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„Sei ein Sohn Deiner Zeit“

Ausgabe 253

Foto: The Eye in Islam

(iz). Enes Karic ist Professor für Qur’anforschung und die Geschichte der Interpretation des Qur’an an der Fakultät für Islamstudien der Universität von Sarajevo. Im Zuge seiner Forschungsarbeiten hielt er sich mehrfach im Ausland auf, unter anderem in Kairo, Yale, Oxford, Santa Barbara und München. Professor Karic hat viele Bücher, Aufsätze und Artikel zu den Themen Kultur, Philosophie, Theologie und moderne Ideologien herausgegeben und verfasst sowie Übersetzungen aus dem Arabischen und Englischen angefertigt, unter anderem eine bosnische Qur’anübersetzung. 2015 erschien sein Roman „Lieder wilder Vögel“ und 2016 „Der jüdische Friedhof“ in deutscher Erstausgabe. Wir haben uns mit ihm über Islam, Europa und den Fragen nach Identität unterhalten.
Islamische Zeitung: Sehr geehrter Professor Karic, gibt es Ihrer Meinung nach einen „europäischen Islam“ und wenn ja, was verstehen Sie unter diesem Begriff?
Enes Karic: Ja, ich denke, dass es einen europäischen Islam gibt und ich würde den Begriff auch nicht in Anführungszeichen setzen. Erlauben Sie mir, meine Aussage kurz zu erläutern. Als europäischen Islam verstehe ich, religiös und kulturell, den Islam, der sich jahrhundertelang in der europäischen Gesellschaft kontextualisiert hat. Islam als Glaube, als Religion, als Kultur und Zivilisation hat seine kulturellen Zonen, diese sind unter anderem oft mit den sprachlichen Zonen des Islam verbunden. Wir haben die arabische kulturelle Zone des Islam, dann die türkische, persische, und so weiter. Die europäische kulturelle Zone des Islam ist ein Fakt. Es gibt den Islam der Bosniaken, den Islam der Tataren, den Islam der Albaner, der europäischen Türken, der Pomaken, und so weiter. Es gibt auch den Islam der europäischen Konvertiten, und es gibt, wenn auch in der Vergangenheit liegend, den Islam der Muslime Spaniens …
Dies alles sind verschiedene Kontexte, in denen Islam bezeugt wird, gelesen wird und hervorkommt. Ein traditioneller Gelehrter sagte einmal: All die unterschiedlichen Kontexte des Islams, all diese kulturellen Zonen, machen die Vielfalt in der Einheit aus, die Vielfalt im Tawhid einer muslimischen Menschheit.
Im Qur‘an werden der Islam und ihm etymologisch nahe Begriffe in verschiedenen Kontexten genannt. In der qur‘anischen Verwendung des Wortes Islam sehen wir mehrere semantische Felder. Erstens, ist Islam „die Hingabe an Gott“. Die qur‘anische Weltanschauung proklamiert: Gott schafft alles und erwartet von allem Erschaffenen (den himmlischen Welten, den Sternen, der Erde, den Welten der Minerale, der Vegetation, der Tiere und Menschen …) eine Antwort, die Islam heißt, und diese ist die Hingabe an Gott. „Und ihm ergibt sich, was in den Himmeln und auf Erden ist“, heißt es in Sure 3:38. Das ist eine wichtige Erklärung im Qur‘an. Ich erinnere daran, dass der große Goethe eben dieses semantische Feld des Islams im Qur‘an im Sinn hatte, als er seinen oft wiederholten Vers niederschrieb, der den Muslimen lieb ist, vor allem uns europäischen Anhängern des Islam: „Wenn Islam Gott ergeben heißt, In Islam leben und sterben wir alle.“
Ein weiteres wichtiges semantisches Feld ist der Islam als Din (als ganzheitliche Art des Glaubens, der Rituale, ethischer Prinzipien …). Demnach erkennen wir Islam als religiöse Wirklichkeit, als Konstitution und Gegebenheit in Beziehung zu anderen religiösen Konstitutionen und Gegebenheiten, wie dem Christentum, dem Judentum, dem Buddhismus … In Sure 5:3 wird der Islam als Glaube bezeichnet.
