
Zu den Dingen, gegen die sich vergangene Größen nicht wehren können, gehört ihre Neuinterpretation durch Nachgeborene. Je nach Werk, Person und Umständen weicht das Ergebnis dieser Deutungsversuche deutlich vom Original ab. Ein Beispiel dafür ist der islamische Gelehrte, Sufi und Dichter Dschalalduddin Rumi oder Dschalaladdin Balchi oder Mevlana Rumi.
(iz). Je nachdem, wo die Betrachter stehen, wird Maulana Rumi gerne schon man zu einem Pantheisten, aber auf jeden Fall Esoteriker umdefiniert, der mit Islam wenn überhaupt nur am Rande zu tun hat. Seine Ursache hat dieses Phänomen weniger in der „kulturellen Aneignung“ durch westliche Leser, sondern in der weitgehenden Zerschlagung der Mevlevi-Strukturen und ihrer Lehrer in der frühen republikanischen Türkei selbst.
Nachdem Otto Höschle mit seiner zweibändigen Neuübersetzung von Rumis „Mathnawi“ einen neuen Zugang zu dem Werk ermöglicht hat, legte der studierte Iranist und freie Journalist Marian Brehmer mit „Der Schatz unter den Ruinen“ ein wunderbares und empfehlenswertes Buch nach. Im 2022 bei Herder erschienenen Titel zeichnet der Autor nicht nur Biografie und Werk des Meisters nach. Er tut das auf ebenso anschauliche wie anrührende Weise.
In Anlehnung an die Metapher vom Schatz unter den Ruinen, die der Autor Rumis Dichtung entnommen hatte, begeht er sich nicht nur auf die Suche nach Dingen, die „bereits in uns“ angelegt sind. Er bereist die Lebensstationen des großen Meisters vom afghanischen Balch über Persien bis Syrien und schließlich die heutige Türkei. Dort trifft er ganz unterschiedliche Suchende, Kenner der Materie und Liebende.
Um bei Ruinen beziehungsweise Trümmern zu bleiben: Dieses Rumi-Buch leistet auf quasi archäologische Art und Weise die Entfernung der historischen und gegenwärtigen Ruinen, die sich über das Werk des Meisters gelegt haben. Im persischsprachigen Afghanistan und Iran sowie in Syrien und der Türkei sind die heutigen Verhältnisse recht antithetisch zu seiner Lehre.
Umso anrührender sind Brehmers Beschreibung von Begegnungen mit jenen MuslimInnen, die er auf seiner zehnjährigen Reise traf und die sich ungeachtet ihrer Umstände mit Werk und Botschaft beschäftigen, wenn nicht in ihm aufgehen. Mit Rumi „als meinem inneren und äußeren Reiseführer“ zwischen Kabul und Istanbul lernte er einen Raum kennen, der ihm „immer mehr zur Heimat“ geworden sei. Damit ist „Der Schatz unter den Ruinen“ und die Reisen, die zu seiner Entstehung führten, ebenso die Darstellung von wichtigen islamischen Kulturräumen, die über Jahrhunderte stark verbunden gewesen seien. „Sie sind die Heimat einer islamischen Hochkultur, deren spiritueller Nährboden der Sufismus ist.“ Das macht das Buch auch zu einer Recherche, wie viel davon heute noch an seinem Ursprung vorhanden ist.
Wie Marian Brehmer korrekt in seiner Einführung anmerkte, wurden moderne Rumi-Zitate heute „häufig ihrer islamischen Symbolik erledigt“. Jeder, der sich näher mit ihm beschäftige, komme nicht umhin, zu erkennen, „das die austauschbaren New-Age-Aphorismen (…) wenig mit ihrem eigentlichen Urheber zu tun haben“.
Hellsichtig beschreibt er ein Grundproblem der zeitgenössischen Rumi-Rezeption im Westen: „Das Problem mit der Entislamisierung von Rumi ist, dass wir dem Islam absprechen, jemanden wie Rumi hervorgebracht zu haben. Wir können Rumi nicht in Einklang bringen mit unseren tendenziösen Zerrbildern.“ Indem Maulana zu einem säkularen Humanisten erklärt worden sei, hätten wir den Blick auf den echten verbaut. Als Folge bleibe ein tieferer Zugang zu seinen Lehren versperrt, die bis heute von großer Bedeutung seien.
Marian Brehmer warnt sein Publikum: Rumis „tolerantes, offenes Weltbild“ solle nicht zur Falschannahme führen, er habe „seine Religion“ gegen „eine seichte Esoterik“ getauscht. Erstere liefere theoretisches Wissen, dass in der „Alchemiewerkstatt“ der Sufis seine Anwendung finde. Denn: „Im Zentrum von Rumis Lehre liegt das islamische Einheitsprinzip, das Tauhid.“ Rumi sei nicht zu einer Größe gelangt, weil er Islam hinter sich gelassen habe, sondern dessen inneren Bedeutungen „auf den tiefsten Grund“ gegangen sei. Marian Brehmes Rumi-Buch ist eine Erinnerung an Muslime, die sich über den Rumi im Westen ärgern. Kann es sein, dass sie ihn vergessen haben? (sw)
Marian Brehmer, Der Schatz unter den Ruinen, Herder Verlag, Freiburg 2022, 193 Seiten, gebunden, ISBN 978-3451375163, Preis: EUR 20,– (auch als eBook erhältlich)
Die Lektüre “Der Schatz unter den Ruinen” hat mich sehr berührt; nämlich mit welcher Ernsthaftigkeit und offenem Herzen sich der Autor selbst “auf die Suche gemacht hat”.
Wunderbar zu lesen und zu erfühlen!
Ingeborg Finke-Kraft