Zurück auf der Weltbühne?

Ausgabe 245

Nicht mal einen Monat ist es her, dass Russland sich dem „Kampf gegen den „Islamischen Staat’“ angeschlossen und mit Bombenangriffen auf Syrien begonnen hat. Der Militäreinsatz spaltet die russischen Muslime und wirft Fragen zum Umgang mit IS-Sympathisanten im eigenen Land auf. Das könnte Folgen für Wladimir Putin haben.
(GfbV). Seit dem 30. September bombardiert Russland Ziele in Syrien. Zuvor hatte sich Präsident Putin die Erlaubnis des Förderratsrates, in dem je zwei Vertreter aller russischen Regionen sitzen, geholt. Nicht einer der 130 Anwesenden hatte dagegen gestimmt, nicht einer gefragt, warum die russische Armee eigentlich in Syrien kämpfen soll. Das zentrale Motiv Putins ist es, die eigene Macht zu erhalten und auszubauen – und nicht, wie behauptet, den „Islamischen Staat“ (IS) zu bombardieren.
Auch wenn es Putin durch seine Politik von „Zuckerbrot und Peitsche“ gelungen ist, die religiösen Würdenträger zur Loyalität dem Staat gegenüber zu verpflichten, gibt es doch Strömungen, die gerade sein Vorgehen in Syrien kritisieren und vor Folgen für Russland warnen. Der Frieden zwischen den Religionsgemeinschaften und auch den ethnischen Gruppen ist immer wieder brüchig. Konflikte über den „traditionellen und nicht-traditionellen Islam“ zeigen die Unterschiede, die zwischen den muslimischen Gruppen in Russland und dem Staat existieren. So ist zum Beispiel das Tragen eines Kopftuches in den meisten Republiken verboten, in Tschetschenien hingegen ist es verpflichtend für alle Frauen.
Unter dem Vorwand, „Extremismus” zu bekämpfen, wurden in den letzten Jahren viele Razzien gegen Muslime durchgeführt. Sogar der Vorwurf einer gezielten Verfolgung von Muslimen wurde laut. Der militärische Einsatz Russlands in Syrien könnte diese Konflikte wiederbeleben. Während offizielle Repräsentanten der muslimisch geprägten Regionen ihre Unterstützung kund tun – allen voran der tschetschenische Republikchef Ramzan Kadyrow –, so sind die Meinungen unter den knapp 20 Millionen Muslimen in Russland doch sehr geteilt. Es ist nicht erstaunlich, dass die sunnitischen Muslime gegen einen militärischen Einsatz Russlands in Syrien sind.
Der Einsatz in Syrien weckt traumatische Erinnerungen an den katastrophalen Feldzug der Sowjetunion in Afghanistan. Dort waren rund eine Million Menschen getötet worden, etwa 60.000 russische Soldaten sollen zwischen Kriegsbeginn 1979 und dem Ende 1989 gefallen sein. Tausende Dörfer wurden zerstört, 5,5 Millionen Afghanen mussten fliehen. Dieser Krieg hat maßgeblich zum Zusammenbruch der Sowjetunion beigetragen. Die Sorge besteht, wieder in so einen langen Krieg mit hohen menschlichen Kosten verwickelt zu werden.
Zudem sind gerade im Nordkaukasus die Erinnerungen an die zwei verheerenden Kriege in Tschetschenien noch sehr frisch. Das Leid und die Folgen für die Zivilbevölkerung lassen viele vor einem militärischen Einsatz zurückschrecken. Man will einfach aus humanitären Gründen keinen Krieg.
Auch die vorrangig muslimischen Tscherkessen beobachten angespannt die Entwicklungen im Nahen Osten. Sie sorgen sich um ihre Landsleute, von denen rund 100.000 vor Ausbruch des Krieges 2011 in Syrien gelebt haben sollen. Jetzt war der Ort Deir Ful, in dem auch Tscherkessen ansässig sind, eines der drei Dörfer, die russische Militärflugzeuge am ersten Tag der Angriffe in Syrien bombardiert haben. Die Bewohner des Ortes lehnen sowohl die Herrschaft von Baschar al-Assad als auch vom IS ab. Die Bomben fielen wohl als Strafe für die Opposition zu Assad, denn im Krieg gegen den IS müssen keine Tscherkessen angegriffen werden.
