Reflexionen über die inneren Dimensionen der spirituellen Höflichkeit

Ausgabe 225

Adab ist solch ein wichtiges Element der spirituellen Wissenschaft, dass es sich lohnt, achtsam über Bedeutung und Praxis nachzudenken. Das Wort vermittelt eine Vorstellung von Manierlichkeit, Verfeinerung, Höflichkeit, Bildung und Kultiviertheit. Die vielleicht zutreffendste Beschreibung, die ich persönlich gehört habe, lautet „angemessenes Verhalten“. Das heißt, jeder Augenblick hat seinen einzigartigen Adab, das passende Wort beziehungsweise die angemessenen Taten oder Zustände.

Der Austausch mit anderen hat seine eigene Form des Adab, das gleiche gilt für den sich entfaltenden Moment unse­rer anhaltenden Beziehung mit dem Göttlichen. Das ist zweifelsohne der Grund, warum die Wissenschaft des Sufismus den Adab zu einer einzigartigen Kunstform entwickelte. Daher widmeten sich viele Sufi-Meister dem Verständnis und der Anwendung dieses höchstwichtigen spirituellen Wertes.

Angesichts dieser Bedeutung können wir ihm vielleicht einige nützliche Punkte entlocken, wenn wir über die Form des arabischen Wortes als solche nachdenken. Denn jedes Ding hat seine Bedeutung. Gleichzeitig möchte ich anmerken, dass es sich hier nicht um allgemeingültige Aussagen handelt, sondern um meine anhaltende Beschäftigung mit diesem Thema.

Das Wort Adab
Wie aus dem obigen Bild ersichtlich wird, besteht das arabische Wort „Adab“ aus drei Buchstaben: Alif, Dal und ba’. Wie viele arabische Worte leitet sich auch dieses Wort aus einer dreiteiligen Wurzel ab. Das vermittelt eine grundlegende Vorstellung des Begriffes, aus der dann erweiterte Bedeutungen abgeleitet werden. Das Wörterbuch von Hans Wehr definiert Adab als: „feine Bildung, Wohlerzogenheit, gutes Benehmen, Anstand, Sitte und Humanität.“ Die Ableitung „Aduba“ kann „wohlerzogen, feingebildet sein“, aber auch „wohlerzogen werden, sich anständig betragen, sich höflich zeigen“ oder „sich bilden“ bedeuten. Neben der lobenswerten Eigenschaft wird Adab auch als Prozess verstanden. Das heißt, man kann ihn lernen, zu ihm werden und ihn verkörpern.

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Anhand der Form des Wortes selbst können wir einiges von der inneren Bewegung erkennen, die für solch einen Prozess notwendig ist. Natürlich gehören alle Bewegung und Macht Allah. Blicken wir auf die einzelnen Buchstaben, um einige dieser Bewegungen zu entdecken.

Alif ا
Das ist der erste Buchstabe von Adab. Er ist auch der erste des arabischen Alpha­bets und der erste Buchstabe des Wortes „Allah“. Geschrieben wird er mit einem Stich der Feder, oft von oben nach unten. In diesem Sinne symbolisiert er die sendung des Göttlichen Wortes, die Offenbarung. Alle Dinge beginnen mit Allahs Handeln, mit der Hinabsendung der lebensspendenden Barmherzigkeit. Im Qur’an finden wir das Folgende: „Sein Befehl, wenn Er etwas will, ist, dazu nur zu sagen: ‘Sei!’, und so ist es.“ (Jasin, 82) Schöpfung entsteht und wird aufrechterhalten durch den Göttlichen Befehl. Allah gibt allen Dingen das ihnen angemessene Wissen: „Der Allerbarmer hat den Qurʾan gelehrt. Er hat den Menschen erschaffen. Er hat ihn die klare Darlegung gelehrt.“ (Ar-Rahman, 1-4) So stellt Alif für mich auch einen Blitz dar: Einer neuen Erkenntnis bewusst zu werden, fühlt sich sicherlich an, als ob man vom Blitz getroffen worden sei.

Darüber hinaus kann das Alif in grammatikalischer Hinsicht als fragendes Fürwort benutzt werden, um eine direkte oder indirekte Frage einzuleiten. Mit anderen Worten, es ist auch der erste Buchstabe, mit dem wir auf Allah antworten und mit dem wir die Göttliche Offenbarung zu verstehen suchen.

In Bezug zum Adab symbolisiert das Alif unsere adamische Natur – unsere simple, angeborene menschliche Würde. Wenn ich auf diesen Buchstaben schaue, werde ich an eine respektvolle Haltung erinnert, voller entspannter Würde und im Gleichgewicht. Adab beginnt daher mit der Anerkennung unserer natürlichen Würde, denn wir sind Allahs Statthalter auf Erden (Al-Baqara, 20). Die vertikale Linie markiert auch die Herabsendung der Gnade. Und so haben wir echte Würde, wenn wir im Zentrum dieses Göttlichen Regens stehen.