Als drittes semantisches Feld des Wortes Islam im Qur’an findet man ihn als ein besonderes, kulturell erkennbares Praktizieren, so wie ihn eine Gemeinschaft in ihrer gesellschaftlichen Umgebung praktiziert. In der Sure 49:17 heißt es: „Euer Islam …“
Wenn wir vom europäischen Islam sprechen, würde ich sagen, dass er als Din und als spezielles kulturelles und zivilisatorisches Universum auf dem Boden Europas schon seit fast 14 Jahrhunderten lebt. Das Spanien von 711 bis zum Fall Granadas 1492 ist nicht nur ein Teil großartiger islamischer Geschichte, sondern auch ein integraler Teil großartiger europäischer Geschichte. Wann immer wir von europäischem Islam sprechen, haben wir einen europäischen Kontext im Blick, in dem Islam gelebt wird. Aber nicht nur einen Kontext, sondern auch unsere muslimische Beziehung zu Europa als unsere Heimat. Kontextuelle Auslegungen jeder Religion sind sehr wichtig. Sie stumpfen grobe und rigide Vorstellungen der Religion ab. Eine kontextuelle Auslegung des Islams bewirkt ein frisches Aroma, ein junges Gesicht, eine angenehme Atmosphäre, würde ich sagen. Nehmen wir als Beispiel den bosnischen Islam in diesem südöstlichen Teil Europas. Auf eine schmerzlose Art hat sich hier der Islam „bosnisch“ verwurzelt, kontextualisiert, über Jahrhunderte des Auslebens und Auslegens dieses bosnischen Islams hinweg. Dafür gibt es viele Beispiele. Unsere Gelehrten haben es unterlassen, die Menschen zu bestimmten Handlungen aufzurufen, auch wenn diese in der Schari’a erlaubt sind, um nicht die Gemeinschaft zu verwirren. In unserer vorislamischen bosnischen Tradition wurde es nicht praktiziert, dass Verwandte einander heirateten.  Als unsere Vorfahren den Islam annahmen, haben sie diese Praktiken elegant umgangen. Es ist auf dem ganzen Balkan unter Muslimen undenkbar, eine Cousine oder einen Cousin zu heiraten! Dies ist unter einigen arabischen, asiatischen und afrikanischen muslimischen Gemeinschaften anders.
Ebenso die Polygamie, die in einigen Auslegungen der Schari’a erlaubt ist, wurde unter den bosnischen Muslimen mehrheitlich abgelehnt.
Diejenigen unter uns, die die Existenz eines europäischen Islams bezeugen, stehen vor der Aufgabe, uns auf eine Auslegung des Islams vorzubereiten, die im europäischen Kontext nicht nur geschichtlich, als Kontinent, als Kultur, sondern auch als Europa, welches in Teilen geopolitisch zur Europäischen Union geworden ist, zu verstehen ist. Für viele Muslime ist dies die einzige Heimat.
In vielen traditionellen Ländern des Islams führen sie heute Debatten über „Islam und Säkularismus“. Man meint, die beiden seien unversöhnlich. Ich denke nicht, dass die allgemein anerkannte Form des Säkularismus, die sich hier friedlich seit 1945 entwickelt, dem Islam, den Muslimen und ihrer religiösen und kulturellen Art feindlich gesinnt ist. Ich würde sagen, Islam lässt sich kulturell sehr gut mit einem friedlichen Zusammenleben mit den „säkularen Herren“ verbinden. Darüber habe ich schon auf vielen Symposien diskutiert. Ich habe betont, dass es nicht nötig ist, dass der Islam zur „Weltmacht“ wird. Wir Bosniaken haben in einem europäischen Land, Bosnien und Herzegowina, viele Debatten geführt, die beweisen, dass durch die Abschaffung des Kalifats 1924 nicht auch der Islam als solcher abgeschafft wurde!
