Interview mit dem krimtatarischen Abgeordneten Ali Khamzin: „Zur europäischen Ukraine wird die Krim dazugehören“

(iz). Ali Khamzin gehört zum Volk der Krimtataren und wurde 1958 in Usbekistan geboren, wohin die Krimtataren 1944 von Stalins Sowjetregime deportiert wurden, der Kollaboration mit den Deutschen bezichtigt. Seit ende der 1980er Jahre kehren die Krimtataren in ihre alte Heimat zurück, wo es seitdem immer wieder zu Konflikten mit den russischsprachigen Bewohnern kommt, die nach 1944 dort angesiedelt wurden. Etwa 300000 Krimtataren leben wieder auf der Krim und stellen damit 15 Prozent der Bevölkerung.

Rund 150.000 Krimtataren leben noch in den Deportationsgebieten Zentralasiens. Khamzin ist Mitglied des krimtatarischen Nationalrates Milliy Medschlis, der aus 33 Personen besteht und der das Organ für die krimtatarische Selbstverwaltung darstellt. Dort ist Khamzin für die Außenbeziehungen und Staatsbürgerschaftsfragen zuständig. Er lebt mit Frau, Kindern und Enkeln in Bachtschisaray, der alten Hauptstadt der Krim-Khane.

Mit ihm sprachen wir über die Position der Krimtataren angesichts der momentan brisanten Lage in der Ukraine und welche politischen Optionen sich für die Tataren zukünftig bieten.

Islamische Zeitung: Herr Khamzin, in der Ukraine, auf der Krim eskalierte die Gewalt, das Parlament wurde von bewaffneten Russen besetzt. Wie geht es jetzt weiter auf der Krim?

Ali Khamzin: Wichtig ist, sich nicht provozieren zu lassen. Hätten wir dies in der Vergangenheit zugelassen, wäre es schon häufig zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen gekommen. Wir haben der Krimbevölkerung empfohlen nach der Besetzung von Ministerrat und Parlament durch russische irregulär Bewaffnete zu Hause zu bleiben, sich nicht provozieren zu lassen. Darauf zielen solche Aktionen ja ab.

Islamische Zeitung: Warum?

Ali Khamzin: Nach der Deportation von uns Krimtataren 1944 wurde die Krim mit demobilisierten sowjetischen Dienstgraden bevölkert, von den normalen Reservisten der Armee bis hin zu ausgemusterten KGB-Leuten. Deswegen ist die Krim heute ein Sammelbecken von Chauvinisten, von Sowjetnostalgikern und Leuten, die Putin hörig sind. Für diese Kräfte ist die Krim Bestandteil „heiliger russischer Erde“.

Islamische Zeitung: Was passiert nun bei Ihnen in Simferopol, der Hauptstadt der Krim, sind bewaffnete Auseinandersetzungen zu befürchten?

Ali Khamzin: Wir Krimtataren, auf der Krim sind wir insgesamt etwa 300.000 Menschen, haben eine starke Selbstverwaltung, den Milliy Medschlis (Nationalrat). Unter dessen Vorsitzenden Refat Tschubarov haben wir zusammen mit ukrainischen Rechtsorganen wie der Staatsanwaltschaft und der Dachorganisation „Krimskiy Euromaidan“ einen Krisenstab gegründet, um mit der Situation professionell umgehen zu können. Vertreter der OSZE sind bereits unterwegs auf die Krim.

Islamische Zeitung: Die Krimtataren befürworten also klar den Umbruch in der Ukraine?

Ali Khamzin: Wir Krimtataren sind Europäer, haben eine europäische Mentalität. Wir bekennen uns zu europäischen Werten, zu den demokratischen Prinzipien, zu Menschenrechten und zum Schutz von Minderheiten. Mustafa Dschemiliw, einziger krimtatarischer Abgeordneter der Hohen Rada in Kiew hat wiederholt auf dem EuroMaydan gesprochen und betont: „Die Krimtataren haben nur eine Perspektive: In einer demokratischen Ukraine als freies Volk in einem geeinten Europa der Menschenrechtsstandards und der kulturellen Vielfalt zu leben“. Daher unterstützen wir auch die europäische Ausrichtung der Ukraine und das Assoziierungsabkommen mit der EU. Und zu dieser europäischen Ukraine wird die Krim dazugehören.

Islamische Zeitung: Besteht aber nicht die Gefahr der Abtrennung der östlichen Ukraine und der Krim?