Dal د
Dies ist der achte Buchstabe des arabischen Alphabets. Blicke ich auf diesen Buchstaben, ergreift mich seine leichte Beugung, und ich bin an eine Person erinnert, die auf dem Boden sitzt. Dal repräsentiert ein Bild der Ruhe – des friedlichen Sitzens und des stillen Nachdenkens. Es ist auch ein Bild der Abwägung, des Respekts und – am wichtigsten – der Demut.

Auf eine symbolische Weise ist das Dal daher die natürliche Folge des Alif. Demut ist der einzige Weg, diesen Ort der Ruhe zu öffnen und zu entwickeln. Aber sie bedeutet nicht Unterwürfigkeit. Sobald wir die vielen Geschenke Allahs erkennen, dann ist die natürliche Antwort, in dankbarem Nachdenken zu sitzen. Es mag daher vielleicht kein Zufall sein, dass das Dal der erste Buchstabe für das Du’a (arab. für Bittgebet) ist. Unsere Antwort auf die Göttliche Barmherzigkeit sollte Dankbarkeit sein.

Ruhige Nachdenklichkeit beleuchtet eine weitere wichtige Facette: Adab ist ein sich ständig entfaltender Vorgang. Ich werde niemals einen Punkt erreicht haben, an dem ich sagen kann: „Ich habe genug getan und Adab gemeistert.“ Der Augenblick, wenn solche Gedanken in uns aufsteigen, ist nur ein Hinweis, dass wir einen weiteren Abschnitt unserer Bildung beginnen. Adab braucht Reflexion, Demut und Erinnerung.

Er nötigt uns Bewusstsein unserer menschlichen Würde und unserer Verbindung zu ihrer Quelle ab. Manchmal ist Stärke verlangt, während wir ein ­anderes Mal dazu aufgerufen sind, Geduld zu verkörpern – wir müssen uns selbst kleiner machen und unsere Wahrnehmung von unserem Status und unserer Weisheit verringern. Das gilt ins­besonde­re in Zeiten der Wut, in denen es sehr schwer ist, unser Gleichgewicht zu finden.

In dieser Hinsicht ist die folgende Überlieferung vom Propheten, möge ­Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, von besonderem Interesse: „Wenn irgendeiner von euch wütend wird und steht, soll er sich setzen, damit sein Ärger vergeht. Wenn er nicht vergeht, dann soll er sich hinlegen.“

Ba’ ب
Hier handelt es sich um den zweiten Buchstaben des arabischen Alphabetes und der erste in dem essenziellen Satz des Islam „Bismillah Ar-Rahman Ar-Rahim (Im Namen Allahs, des Barmherzigen, des Allerbarmers)“. Kein Zufall, denn unser sich entwickelndes Bewusstsein muss in eine Handlung mit höherer Absicht verwandelt werden. Genauso wird die Basmala in der islamischen Tradition verstanden: die Widmung einer Handlung für Allah. In Sachen Adab braucht unsere Antwort den richtigen Anfang, um wirklich fruchtbar zu sein.

Wenn ich den Buchstaben vor mir sehe, erkenne ich das Bild zweier Hände, die sich zum Bittgebet erheben. Adab benötigt daher das Gebet. Und ein Verständnis dafür, dass unsere Anrufungen in sich ein Ausdruck der Göttlichen Barmherzigkeit sind, wie Ibn Ata’illah es schon schön verdeutlichte: „Wenn Er eure Zunge mit einer Bitte löst, dann wisset, dass Er euch etwas geben will.“

Der Blick auf den Punkt unter dem Ba’ ist eine wichtige Erinnerung an die Einheit: Hinter jeder Dualität steht eine tiefere Einheit. Außerdem ist diese Realität einerseits komplett jenseits von uns und ist doch in jeder Sache manifest. Ohne den Punkt wäre der Buchstabe nicht zu erkennen. Ohne den Göttlichen Funken in uns allen, könnten wir uns nicht erkennen.

Und so beginnt Adab mit der Herabsendung der Barmherzigkeit, tief verborgen in unserer verletzlichen Menschlichkeit. Er vertieft sich durch die innere Schau, Gebet und Erinnerung und endet in einer Wahrnehmung der Einheit im Augenblick. Schlussendlich ist dieses Bewusstsein, dass unsere Bewegung veranlasst und uns kreisen lässt um unsere Göttliche Quelle. Das Bewusstsein von menschlicher Würde und Nichtigkeit sind die Funken, die das Feuer der Liebe in uns entfachen.