Abschließend möchte ich sagen: Für mich ist der europäische Islam kein revisionärer Islam, kein häretischer Islam, kein Trojanisches Pferd, das den Islam verfälscht oder ihn von innen zerstören wird. Für mich ist der europäische Islam gleichzeitig ein traditioneller und moderner Islam. Dies ist ein Islam, dessen Glaube, Kultur, Zivilisation und Blick auf die Welt in einem europäischen Kontext ausgelegt werden, in Zusammenhang mit den unbestreitbaren europäischen Werten bürgerlicher Freiheit, Rechte, des Friedens, Zusammenlebens, sozialer Gerechtigkeit und der Entwicklung guter Nachbarschaft.
Islamische Zeitung: Viele Leute haben die Vorstellung, Muslime seien per se dunkelhäutig, gehörten einer anderen Rasse an. Derzeit benutzen oft auch Muslime, die gegen Rassismus ankämpfen möchten, den Begriff „People of Colour“ als Charakteristik der Muslime. Jedoch sind die Mehrheit der Muslime in Europa autochthone Europäer. Müssten diese ihre Stimme nicht mehr heben?
Enes Karic: Ja! Ich bin dafür, dass die Stimme der europäischen Muslime mehr gehört wird. Ich denke, sie haben etwas zu sagen, etwas anzubieten. Dazu werde ich aber gleich noch etwas sagen. Erlauben Sie mir, ein, zwei Sätze zum Begriff „Autochthonität“ zu sagen.
Autochthonität müsste man ein wenig erläutern und hinterfragen, und zwar im Kontext des bürgerlichen Europas, aber nicht nur Europas. Für gewöhnlich versteht man unter autochthonen Menschen oder Völkern diejenigen, die vor anderen irgendwo angekommen sind. Beispielsweise haben die Deutschen Mitteleuropa vor den Ungarn besiedelt. Müsste man also die Ungarn als Migranten und die Deutschen als Autochthone bezeichnen? Wie Sie sehen, verwickeln wir uns in Fragen, wer die tatsächlichen Ureinwohner einer Region sind, und ob es in einer bürgerlich konzipierten Gesellschaft überhaupt angebracht ist, zu fragen, wer diese sind. Dies führe ich an, weil ich denke, dass die Frage nach der Autochthonität einerseits sehr verführerisch und andererseits sehr ungerecht sein kann.
Des Weiteren ist es nicht von Vorteil, Glauben und Religion in Europa heute in „heimische“ und „zugewanderte“ zu unterteilen. Das führt zu nichts. Nehmen wir Bosnien als Beispiel. Die Franziskaner sind vor ungefähr 700 Jahren dort hingekommen. Die Sufis vor weniger als 600. Was bedeutet das nun? In großen Zeitabschnitten gemessen heißt es nichts anderes als: Wenn ich, der Sufi, gestern nach Bosnien gekommen bin, dann bist du, Franziskaner, vorgestern gekommen. Der Unterschied ist nichts weiter als ein einziger Tag! Letzten Endes führt dies alles zu Folgendem: Wichtig ist, dass der Franziskaner, der Sufi sowie der Hesychast ihre Heimat, Bosnien und Herzegowina, lieben. Die früheren Zeiten verlieren sich sowieso in den undeutlichen Nebeln und Schichten des Vergangenen.
Allerdings finde ich Ihre Frage zu den „autochthonen europäischen Muslimen“ sehr wichtig, sowie den rassistischen Blick auf die Muslime heute. Einige Muslime in Europa, insbesondere Westeuropa, haben es mit zwei Erschwernissen zu tun. Das eine ist der Islam, das andere die Rasse. Den muslimischen Gemeinden in Großbritannien, Frankreich und anderswo in Europa würde ich immer raten, ihre Rechte auf europäische Art zu verteidigen. Dies rate ich allem Muslimen in Europa. Es gibt Zivilgerichte, bürgerliche Prinzipien sind festgemacht, Gerichtsurteile werden respektiert. Ich denke, dass die Muslime in Europa sehr viel mehr erreichen und erhalten werden, wenn sie ihre Rechte im Einklang mit den heutigen europäischen Standards der Rechtssprechung verteidigen. Ich bin nicht dafür, die Muslime in Europa zerstörerische Demonstrationen führen zu sehen. Ich bin gegen Auseinandersetzungen … Das Leben ist kurz, wir brauchen Frieden, unsere Seelen sollten in Ruhe „atmen“ können.