Eher sollte sich Russland daran erinnern, dass die in Syrien lebenden Tscherkessen Nachfahren von Opfern eines Völkermords sind, den die russische Zarenarmee 1861 an diesem kaukasischen Volk begangen hat. Rund eine Million Tscherkessen wurden damals von Sotschi aus über das Schwarze Meer ins Osmanische Reich zwangsverschifft. Auf dem Weg in die Türkei kamen Tausende von ihnen ums Leben. Die Überlebenden siedelte das Osmanische Reich in mehreren Gebieten der heutigen Türkei und auch Syriens an.
Seit Kriegsbeginn in Syrien wollen viele zurück in die Heimat ihrer Vorväter. Möglich ist es ihnen allerdings kaum: Visa werden von russischen Behörden nicht ausgestellt und nur winzige Kontingente von Tscherkessen aus Syrien aufgenommen. Wenn die Flucht gelingt, dann sind die Menschen alleine auf die Hilfe von Landsleuten angewiesen. Diese stellen Wohnungen, Arbeit und Unterstützung zur Verfügung. Aber das reicht oftmals nicht aus.
Dagegen rührt sich seit einiger Zeit auch in den Republiken des Nordkaukasus, wo die Tscherkessen leben, Widerstand. Am 7. Oktober 2015 fand in Tscherkessk, der Hauptstadt der Republik Karatschai-Tscherkessien, die bislang größte Demonstration der Tscherkessen statt. „Bringt die Tscherkessen zurück nach Hause!“, „Russland, rette die Tscherkessen in Syrien!“ war auf den Plakaten der rund 200 Teilnehmer zu lesen. Die russische Regierung hat diese, wie auch etliche vergangene Aktionen der Tscherkessen einfach ignoriert.
Nun wollen sich Tscherkessen aus den Flüchtlingslagern in der Türkei nochmals gemeinsam an die russischen Botschaften und auch an die EU wenden. Ein größeres Kontingent muss im Nordwestkaukasus aufgenommen und damit gerettet werden. Sollten dagegen weitere Dörfer von Tscherkessen und anderen nordkaukasischen Nationalitäten in Syrien von russischen Bomben getroffen werden, so werden auch die Proteste innerhalb Russlands lauter.
Nicht nur Tscherkessen, sondern fast alle Muslime, besonders aus dem Nordkaukasus, aber auch aus den zentralasiatischen Nachfolgestaaten der Sowjetunion, stehen seit vielen Jahren unter massivem Druck durch Behörden, Geheimdienst und Regierung. Die Beziehung zwischen der russischen Regierung und der muslimischen Bevölkerung ist angespannt. Einerseits eröffnete Präsident Putin vor Kurzem die neue Moschee in Moskau, andererseits werden schon heute vermehrt Razzien gegen Muslime durchgeführt. Das entfremdet vor allem die jungen Muslime stark von der Regierung und allen staatlichen Behörden. Auf der Suche nach einer muslimischen Identität und Anerkennung orientieren sie sich an Kultur, Religion und Gesellschaft des Nahen Ostens. Beeinflusst auch durch Imame aus dieser Region, die im Nordkaukasus predigen, beziehungsweise durch junge Muslime russischer Herkunft, die an den Universitäten im Nahen Osten ihre Ausbildung absolviert haben, wenden sie sich einer neuen Auslegung des Islams zu, die sie in ihren russischen Regionen nicht frei leben können.
Diese Spirale steigert die Sympathien für den IS. Aleksej Malaschenko vom Moskauer Carnegie Zentrum schätzt, dass über eine halbe Million russischer Muslime Anhänger des IS sein könnten. Bereits jetzt sollen nach offiziellen Angaben 2.400 Personen mit russischer Staatsbürgerschaft in den Reihen des IS kämpfen, andere Quellen gehen von bis zu 7.000 Personen aus. Seit Februar 2015 ist es in Russland eine Straftat, sich dem „Islamischen Staat“ anzuschließen. Die Regierung hat bisher allerdings nichts unternommen, um die Abwanderung russischer Muslime nach Syrien und in die Reihen des IS effektiv zu stoppen. Ganz im Gegenteil. Es gibt Anzeichen dafür, dass diese Ausreise von Freiwilligen gerade aus dem Nordkaukasus nicht nur geduldet, sondern auch forciert wurde.
Die Autorin ist Leiterin des GfbV-Büros in Berlin und gleichzeitig Referentin für die GUS-Staaten. Der Artikel erschient am 20.10. auf dem Blog des Berliner GfbV-Büros.