Ali Khamzin: Dass sich der Südosten der Ukraine, der Donbass, der Schwarzmeerraum und die Krim abspalten wollen, ist medial überbewertet und verkennt die Stimmung unter der Jugend. Natürlich gibt es in Gebieten wie Luhansk, Charkiw, Donezk, chauvinistische Kräfte. Sie gibt es besonders wieder, seitdem Wladimir Putin an der Macht ist. Aber man darf eines nicht unterschätzen – die Jugend hat sich völlig verändert. Viele der Jüngeren waren im Westen, haben Verbindungen via Internet, haben gesehen, wie die Menschen leben, sehen täglich, wie eine europäische Ukraine aufgebaut sein kann.

Islamische Zeitung: Woran machen Sie dies fest?

Ali Khamzin: Schauen Sie sich die Bilder von den Toten auf dem Maidan an. Das sind alles junge Gesichter. Diese Männer wollten nicht mehr nach sowjetischen Prinzipien leben. Und auch vor dem Osten der Ukraine macht das nicht Halt. Der Gouverneur von Charkiw kommt nicht mehr in seine Büros, weil das Gebäude seit Tagen von jungen Leuten belagert wird. Auch dort ist die EuroMaydanbewegung präsent.

Islamische Zeitung: Aber Abtrennungsszenarien stehen im Raum?

Ali Khamzin: Eines muss den Medien im Westen klar gesagt werden: Die einfache Trennung in pro-russischen Osten und pro-europäischen Westen gibt es so nicht und eine Sezession kann nicht funktionieren. Aber auch den Leuten in Kiew auf dem Maidan und in der Regierung muss ganz deutlich sagen: Wenn es uns Krimtataren nicht gäbe, gehörte die Krim längst nicht mehr zur Ukraine. Das Anheizen der Stimmung durch russische Politiker, die hier auf die Krim gekommen sind, und durch die russischen Medien fallen bei manchen auf fruchtbaren Boden, doch einige hundert russische Nationalisten sind nicht das Abbild der Krim.

Islamische Zeitung: Welche Personen sehen Sie als politische Akteure der Zukunft?

Ali Khamzin: Eine Mischung aus den Kräften der Orangenen Revolution von 2004 und neuen Leuten des Euromaidan von heute muss die Ukraine geeint eine europäische Perspektive geben. Angebote dafür aus der EU heraus gibt es ja.

Islamische Zeitung: Hat sie Ihr Engagement für die Orangene Revolution 2004 etwas gelehrt?

Ali Khamzin: Ja sicher, damals mussten wir alle Hoffnungen beerdigen. Dennoch war die Orangene Revolution nicht vergeblich. Denn ohne Orangene Revolution gäbe es heute keinen Euromaidan. Und zu seinen Akteuren gehören Vitali Klitschko, Arsenij Jatzeniuk und auch Oleh Taghnibok von der Partei „Swoboda“. Und Julia Timoschenko wird bestimmt auch einen Platz finden. Wir als Krimtataren haben keine andere Option als „Pro-Europa“, wir haben keine andere Heimat und nur eine starke demokratische Ukraine kann unser Forstbestehen garantieren.

Islamische Zeitung: Was ist, wenn auch dieser Aufbruch scheitert?

Ali Khamzin: Die Menschen der neuen Regierung haben eine große Verantwortung. Denn wenn das so ausgeht wie bei der Orangenen Revolution wird es die Ukraine in dieser Form nicht mehr geben. Wir werden also mit aller Kraft weiter für unser Projekt eines Internationalen Forums werben, auf dem die Probleme der Krim zusammen mit ukrainischer Regierung, europäischen und internationalen Institutionen diskutiert werden sollen. Das richtet sich nicht gegen Rußland oder gegen die Zentralregierung in Kiew sondern zielt auf die gemeinsame Lösung der immensen Probleme hier.

Islamische Zeitung: Vertrauen Sie den neuen politischen Führern in Kiew?

Ali Khamzin: Wir kämpfen seit unserer Rückkehr auf die Krim vor über zwanzig Jahren für unsere Rechte. Jede Schule, jedes Stück Land, jedes Buch der Krimtataren sind mühsam erarbeitet. Und ehrlich gesagt misstraue ich tief im Inneren auch ein wenig den politischen Gewinnern des Euromaidan. Wir Krimtataren haben eine andere Kultur und eine andere Religion. Wir sind Muslime und ich habe die Befürchtung, dass uns der Euromaidan und die neue Regierung wieder genauso nachlässig behandelt, wie es die Präsidenten Juschschenko und Janukowitsch vor ihnen getan haben.

Für dieses Interview bedanken wir uns recht herzlich bei Dr. Mieste Hotopp-Riecke vom Magdeburger Institut für Caucasica-, Tatarica- und Turkestan-Studien.