In Hinblick auf Ihre Frage, ob die autochthonen Muslime Europas lauter sein müssten, denke ich durchaus, dass sie gerade wegen ihrer Erfahrung und ihrem Europäisch-Sein in der Szene, in der über den Islam und die Muslime gesprochen wird, mehr anwesend sein müssen. Somit auch dann, wenn es um die Diskussion um islamische oder muslimische religiöse Institutionen in Europa geht, um das Islamverständnis, um einen echten Islamdiskurs im heutigen Europa, und so weiter.
Ich sage es noch einmal, Europa, insbesondere Westeuropa, hat seit 1945 imposante Schritte in Richtung Bürgerrechte und bürgerliche Freiheit, religiöse Freiheit, Menschenrechte, Ökonomie, Kultur und Zivilisation gemacht. Und Millionen von Muslimen hatten unheimlich große Vorteile von so einem offenen Europa. Für uns, die europäischen Muslime, ist Europa unsere Heimat. Es ist notwendig, dass wir selbst, von unserer Perspektive aus, diese als unsere Heimat bezeugen. Wenn ein Haus auch unser Haus ist, ist es leicht, an seine Wände eine Arabeske oder ein Gedicht aus dem Diwan von Hafez aufzuhängen.
Islamische Zeitung: Europa befindet sich in einer Identitätskrise, die sich vor allem in der Islamophobie ausdrückt. Welche Rolle spielt da Bosnien als Vorbild für die islamische Tradition und den islamischen Geist in Europa?
Enes Karic: Es herrscht die Meinung, Europa sei in einer Identitätskrise. Ich denke aber, dass diese Krise vergänglich ist. So wie das griechische und hellenistische Erbe den europäischen Geist begründet, so auch die Bibel, aber auch die mittelalterliche islamische Tradition. Jedoch bitte ich die Leser dieses Interviews, das Wort „mittelalterlich“ nicht vorschnell als „dunkel“ oder „rückständig“ zu verstehen. Im Gegenteil, das islamische Mittelalter entwickelte sich unter den Lehren der Medressen, die voller Licht, voller universeller Lehren über den Menschen, Gott und das Universum waren. Ich denke, dass es solche erhellenden Lehrstätten auch mit christlichem Vorzeichen in Europa gab. Dazu empfehle ich das bemerkenswerte Werk Lumieres de la Sagesse – Ecoles medievales d’Orient et d’Occident.
Es wird weniger Islamophobie geben, wenn europäische Muslime, und damit meine ich Professoren, Mediziner, Künstler, Journalisten, Autoren, mediale Persönlichkeiten, usw., den Islam als wichtiges drittes Fundament Europas sehen. Was meine ich damit? Was möchte ich damit sagen? Als Erstes müssen wir Islam als Synthese, als Offenheit gegenüber dem Anderen verstehen. Heutzutage wird von mehreren Seiten viel Energie dafür verschwendet, den Islam gegen die ganze Welt zu stellen. Viele möchten, dass der Islam sich abspaltet, sich isoliert. Das ist einerseits schädigend, andererseits intellektuell nicht haltbar. Daher liegt hier die Aufgabe der intellektuellen Elite europäischer Muslime. Jedoch frage ich mich in diesem Kontext: Wie viele europäische, intellektuelle Muslime sind heute bereit, die „islamischen Wurzeln“ vieler der Märchen der Brüder Grimm zu verdeutlichen? Oder, inwieweit sind wir, die muslimischen Intellektuellen im heutigen Europa, bereit, den bedeutenden Einfluss Abu Hamid Al-Ghazalis (gest. 1111) auf Immanuel Kant aufzuzeigen? Oder ist es für uns leichter, einfach zu sagen, Immanuel Kant sei ein Ungläubiger gewesen und damit die gesamte Diskussion zu beenden?!
