Sind wir, was wir essen?

Ausgabe 312

Iftar Nachhaltigkeit
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In einer Welt, die das Heilige kategorisch zurückweist, überrascht es nicht, dass wir nicht in der Lage sind, die Angebote des Lebens mit der gebotenen Heiligkeit zu behandeln. Das Essen ist nach der Umwelt möglicherweise das unglücklichste Opfer dessen. Innerhalb der letzten Jahrzehnte wurde die Kultur des Essens und Trinkens im Westen rapide entweiht. Von Esmé L.K. Partridge

Zuerst kam der Zusammenbruch der Mahlzeit im Familienkreis sowie das einmal übliche Tischgebet zu Beginn. Dem folgte, dass Zubereitung und Nahrungsaufnahme immer mehr vereinfacht wurden im Namen der Einfachheit. Heute können wir uns per Mausklick Nahrung an die Haustür liefern lassen, oder ­sogar mit Zusätzen und Ersatzprodukten ersetzen, die „von Ernährungsexperten anerkannt sind“.

In der zweckdienlichen Ära, in der einfache Rituale des Lebens durch hyper-zweckmäßige Betonung von kommerzieller Produktion und Gewinn ersetzt wurden, wird die wichtige Wertschätzung von Nahrung (ganz abgesehen von der Zeit und Sorge für ihre Zubereitung) ­vernachlässigt. Da die Folgen dieser ­Vernachlässigung durch die Krise der Fettleibigkeit und die Produktion sowie Verschwendung von Lebensmitteln große Probleme für Gesundheit und Klima ­bedeuten, müssen wir die Haltung zu unserem Konsum überdenken.

Ein Text des persischen Universalgelehrten Abu Hamid Al-Ghazali „Über das Verhalten beim Essen“ bietet wertvolle Gesichtspunkte des Themas. Er kann als Inspirationsquelle für unser Nachdenken dienen. Als Theologe und Wissenschaftler widmete sich Imam Al-Ghazali dem Verständnis der natürlichen Welt als einem Ausdruck Gottes. Damit bereitete er einen Weg zur Heiligung eines der alltäglichsten Rituale. Sein Großwerk „Die Wiederbelebung der religiösen Wissenschaften“, dessen Teil dieser Text ist, bietet unter anderem Rechtleitung zur Schaffung von Dankbarkeit dafür, wie wir Nahrung zu uns nehmen.

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Der Text richtet erhebliche Aufmerksamkeit auf die Höflichkeit des sozialen Essens. Das ist in sich relevant, wenn wir bedenken, dass beispielsweise 20 Prozent aller Amerikaner nach eigenen Angaben in ihren Autos essen. Seine Gedanken sind insbesondere stichhaltig bei Fragen wie dem eigenen Kochen oder industriell verarbeiteten Lebensmitteln. Wir lernen, wie sich Essen als bloßer Selbstzweck überwinden lässt.

Selbstverständlich besteht Al-Ghazalis Grundansatz in seinem Verständnis von Nahrung als einer Versorgung durch Allah. Es ist wichtig, dies als die Inspiration hinter seiner Betonung von Dankbarkeit zu erkennen. Diese an sich theologisch schwerwiegende Sache, die mit einem der Namen Allahs (Asch-Schukr, der Dankbare) verbunden werden kann, stellt für ihn „die Hälfte des Glaubens“ (die andere ist Geduld) dar. Er schreibt weiterhin in der Einleitung des Textes, das Essen in sich religiös ist. Es ist eine praktische Notwendigkeit für die Aufrechterhaltung des Körpers – der so zur Anbetung befähigt wird. Auf einer unsichtbaren Ebene ist es eine Segnung Allahs, welche die menschliche Abhängigkeit von Ihm kennzeichnet. In dieser Hinsicht kann Essen als ein Zeichen der göttlichen Eigenschaft des Versorgers (Ar-Razzaq) begriffen werden. Darauf wird in mehreren Qur’anstellen verwiesen:

„Und ein Zeichen ist für sie die tote Erde. Wir machen sie lebendig und bringen aus ihr Körner hervor, sodass sie davon essen (können).“ (Ja Sin, Sure 36, 33)

