wir online fanden. In Bosnien kamen wir bei Freunden unter.

Um der Aktion eine größere Reichweite zu verschaffen, machten wir daraus eine „Spendentour“, wo wir das erradelte Geld (es kamen knapp 1.200 € zusammen) an die Gedenkstätte in Srebrenica gespendet haben.

Anreise: Der Arbeitskollege Tobias und ich haben den Zug von Düsseldorf über Frankfurt nach Wien genommen. Mit zwei weiteren Teilnehmern der Tour, die aus Stuttgart und Friedrichshafen kamen, trafen wir uns in Wien. Dort übernachteten wir und fuhren um 8.00 los.

1. Tag

Der erste Abschnitt sollte 120 km lang werden. Da wir nicht bereits am ersten Tag solch eine lange Strecke fahren wollten, nahmen wir einen Regionalzug nach Wiener Neustadt und radelten los. Die Strecke war angenehm und uns überraschte nur der Regen. Als dieser stärker wurde, unterbrachen wir die Fahrt für eine Stunde.

Wir waren gut ausgerüstet und als der Regen schwächer wurde, zogen wir unsere regenfeste Kleidung an und fuhren weiter. Es gab einen Anstieg an diesem Streckenabschnitt, und da ich ein Citybike hatte, stieg ich ab und schob das Rad. Kurz vor der Grenze zu Ungarn (der Grenzübergang war mitten im Wald und es gab keine Kontrollposten) hielten wir an, um in einer Pizzeria zu essen. An unserer ersten Schlafstätte kamen wir gegen 16.00 an. Wir machten uns frisch, wuschen unsere Kleidung und ruhten uns aus.

Auf der ganzen Reise (mit einer Ausnahme) hatten wir Möglichkeit zum Wäschewaschen. Das war auch notwendig, denn man nimmt wenig Gepäck mit. Zur Not kann man die Wäsche auch mit Hand waschen und die Funktionswäsche muss man nicht trocknen. Man kann sie nass anziehen und innerhalb einer viertel Stunde ist sie am Körper trocken.

2. Tag

Frisch geduscht und mit milden Temperaturen fuhren wir weiter durch Ungarn. Der Streckenverlauf führte uns parallel zur österreichischen Grenze. Wir fuhren auf abgelegenen Landstraßen mit wenig Verkehr. Die Navigations-App komoot erwies uns gute Dienste. Nach ca. 70 km kamen wir in Körmend an, wo wir eine längere Pause eingelegt haben.

Die deutschen und österreichischen Supermarktketten haben zahlreiche Niederlassungen in Ungarn und Kroatien, sodass man nicht auf die vertrauten Produkte verzichten muss. Das Gute war, dass wir weder in Kroatien noch Ungarn Bargeld in die Landeswährung wechseln mussten, weil man überall mit Kreditkarte beziehungsweise sogar kontaktlos mit Google Pay zahlen kann.

Nach ca. 100 km kamen wir in der ungarische Stadt Lenti an, suchten unsere Unterkunft an machten uns frisch und deckten uns mit Sonnencreme ein, denn die Tage wurden wärmer und die Sonne schien stärker.

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3. Tag

Das Highlight des Tagesabschnittes war der Grenzübergang zwischen Ungarn in Kroatien. Wir waren geimpft und hatten unsere Impfzertifikate mit, sodass der erste Grenzübertritt unspektakulär verlief. Nach einigen Kilometern in Kroatien kamen wir an den Fluss Drau.

Dort trafen wir jemanden, der uns einen Vorgeschmack auf den „verrückten Balkan“ gab. Josip ist um die 60 Jahre alt und wanderte in den 1980ern aus Kroatien nach Kanada aus. Weil er mit den Kommunisten nicht klarkam, wie er sagte. Vor einigen Jahren kehrte er zurück und eröffnete eine Pension im Grenzgebiet zu Ungarn.

Vor 2-3 Jahren fuhr er mit dem Fahrrad von Kroatien nach Lourdes und legte am Tag fast das Doppelte der Strecke, die wir fuhren, zurück. Er ernährte sich von Lachs und Waldpilzen (ob wirklich alle, die er aß, kein Halluzinogen waren, wage ich zu bezweifeln).