Und sind wir bereit, auf der intellektuellen und universitären Ebene den Islam als große semitische Synthese zu verteidigen? Das mittelalterliche Verständnis des Islam war ein synthetisches, ein offenes Verständnis. Ich würde sagen, dieses Verständnis führte zu einer kulturellen und zivilisatorischen Synthese im Mittelmeerraum. Es schuf einen Austausch intellektueller, kultureller und wirtschaftlicher Güter auf beiden Seiten des Mittelmeers. Es wurde viel mehr gehandelt als bekriegt. Es sollten im Sinne von Projekten des Friedens und der Zusammenarbeit muslimische Intellektuelle ihre Kräfte in ein frisches Islamverständnis bündeln, welches offen ist für versöhnende Stimmen auf christlicher Seite. Ich weiß nicht, ob ich sagen darf, dass die große Stimme des Hans Küng bis heute kein adäquates Pendant auf muslimischer Seite gefunden hat.
Kommen wir zurück zur Islamophobie. Ich denke nicht, dass die Dinge so einfach sind. Ich denke nicht, dass Europa, in seinem Projekt der Europäischen Union, gegen den Islam ist. Es gibt gerade viele Täter. Ich denke nicht, dass die Europäische Union Pegida folgen wird, das wäre deplatziert, das wäre zu aller erst gegen Europa selbst, und dann gegen die Muslime oder Juden. Außerdem denke ich nicht, dass Deutschland Pegida verdient.
Kommen wir zurück zu Ihrer Frage. Bosnien und Herzegowina verstehe ich als ein großes Beispiel gelungener Koexistenz des Islam, des orthodoxen und katholischen Christentums und des Judentums. Trotz der Geschehnisse von 1992-1995 und dem schrecklichen Genozid, der an den bosnischen Muslimen begangen wurde, denke ich, dass im Sinne der Nachbarschaft dieser Religionen und ihrer Gläubigen nicht alles verloren ist. Die Sufis sagen: Die Sonne scheint am stärksten nach einem schrecklichen Gewitter. In Bosnien und auf dem Balkan ist es notwendig, erneut die Flaggen des Friedens und des Respekts zu hissen. Dafür brauchen wir kleine Schritte, aber wohlwollende. Und die Projekte für den Frieden auf dem Balkan werden ganz Europa helfen.
Islamische Zeitung: Professor Ferid Muhic befasst sich mit der Identität europäischer Muslime. Wie verstehen Sie diese?
Enes Karic: Zunächst einmal, sind mir die Werke von Professor Muhic bekannt, zu einigen habe ich selbst Rezensionen geschrieben. Es erfreut mich, dass er, als Philosoph, sich den muslimischen und islamischen Komponenten Europas widmet. Des Weiteren ist festzuhalten, dass die europäischen Muslime mehrere Identitäten haben, nicht nur eine. Ihre islamische und muslimische Identität ist sehr wichtig. Aber es gibt noch mehrere „ergänzende“ Identitäten. Nehmen wir zum Beispiel die Bosniaken und Albaner. Beide Völker haben eine osmanische Identität, wenn es um das Erbe und die traditionelle religiöse, muslimische Kultur geht. Schauen wir noch weiter, so haben die Bosniaken auch eine slawische Komponente, die die Albaner nicht haben. Nimmt man die Tataren, unzweifelhaft muslimische Europäer, so haben wir es hier mit Erfahrungen Osteuropas und einer islamischen Akkulturation mit den dortigen orthodoxen und katholischen Traditionen zu tun, auf lokaler sowie regionaler Ebene.