„So esst von dem, womit Allah euch versorgt hat, als etwas Erlaubtes und Gutes, und seid dankbar für die Gunst Allahs, wenn ihr Ihm allein dient.“ (An-Nahl, Sure 16, 114)

Religion ist hier für die wesentliche ­Basis für Al-Ghazalis Ansatz. Es gibt jedoch keinen Grund dafür, dass seine Anwendung von Dankbarkeit auf das Thema Essen nicht ebenso auf säkulare wie auf spirituelle Ansichten trifft. Er ­erinnert uns an die Komplexität seiner Zubereitung und Aufnahme, die heute so leicht übersehen wird, wenn vorbereitete und verpackte Produkte die Norm sind. Der Gelehrte lädt uns zur Wiederbelebung eines organischen Gleich­gewichts ein, dass sowohl Produzenten wie Verbraucher nutzt. Darin erkennen wir, wie wichtig es ist, eine natürliche Ordnung über unser Verlangen und körperliche Bedürfnisse zu stellen. Ungeachtet des eigenen Standpunktes kann das als entscheidender Schritt zur Überwindung von Ungleichheiten erkannt werden in unserer heutigen Haltung beim Thema Essen.

Eine von Al-Ghazalis zentralen Annahmen besteht darin, dass echte Dankbarkeit durch Aufmerksamkeit erreicht wird. Wahrscheinlich liegt ein Mangel davon an der Wurzel der heute problematischen Beziehung des Westens mit Nahrung. Wir sehen kaum mit eigenen Augen die Prozesse ihrer Kultivierung und Erzeugung. Und wir haben kaum die Gelegenheit, wirklich über ihre Herkunft nachzudenken. Das führt dazu, dass diese Prozesse und damit auch die Lebensmittel selbst allzu leicht als selbstverständlich angesehen werden.

Bevor wir zur praktischen Lösung ­dafür kommen, erinnert Al-Ghazali uns an die Komplexitäten der Lebensmittelproduktion. In einem Kapitel seines Hauptwerkes schreibt er: „Wenn du (es) genau betrachtest, wirst du verstehen, dass ein Laib (Brot) nicht zum Essen ­geeignet ist, bis mehr als tausend Handwerker daran gearbeitet haben. Der ­Anfang liegt beim König, der die Wolken antreibt, um Regenwasser herab zu bringen; dann geht es weiter bis zum letzten Werk der Engel; schließlich geht es zum Werk des Menschen über.“

Um die Arbeit der „eintausend Handwerker“ wertzuschätzen, schlägt Al-Ghazali eine Zahl genauer und doch erzielbarer Wege vor, wie wir Aufmerksamkeit auf unseren Konsum anwenden können. Das Meiste davon bezieht sich auf Geduld und Zurückhaltung. So hält er fest, dass es nicht angemessen sei, auf heißes Essen zu pusten, damit es abkühlen kann. Die meisten von uns tun das unbewusst. Für ihn ein Zeichen für Eile und Ungeduld. Der Imam meint dagegen, man solle geduldig warten, um die Nahrung in angemessener Temperatur zu konsumieren. Wir werden ermutigt, vorsichtiger über das Gegessene nachzudenken, anstatt es nur als ein Mittel zur Befriedigung unseres Hungers zu begreifen.

Andere Vorschläge beinhalten spezifische Rituale für Lebensmittel, die uns zum Essen mit bewusster Absicht anhalten. Anstatt unkontrollierbare Mengen bestimmter Lebensmittel zu sich zu nehmen, schlägt er vor, dass wir sie genau zählen sollten und Praktiken für jedes Mal entwickeln, wenn wir sie essen. Dies geschieht wahrscheinlich aus einem ähnlichen Grundgedanken heraus: Genauigkeit fördert Nachdenklichkeit und sie steigert Dankbarkeit. So schreibt er über Datteln: „Von Datteln soll der Mensch eine ungerade Zahl essen: 7, 11 oder 21, oder wie viele es sein mögen. Er darf die Datteln und ihre Kerne nicht zusammen in eine Schale legen oder in die Handfläche bringen, sondern soll die Steine vom Mund zum Handrücken legen und dann wegwerfen.“