Als wir ihn trafen, war er angeln. Als er hörte, dass wir am übernächsten Tag in Slavonski Brod übernachten werden, bot er uns eine Unterkunft an. Typisch Balkan. Man kennt immer einen, der einen kennt, der einem hilft. Auf unserer späteren Reise durch Bosnien sollte das noch einige Male passieren. 

An unserem Tagesziel Koprivnica kamen wir am Nachmittag an. Gut war, dass wir (mit einer Ausnahme) an unserem Tagesziel immer die verschwitzte Wäsche in der Waschmaschine waschen konnten. Bis hierhin verlief die Reise ziemlich entspannt; die Dynamik der Gruppe entwickelte sich harmonisch und wir vier waren konditionell ungefähr auf dem gleichen Level, sodass es keine Ausreißer in der Leistung gab. Unsere durchschnittliche Tagesgeschwindigkeit war entspannt.

4. Tag

Am Abend davor checkte ich die Nachrichten von Booking.com und sah, dass unser Gastgeber für den nächsten Tag die Unterkunft abgesagt hat, uns aber zeitgleich einen Ersatz angebot. Die neue Unterkunft war ein ehemaliger Reiter-, und Wirtschaftshof, der dem deutschen Adelsgeschlecht Schaumburg Lippe gehörte und lag außerhalb der Stadt. Es wurde hauptsächlich als Location für Hochzeitsfeiern benutzt; mit einem Reiterstall und weit angelegten Spaziermöglichkeiten.

Da es in der Nähe keine Läden gab, aßen wir im Restauranthotel. Das Essen war lecker und preiswert und man sah dem Kellner die Enttäuschung an als wir nur das vegetarische Menü zu uns nahmen. Auf dem Balkan hält man vegetarisch für eine Verhaltensstörung und vegan für ernsthaftes psychisches Problem.

5. Tag

Der Tag fing regenreich an und die Wettervorhersage sagte erst gegen 11.00 Aufhellung voraus. Also lohnte sich das Warten nicht und wir beschlossen bei starkem Regen, die Weiterfahrt aufzunehmen. Auf einer stark befahrenen Landstraße waren wir froh, dass wir auf die Dorfstraßen ausweichen konnten. In Kroatien hatten wir fast eine Begegnung mit zwei freilaufenden Wachhunden, was aber glimpflich ausging.

Jeder Tag der Reise war etwas wärmer als der vorherige und vor uns stand eine Steigung, die uns etwas zusetzte; zumal die Temperaturen bereits an der 30°C-Grenze kratzten. Aber wir waren gut in der Zeit, legten entsprechende Pausen ein und da, wo es nicht ging, wurde das Fahrrad einfach geschoben. Zumal ich mit einem 7-Gang-Rad unterwegs war, das die Steigungen nicht mühelos meistern konnte.

In Slavonski Brod (der größten Stadt unserer Reise) kamen wir gegen 18.00 an und gingen wieder ins nächstgelegene Restaurant essen. Dank Wegfall der Roaminggebühren im EU-Ausland hatten wir die ganze Zeit Internet und Zugriff auf Online-Dienste. So wurde uns auch die Entscheidung über Einkaufsmöglichkeiten abgenommen.

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6. Tag

Die Entscheidung die Tagesrouten so früh wie es geht zu starten, um potenziellen Zeitverlust auszugleichen, erwies sich als richtig. Mit dem Übertritt des Grenzflusses Save verließen wir die EU und betraten Bosnien. Der Grenzübertritt verlief problemlos, das ausgedruckte Impfzertifikat wurde nur kurz in Augenschein genommen.

Unsere App führte uns auf diesem Abschnitt weg von der stark befahrenen Landstraße Bosanski Brod-Derventa-Doboj und navigierte uns über Dorfstraßen, die aber irgendwann endeten und wir ca. 15 km auf dem Schotterweg fuhren.

Leider erlitt auf diesem Weg einer von uns sowohl vorne als auch hinten einen platten. Dazu muss man sagen, dass er dünne Reifen hatte und mit einem platten Reifen muss man immer rechnen. Auf diesem Abschnitt wurden wir schon vorab zum Mittagessen in ein Restaurant eingeladen, sodass wir opulent tafelten.