Was ich als bosnischer Muslim, Islamgelehrter und – wenn ich es so sagen darf – jemand, der versucht, als Autor vom Balkan bekannt zu sein, sagen kann: Ich nehme es der Führung vieler arabischer und indo-pakistanischer Gemeinschaften in Europa übel, dass sie eine von dort stammende und für Europa unverständliche Islamauslegung propagieren. Ich erlaube mir zu sagen, dass dieses Verständnis teilweise stammesbedingt ist. Um es deutlicher zu machen: Warum wird in sogenannten pakistanischen oder bangladeschischen Moscheen in den Freitagspredigten, nachdem man Gott und seinen Gesandten, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, erwähnt hat, nicht über das Javed-Naam von Muhammad Iqbal gesprochen, oder über seine „Wiederbelebung des religiösen Denkens“? Iqbal war ein großer europäischer Student und außerdem eine moderne muslimische Größe. Neben ihm gibt es noch viele andere.
Europäische Muslime, nicht nur jene aus Indien, Pakistan, Bangladesch, Nordafrika oder der Türkei, sondern auch jene des Balkans, müssen sich auf die hiesigen europäischen Autoritäten in der Auslegung des Islams verlassen. Im Denken, Verständnis, und, wenn Sie so wollen, in der Affirmation des Islams! Die großen Sufis sagen: Sei ein Sohn (oder eine Tochter) deiner Zeit! Das heißt, dass Du für dich selbst die Verantwortung übernehmen musst, Antworten auf die Dilemmata und Fragen Deiner Zeit zu geben, in der Sprache Deiner Zeit.
Islamische Zeitung: Ihr Roman „Lieder wilder Vögel“ thematisiert Fragen der Identität, Religion, Politik und Kultur, welche sich aus dem historischen Blickwinkel auf unsere Zeit übertragen lassen. Könnten Sie uns die Absicht hinter diesem Roman und seine Bedeutung für heutige Leser erklären?
Enes Karic: Mein Roman handelt von der heutigen muslimischen Szene, oder, wenn Sie so wollen, von der heutigen islamischen Szene in den traditionellen Ländern des Islams. Wenn aus dieser Welt heute Menschen nach Europa fliehen, wenn sie zu Tausenden sterben, während sie über das Land und das Meer versuchen, Europa und den Westen zu erreichen, dann sehen Sie, dass in diesen Ländern gewaltig etwas schief läuft! Ich weiß, ich weiß, ich habe alle Aspekte dieser Flüchtlingskrise miteinbezogen. Die westliche Beteiligung in politischen Entscheidungen und Bewegungen in diesen Ländern. Jedoch können sich die heutigen Muslime in den furchtbaren Ereignissen in Syrien, Jemen, Irak, usw. keinesfalls selbst begnadigen und der Schuld und Verantwortung entziehen.
Mein Roman erzählt auf eine oder mehrere literarische Arten, wofür die Religion allgemein, und der Islam speziell, einerseits eingejocht werden kann und andererseits zu moralischen Zwecken verwendet werden kann. Der Philosoph Hasan, ein Held des Romans, sagt: „Mensch, du betest zu Gott, um dich als Mensch zu beweisen, und nicht, um durch deine Gebete zu bezwecken, Gott zu werden!“
Heute gibt es Muslime und muslimische Gruppierungen, die denken, dass die Tatsache, dass sie Gläubige sind, ihnen das Recht gibt, die fürchterlichsten Verbrechen zu begehen. Das ist, kurz gesagt, die Botschaft meines Romans. Der Roman selbst ist ein Aufruf dazu, den Islam nicht nur in Qur’an und Sunna zu entdecken, sondern auch in der Philosophie, der Literatur, dem Gesang, der Kunst. Dass es Gott gibt und dass Gott ist – das ist ein Grund zur höchsten Freude für den Menschen. Ich denke, das ist eine der Kernbotschaften des Islams in allen seinen geschichtlichen Verwirklichungen. Deshalb fragt sich mein Roman, „Lieder wilder Vögel“: Aus welchem Grund haben heute so viele Muslime so mürrische Gesichter? Wofür? Und Warum?
Islamische Zeitung: Wie wichtig ist – aus Ihrer Perspektive – das Wissen um die europäische Geschichte, Philosophie und Kultur für die Muslime dieses Kontinents, um ihre Umgebung besser zu verstehen, ihre Standpunkte zu formulieren und zur europäischen Gesellschaft beizutragen?
