Berlin (KNA). „Alles über Anne“ – so heißt die ständige Ausstellung im Berliner Anne Frank Zentrum, der deutschen Partnerorganisation des Anne Frank Hauses in Amsterdam. Am 12. Juni wäre das jüdische Mädchen, das sich mit seiner Familie in einem Hinterhaus in Amsterdam versteckt hatte, dann deportiert wurde und im KZ Bergen-Belsen mit 15 Jahren starb, 90 geworden. Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) sprach mit dem Direktor des Anne-Frank-Zentrums, Patrick Siegele, über die berühmteste Tagebuchschreiberin der Welt, die Auseinandersetzung von Jugendlichen mit der Geschichte des Nationalsozialismus und warum die Hemmschwelle für antisemitische Ressentiments gesunken ist.
KNA: Herr Siegele, Anne Frank wäre am Mittwoch 90 Jahre alt geworden. Das Anne Frank Zentrum in Berlin richtet sich mit seiner ständigen Ausstellung und den Wanderausstellungen vor allem an Kinder und Jugendliche. Welche Botschaft kann das Tagebuch den Jugendlichen heute vermitteln?
Patrick Siegele: Die Geschichte von Anne Frank steht exemplarisch dafür, was passieren kann, wenn in der Gesellschaft Antisemitismus, Rassismus und Ausgrenzung überhandnehmen, das ist sozusagen die Universalbotschaft. Mit unseren Ausstellungen und dem Anne-Frank-Tag, den wir alljährlich an ihrem Geburtstag begehen, wollen wir die Jugendlichen dazu befähigen, sich für Demokratie und Menschenrechte zu engagieren.
KNA: Wie machen Sie das?
Patrick Siegele: Wir arbeiten mit jugendlichen Peer Guides, die wir dafür qualifizieren, dass sie Kinder und Jugendliche durch die Ausstellung begleiten. Dabei ist uns wichtig, nicht nur klar zu machen, wogegen wir sind, sondern auch wofür – für Werte, die Anne Frank versagt wurden: Sie durfte nicht in Freiheit leben, nicht zur Schule gehen, ihre Religion nicht ausüben. So verstehen die Schüler, dass es sich lohnt, sich für diese Menschenrechte einzusetzen. Außerdem ist das Tagebuch ein Selbstzeugnis, Anne Frank spricht selbst zu den Jugendlichen. Das macht die Geschichte sehr stark.
KNA: Laut Studien steigt der Antisemitismus bundesweit an, auch an Schulen. Wie erklären Sie sich das?
Patrick Siegele: Die Schule bildet die zunehmend verrohende Gesellschaft im Kleinen ab. Viele Dinge sind mittlerweile leichter sagbar, es gibt weniger Hemmungen, sich antisemitisch zu äußern. Zudem ist es eine Bildungsfrage: Die Schüler wissen weniger über den Holocaust, weil das Unterrichtsfach Geschichte in vielen Bundesländern zugunsten der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer zurückgefahren wurde.
KNA: Wie lässt sich hier gegensteuern?
Patrick Siegele: Neben mehr Geschichtsunterricht ist auch die Qualität entscheidend: Es darf nicht nur bei Zahlen und Fakten bleiben, sondern das Ganze muss ein Gesicht bekommen. Kinder und Jugendliche müssen Anknüpfungspunkte zum eigenen Leben haben. Dafür eignet sich die Geschichte von Anne Frank sehr gut: Sie lernen sie zuerst als ganz normales Mädchen im Teenageralter kennen, erfahren, dass sie gern schreibt, dass sie manchmal Probleme mit ihrer Mutter hat und ihren Vater sehr liebt. Erst dann setzen die Jugendlichen sich mit ihrer Verfolgungsgeschichte auseinander.
KNA: Äußern sich jugendliche Besucher beim Besuch der Ausstellungen auch manchmal antisemitisch?
Patrick Siegele: Ja, zumindest in Berlin gibt es laufend solche Vorfälle. Vieles ist israelbezogener Antisemitismus, etwa: „Was die Juden in Israel mit den Arabern machen, ist auch nichts anderes als Holocaust“. Aber auch die klassischen Stereotype hören wir wie etwa: „Alle Juden sind reich und einflussreich“.
KNA: Sind Schüler mit Migrationshintergrund empfänglicher für Antisemitismus?
Patrick Siegele: Nein, das kann man so generell nicht sagen. Man darf nicht leugnen, dass es solche Einstellungen bei Flüchtlingen gibt, die etwa aus dem Iran stammen, wo die Feindschaft zu Israel zur Staatsdoktrin gehört. Ich warne aber vor Pauschalurteilen, mit denen man sich dieses Problems entledigen will, anstatt bei sich selbst anzufangen. Das Reden vom importierten Antisemitismus finde ich im deutschen Kontext sehr befremdlich. Vor allem bei der AfD steckt eine andere Agenda dahinter, wenn sie vom muslimischen Antisemitismus spricht. Das wird benutzt, um Minderheiten gegeneinander auszuspielen. Für den einen wird sich nur eingesetzt, um den anderen zu diskreditieren.
KNA: Halten Sie einen verpflichtenden Schulbesuch einer Gedenkstätte für sinnvoll?
Patrick Siegele: Ich bin auf jeden Fall dafür, die Rahmenbedingungen zu schaffen, jedem deutschen Schüler im Laufe seiner Schullaufbahn einen solchen Besuch zu ermöglichen. Das scheitert oft an den Kosten. Jeder sollte aber einen Anspruch darauf haben. Von einer Verpflichtung halte ich nichts, weil sich manche Schüler dann der Geschichte nicht öffnen, sich nicht darauf einlassen.
KNA: Anlässlich des Geburtstages hat der Secession Verlag erstmals die Tagebuch-Version „Liebe Kitty“ herausgegeben, die Anne Frank selbst zur Veröffentlichung bestimmt und entsprechend bearbeitet hatte. Was ist anders an diesem „Roman in Briefen“ der 15-Jährigen gegenüber den spontanen Aufzeichnungen der 13-Jährigen ?
Patrick Siegele: Ich muss sagen, dass ich selbst noch einmal überrascht worden bin. Die Publikation zeigt ihren Reifeprozess. Ihr Stil ist reifer, nicht mehr kindlich-naiv, sie ist witzig und beobachtungsscharf. Man sieht wirklich, was für ein literarisches Talent dahintersteckt.
KNA: Sie wollte ja auch Journalistin oder Schriftstellerin werden.
Patrick Siegele: Ja. Mit dieser Veröffentlichung wird sie als schriftstellerisches Talent neu entdeckt. Das berührt mich sehr.