Das mag willkürlich erscheinen. Aber die Anwendung solcher sorgsamen Ritu­ale beim Essen ist eine nötige Vorbedingung für seine echte Wertschätzung. Ohne sie übersehen wir die Komplexitäten der „eintausend Handwerker“ und werden Opfer unseres Verlangens nach sofortiger Befriedigung. Al-Ghazalis ­Ansatz ist ein Kontrast zu den „Erneuerungen“ der Jetztzeit. Sie führen uns in die gegenteilige Richtung zur Aufmerksamkeit. Statt des geduldigen Wartens reizen sie uns, auf Lieferdienste zurückzugreifen, die uns genau jene Mahlzeit bieten, wann wir sie wollen. Das mag praktisch erscheinen, geschieht aber auf Kosten unserer Mangelernährung – sowohl körperlich als auch spirituell.

Diese „Erneuerungen“ sind auch verantwortlich für den Niedergang des Kochens zu Hause. Das ist ein Thema, das zwar nicht explizit von ihm angesprochen wird, aber sowohl im Licht seinear Nachdenklichkeit als auch breiterer theologischer Konzepte betrachtet werden kann. Durch das Kochen werden wir direkt in den Prozess des Handwerks eingebunden. Das ermuntert uns zur echten Wertschätzung der aufgetischten Mahlzeit.

Betrachten wir die Kochkunst durch eine theologische Linse, kann sie als eine Erinnerung an Gott gedeutet werden, indem sie Vielfalt in Einheit wandelt. Mit der Zusammenstellung und Kombi­nation vielfältiger Zutaten nimmt das ­Individuum teil an einem Prozess der Harmonisierung von vielen zu einem.

Ein weiterer Vorteil des heimischen Essens besteht darin, dass sie die künstlichen Zusatzstoffe vermeidet, die in der modernen Nahrung so alltäglich sind und die das Streben nach einem achtsamen Konsum in zweierlei Hinsicht behindern. Al-Ghazali spricht diesen in Anbetracht des historischen Kontextes zwar nicht selbst an. Er kann aber dennoch durch seine Philosophie interpretiert werden.

Erstens trennen sie uns von unbehandelten Zutaten im Austausch für künstliche. Als solche entfernen sie uns von der natürlichen Welt und der Wertschätzung ihrer Angebote. Von einer religiösen Warte aus betrachtet kann dies als mangelnder Respekt gegenüber der Schöpfung gewertet werden.

Zweitens ermutigen künstliche Zutaten zur sofortigen Bedürfnisbefriedigung, vor der Al-Ghazali warnt. Weil verarbeitete Lebensmittel dahingehend gestaltet sind, Endorphine zu produzieren und den Verbraucher anzuziehen, provozieren sie unausweichlich Gefräßigkeit. Dieses, so betont der Gelehrte, kann uns im ­Alleingang dazu veranlassen, auf unsere niedrige Natur zurückzufallen. Er sagte, dass der Essende „sich keinen Kontrollverlust erlauben darf“. Das sind Verhaltensweisen, die sich erheblich leichter vermeiden lassen, wenn wir chemisch verarbeitete Zutaten vermeiden und zum ganzheitlichen Ritual des heimischen ­Kochens zurückkehren.

Was insgesamt von Al-Ghazalis Denken über Essen gelernt werden kann, ist, dass wir ein Gefühl für Dankbarkeit durch die Praxis der Achtsamkeit brauchen. Sie lässt sich durch angewandte Geduld und Absicht kultivieren, wie wir essen und welche komplexen Vorgänge an unserer Nahrung beteiligt sind. ­Idealerweise sind wir an so vielen dieser Arbeitsschritte wie möglich beteiligt. Wenn wir dem folgen, ermöglichen wir ein Gleichgewicht, dank dem die zu uns genommene Nahrung kein Mittel zum Zweck (der sofortigen Befriedigung) ist, sondern eine Feier des Göttlichen und seiner Versorgung.