Am Tagesziel kamen wir nach Sonnenuntergang an. Übernachtet haben wir in einem Vereinshaus, wo wir spartanisch schliefen, aber umso herzlicher empfangen und bewirtet wurden. Zu dieser Unterkunft kamen wir durch eine flüchtige Bekanntschaft.

Die Tochter des Bekanntenmusste sich vor 15 Jahren in Deutschland einer komplizierten Operation unterziehen. Ich hatte bei dem ganzen Prozess assistiert und übersetzt. Nun wollte sich der Vater bedanken und uns die Ehre erweisen, indem er sich um unser Wohlbefinden kümmerte.

7. Tag

Je näher wir der Stadt Srebrenica kamen, umso stärker spürten wir die Schwere der Atmosphäre. Am nächsten Morgen realisierten wir, dass unsere Unterkunft in Lukavac sich ganz in der Nähe des Platzes befand, der am nächsten Tag in „Platz von Srebrenica“ umbenannt werden sollte.

Im Krieg kamen viele Flüchtlinge aus Srebrenica und Umgebung nach Lukavac, bis heute gibt es viele, die hier leben und ihren Lebensmittelpunkt haben.

Obwohl wir gegen 10.00 losfuhren, schien die Sonne bereits erbarmungslos vom Himmel. Wir cremten uns ein, ein unerlässliches Ritual der letzten Tage. Die Route führte durch die Stadt Tuzla. Obwohl die Tagesroute fast um die Hälfte kürzer war, setzte uns die Sonne zu.

Wir nahmen viel Flüssigkeit zu uns und was noch wichtiger war, – um den Mineralienhaushalt auszugleichen – Brausetabletten mit Vitaminen und Mineralien, um Kraft fürs Pedalieren zu haben.

Auf diesem Streckenabschnitt lernte ich den Menschen kennen, dessen Lebensgeschichte ich ins Deutsche übersetzt habe: Hasan Hasanović, dessen zwei Brüder von den serbischen Soldaten im Genozid von Srebrenica im Juli 1995 ermordet wurden.

Obwohl wir uns zum ersten Mal begegneten, kam es uns beiden vor, als ob wir uns bereits ein ganzes Leben kannten.

Die letzten 7 km vor dem Ziel im Dorf Gornje Snagovo waren steil und zwischendurch war Schieben angesagt. Am Ziel – einem bosniakischen Dorf, welches in den 1990ern „ethnisch gesäubert“ wurde und die Menschen Anfang 2000er Jahre zurückgekehrt sind – kamen wir gegen 14.00 an.

Wir kamen im privaten Haus unter. Es war wieder eine der „ich kenne einen, der einen kennt“-Bekanntschaften. Obwohl wir unseren Gastgeber zum ersten Mal sahen, fühlten wir uns wie zu Hause. Zu unseren Ehren hat er ein Schaf geschlachtet und uns reich bewirtet. 

Später führte er uns auf eine Anhöhe über sein Haus, wo man fast bis nach Srebrenica schauen kann. Er zeigte uns den Weg, wo die Menschen im Juli 1995 aus Srebrenica geflohen sind und schilderte detailreich deren Flucht. Mit ihm gingen wir in die Dorfmitte, wo eine Gedenktafel zu Ehren der am 29.04.1992 ermordeten und verbrannten bosniakischen Zivilisten stand.

Unter den Opfern befand sich auch Ismeta Mujanovic, die im 8. Monat der Schwangerschaft war. Bis heute wurden die Verbrecher rechtlich nicht zur Rechenschaft gezogen.

Wir erholten uns gut und am nächsten Morgen bekamen wir zur Stärkung Hühnersuppe und zwei Sorten vom bosnischen Blätterteig (Burek) zum Frühstück.

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8.Tag

Gornje Snagovo gehört zur Gemeinde Zvornik. In der Stadt kamen wir innerhalb von 10 Minuten an. Es ging bergab und nachdem wir die Stadt Zvornik passierten – die heute mehrheitlich serbisch besiedelt ist –, fuhren wir am Grenzfluss Drina entlang.