Enes Karic: Ich erwähnte bereits, dass die Muslime in Europa auf ihre liebe Heimat schauen sollen, sie von ihrer Seite aus als Kontinent, der auch ihnen gehört, profilieren sollten. Ich sage, auch ihnen, nicht nur ihnen! Zunächst müssen sie sich in der Pluralität üben, aber das ist ein Thema für ein anderes Gespräch. Europa hat eine großartige Literatur und Philosophie, von der Kunst ganz zu schweigen. Muslime müssen darüber lernen. Leider gibt es nur wenige reiche Muslime, die aus ihrer Tasche wenigstens zehn europäische Lehrstühle für europäische Muslime oder europäische islamische Studien finanzieren würden. Das ist ein großes Unglück. Ein weiteres Unglück ist, dass europäische Muslime nicht in der Lage sind, oder nicht gewillt sind, Werke über den Islam zu lesen, die von Nichtmuslimen geschrieben wurden. Ich denke, dass eine geringe Anzahl an Intellektuellen, Studenten und Schülern in Europa weiß, dass Goethe viel über den Islam geschrieben hat, dass Annemarie Schimmel ihr ganzes Leben mit der islamischen Lehre und deren geschichtlichen Verwirklichung verbracht hat. Dann ist da auch Eva de Vitray-Meyerovitch, und viele weitere europäische Größen; Deutsche, Franzosen, Engländer, Russen … Es gibt eine russische  Qur’anübersetzung von Ignatije Julijanovic Krackovski, die nicht nur ein überragendes Werk der Übersetzung ist, sondern auch der russischen Literatur.
Aber wir Muslime denken oft, dass wir uns selbst genügen. Als ob wir nicht wüssten, dass Gott in Seiner Weisheit uns die ganze Welt gegeben hat, sodass jede Religion heute eine Minderheit im Hinblick auf den Rest der Menschheit darstellt. Die Christen sind eine Minderheit in Relation zur restlichen Menschheit, sowie die Muslime eine Minderheit in Bezug auf die Nichtmuslime sind. Dasselbe gilt für die Buddhisten, die Shinto, vor allem für die Juden … Früher haben Muslime sich über andere Religionen belehrt, denn sie erkannten ihre eigene Universalität. Al-Biruni, Ibn-Hazm, Schahrastani, usw. Dies sind muslimische Klassiker, die von den nichtmuslimischen Welten um sie herum gelernt haben. Wir, die heutigen Muslime, oder die meisten von uns, sind zu Sklaven einer Mentalität der Abgrenzung und Verschlossenheit geworden. Mir scheint es, dass wir nie zuvor so gewesen sind. Dazu möchte ich noch eines sagen: Zurzeit übersetze ich den „Fihrist“ (Katalog) von Ibn Nadim ins Bosnische. Das Werk wurde vor elf Jahrhunderten geschrieben. In diesem Katalog sehen Sie ein Bagdad, in dem alle Religionen, Muslime sowie Christen und Juden und Sekten zusammenleben und eine große Zivilisation schaffen, später haben sie Historiker als islamisch bezeichnet. Vergleichen Sie nun das Bagdad des Ibn Nadim (11. Jahrhundert) mit dem heutigen Bagdad in den Trümmern des 21. Jahrhunderts – da kommen Ihnen selbstverständlich die Tränen! Mit all dem möchte ich nur sagen, dass die Lehre über die europäischen Beiträge zur Weltkultur und  Zivilisation ein muslimischer Imperativ sind. Diese Lehre müssen Muslime wie auch die restlichen Europäer, mit dem Bewusstsein über die schrecklichen Geschehnisse der zwei großen Kriege, die in Europa entstanden sind, vollziehen.
Islamische Zeitung: Wie sollten Muslime mit medialen Angriffen und Kritik umgehen? Oft werden der Hidschab und andere Themen, die nicht wirklich relevant sind, genannt und es wird ihnen in den Medien eine Bedeutung zugesprochen, sodass selbst die Muslime ihnen eine größere Bedeutung beimessen, als sie sollten. Müssten wir nicht anders über die Prioritäten unserer Zeit und unserer Umgebung denken?
Enes Karic: Über Prioritäten muss man immer nachdenken. Aber wir sollten dabei eine sufische Methodologie anwenden. Muslime sollten keinesfalls über irgendetwas im Islam auf eine wütende Art streiten. Wir sollten den Islam nicht als etwas Schweres, Fürchterliches, Angsteinflößendes bekunden. Das brauchen weder wir, noch die anderen!
Medialen Angriffen auf den Islam und medialer sowie künstlerischer oder intellektueller Kritik am Islam, oder bestimmten Aspekten des Islams, dürfen auf muslimischer Seite keine zerstörerischen Demonstrationen folgen, oder Gewalt in irgendeiner Form. Nein. Ich bin gegen Gewalt, gegen zerstörerische Versuche, den Islam und seine Werte zu schützen. Wo liegt also die Lösung, werden Sie fragen. Die Antwort liegt in europäischen Gerichten, dem europäischen Recht. Wenn ein Muslim oder eine Muslimin denkt, sie seien aufgrund ihrer Religion diskriminiert worden, sollen sie einen Anwalt einschalten und klagen. Dies gilt auch für die anderen, wenn sie von uns in ihren Rechten verletzt werden.
Des Weiteren erinnere ich daran, dass alle Beleidigungen, die die Gegner Muhammads, Allahs Segen und Frieden auf ihm, gegen ihn gerichtet haben, im Qur’an als Beweise der Offenbarung selbst festgehalten sind. Sie haben ihn unter anderem einen Magier und Dichter genannt, dass er aus der Bibel stehlen würde, usw. Lesen wir aus all dem, dass er darauf gewalttätig reagiert hat? Im Gegenteil, er hat es ausgehalten und gute Werke vollzogen. Er hat unter anderem gefastet und gespendet.
Kommen wir zum Hidschab, wenn Sie schon danach fragen. Auch hier sollte man den Islam nicht als etwas Strenges, Unterdrückendes darstellen. Ich denke, dass die Muslimin, die ihn tragen möchte, ein Recht dazu hat sowie jene, die es nicht möchte, ebenso ein Recht dazu hat. Sie beide sind Musliminnen, auch jene mit ihrem „nackten Kopf“ und ihrer schönen Frisur. Keine der beiden befindet sich außerhalb der Gnade Gottes. Jedoch wird auch die Muslimin ohne Kopftuch der islamischen Tradition nachgehen, wenn sie das Gebet verrichten möchte und, so wie es vorgeschrieben ist, den Hidschab über ihre schöne Frisur legen.
Aber es ist sehr wichtig, hier eine Stelle aus dem Qur’an zu erwähnen, in der es um die Kleidung der Frauen wie auch der Männer geht, die eine enorme Erhöhung darstellt. In Sure 7:26 heißt es: „Aber das Kleid der Gottesfurcht ist besser.“
Als wichtigste Priorität empfinde ich heute die Entspannung des innermuslimischen Dialogs über den Islam. Wir Muslime müssen uns darüber im Klaren sein, dass in der Geschichte schlimme Dinge passiert sind, die irreversibel sind. Beispielsweise hat die Schlacht von Siffin (657) stattgefunden. Man weiß, wer der Mörder Alis, des vierten Kalifen, war. Man weiß, dass er 661 getötet wurde, und man weiß viele andere Dinge. Und, obwohl man diese Dinge weiß, finden viele Muslime keinen Weg, nüchtern auf etwas zu reagieren, was wir nicht ändern können.
Der Ausweg ist nicht ein neues Siffin und Karbala, sondern die Schaffung universeller islamischer Lehren und Botschaften, ein Überbrücken regionaler und lokaler muslimischer Streitigkeiten und Sturheit. Durch die Förderung einer islamischen Universalität können muslimische Intellektuelle, Autoren und Philosophen dem Islam helfen.