Sie ist die natürliche Grenze zwischen Bosnien und Serbien und die großserbischen Ideologen haben bereits in den 1990ern formuliert, dass sie diese Grenze nicht akzeptieren und die nichtserbische (also bosniakische) Bevölkerung da nichts zu suchen habe. Da wir eine kurze Strecke vor uns hatten, legten wir eine Pause in Divič ein, welches sich direkt an der Drina befand.

Wir schwammen im Fluss und bewunderten die grüne Landschaft Ostbosniens. Unseren Weg setzten wir am Fluss entlang fort. Nach einigen Kilometern bogen wir von der Landstraße ab und fuhren ruhigen Weges durch die Dörfer, immer parallel zum Fluss. 

Das Thermometer zeigte bereits 38°C und an dem Tag tranken wir im Schnitt sieben Liter Wasser (auf 65 km). Ca. 5 km vor dem Zwischenstopp in Bratunac hielten wir an einem Zaun im Schatten an, um uns zu erholen.

Man bemerkte uns aus dem Garten und winkte uns zu sich; es handelte sich um eine bosniakische Rückkehrerfamilie, die uns Wasser, Kaffee und sogar die Süßigkeit „Halva“ anbot. Die Hausherrin hat zum muslimischen Neujahr gebacken und wir nahmen das Angebot dankend an.

Die Menschen in Bosnien sind neugierig und offen; viele waren während des Krieges in Deutschland und sprechen etwas Deutsch. Ein Sohn der Familie wurde während der Flucht aus Srebrenica im Juli 1995 ermordet. Wir verabschiedeten uns und fuhren nach Bratunac, wo wir in einem Restaurant aßen, um die Reise nach Srebrenica (ca. 10 km) fortsetzen zu können.

Im Vorort von Srebrenica befindet sich die Gedenkstätte Potočari, wo wir anhielten. Dort trafen wir Fadila Efendić, die einer Organisation der Überlebenden Mütter von Srebrenica vorsteht. Ihr Ehemann und Sohn wurden im Juli 1995 von den Serben ermordet und sie kümmert sich um hinterbliebene weibliche Mitglieder der Familien.

Eine resolute Frau, wie man sie in Bosnien oft antrifft; von jahrelangen Kämpfen um Würde und Gerechtigkeit gekennzeichnet. Bestimmt in der Sprache und sanft im Gemüt. 

Gegen 16.00 erreichen wir unsere Unterkunft in Srebrenica. Die Stadt wirkt an einem Sonntagnachmittag wie ausgestorben. Alle Läden sind zu, es gibt keinen Imbiss, den man aufsuchen kann, um zu essen. Da wir teilweise seit unserem Aufbrechen Müsli-Riegel mit uns rumschleppen, werden diese zu unserem Abendessen.

Nach dem wir uns frisch gemacht haben, fuhren wir in die Gedenkstätte. Wir gehen zwischen den Gräbern. Einheitlich gestaltete Stelen beinhalten Namen, Geburtsdatum und -Ort. Am oberen Anfang der Stele ist der Vers aus dem Qur‘an eingraviert: „Und sagt nicht von denen, die auf Allahs Weg getötet werden, sie seien tot! Nein! Vielmehr sind sie lebendig; aber ihr nehmt es nicht wahr.“ 

Die meisten Toten stammen nicht aus Srebrenica, sondern sind Binnenflüchtlinge, die in den Jahren 1992-1995 aus umliegenden Gemeinden und Dörfern nach Srebrenica geflohen sind, um Schutz zu suchen.

Diesen hat ihnen die UN auch mit der Resolution 819 vom 16.04.1993 zugesichert. Leider waren diese Zusagen im Juli 1995 nichts wert. Und nun liegen sie hier. Männer aller Altersklassen; viele Minderjährige, die die Welt um sich niemals richtig kennenlernen konnten.

Wir bleiben mit unseren Gedanken allein und unweigerlich versuchen wir uns in die Situation der Getöteten zu versetzen. Wie würde man selbst handeln? Fühlen? Würde man es überlebt haben? Am Ziel unserer Reise wurde uns klar: wir haben eine Fahrt unternommen, die uns alle verändert hat.