Srebrenica geschah vor 28 Jahren

Ausgabe 241

Foto: Michael Büker, via Wikimedia Commons | Lizenz: CC BY-SA 3.0

(iz). Srebrenica. Die meisten von uns haben schon einmal diesen Namen gehört. Es ist der Name einer Stadt im Osten von Bosnien und Herzegowina, der um die Welt ging. Man könnte auf die Idee kommen, das Massaker an den bosniakischen Männern dieser Gemeinde sei auf das – wenn man es denn so nennen kann – gewöhnliche Kriegsgeschehen zurückzuführen, welches immer Opfer mit sich bringt. Hier ist aber nichts gewöhnliches passiert. Hinter diesem Namen verbirgt sich eine Ideologie.

Schon 1989, noch bevor der Krieg im ehemaligen Jugoslawien ausgebrochen war, hielt der damalige Präsident Serbiens, Slobodan Milosevic, am 28. Juni, dem „Vidovdan“ (Lazars Tag), auf dem Kosovo eine Rede zum 600. Jahrestag des Todes des serbischen Prinzen Lazar, der auf dem Amselfeld (nahe Pristina) gegen die Osmanen unter Sultan Murad I gekämpft hatte und getötet wurde. Milosevic kündigte vor Millionen Zuhörern einen Kreuzzug gegen die Muslime auf dem Balkan an, den Bosniaken sowie den Albanern auf dem Kosovo. Die Schlacht auf dem Amselfeld wurde seit jeher von serbischen Nationalisten in die Mythologie der serbisch-orthodoxen Kirche eingebunden. Prinz Lazar wurde zu einer neuen Christusfigur emporgehoben, die durch den verfluchten Feind, dem Tüken, dem Muslim, ermordet wurde und gerächt werden müsse.

Es finden sich serbisch-lyrische Werke, in denen Flüche auf jeden Menschen „serbischen Blutes“ verhängt werden, der nicht antritt, um auf dem Kosovo zu kämpfen. Es gibt zahlreiche religiös geprägte Werke, in denen die Feindschaft zu den Türken, mit denen alle Muslime gemeint sind, thematisiert wird. Diesen religiösen Mythos nutzte Milosevic, um die aufgeheizte Stimmung in Jugoslawien gänzlich zu entflammen. Die Muslime auf dem Balkan wurden als Nachfolger der Osmanen zum natürlichen Feind der Christen erklärt, den es auszurotten galt.

Die Ausrottung sollte auf ganz spezifische Art und Weise stattfinden: Erniedrigung und höchstmögliche Qual. Unzählige Frauen wurden vergewaltigt. Nicht etwa, weil dies zur gängigen Kriegstreiberei gehört, sondern insbesondere deswegen, weil aus den Musliminnen „serbischer Nachwuchs“ entstehen sollte.

Seit der Herrschaft der Osmanen galt auf dem Balkan unter Nichtmuslimen die allgemeine Angst, die Muslime vermehrten sich so schnell und in solch hoher Anzahl, dass sie irgendwann die Christen überholen und zur Mehrheit werden würden. Die Vergewaltigungen fanden auf die erschreckendste Art und Weise statt, denn hier kommt der Aspekt der Erniedrigung ins Spiel. Überlebende berichten davon, dass sie vor ihren Ehemännern, Brüdern, Vätern, Müttern, den eigenen Kindern vergewaltigt wurden, bevor diese dann oft selbst ermordet wurden. Andere Frauen berichten, sie wurden gezwungen, ihren Vergewaltiger als ihren alleinigen Gott zu bezeichnen – eine Anspielung auf das islamische Glaubensbekenntnis. Alte Lagerhallen wurden in Bordelle für serbische Soldaten umgestaltet, in denen sie sich an gefangenen Frauen vergreifen konnten. Oftmals wurden die Frauen von mehreren Soldaten gleichzeitig vergewaltigt, täglich, über Monate hinweg. Sollten die Frauen dem entkommen, war man sich sicher, sie würden von der muslimischen Gesellschaft als unrein geächtet, und würden somit nie wieder muslimische Männer heiraten können, und muslimische Kinder zeugen.

Auch Männer wurden im Bezug auf ihren Glauben erniedrigt. So gibt es Aufzeichnungen darüber, wie serbische Soldaten „Yallah!“ rufen, damit die Gefangenen schneller zu den Gräben laufen, in die sie fallen werden, nachdem man ihnen in den Hinterkopf geschossen hat.

Die Systematisierung des Mordens, die während des Jugoslawienkriegs in den 1990er Jahren stattfand, lässt keine Zweifel daran offen, dass es sich hier um einen geplanten Völkermord handelte. Auf serbischer Seite wird dies – zumindest öffentlich – bis heute bestritten. Serbische Politiker weigern sich auch heute noch, anzuerkennen, dass das, was den Muslimen widerfahren ist, mehr als ein Kriegsverbrechen war.

Es gilt hier zu beachten, dass von allen Seiten, auch von Muslimen, Kriegsverbrechen gegen Zivilisten begangen wurden, welche insbesondere aus islamischer Perspektive auf das Schärfste zu verurteilen sind. Um die Begriffe „Kriegsverbrechen“ und „Völkermord“ jedoch von einander abzugrenzen, muss man das gesamte System der Kriegsführung betrachten. Die Konzentrationslager, die man in Bosnien fand, in denen Menschen gefoltert, ausgehungert und vergewaltigt wurden, verdeutlichen das System, unter dem dieser Krieg geführt wurde.

Dieses System ist uns in Deutschland nur allzu bekannt und in schmerzhafter Erinnerung geblieben. Umso verwirrender scheint es, dass bei solch erdrückender Sachlage immer noch eine Verweigerung stattfindet, die begangene Schuld einzugestehen. Hier greift die Mythologie. Nationalistische Serben sind davon überzeugt, die Opfer hätten verdient, was ihnen passiert ist.

Als durch den Einfluss der Osmanen viele Menschen auf dem Balkan den Islam annahmen, sahen viele Christen dies als Verrat am slawisch-christlichen Glauben und somit am slawisch-christlichen Volk an. Verächtlich wurden die Konvertiten „Poturice“ genannt, was so viel wie „Eingetürkte“ heißen soll. Dieser Begriff wird heute noch von kroatischen und serbischen Nationalisten verwendet. Für südslawische Christen gibt es keine Trennung von Nation und Religion. Gehört man einer Nation an, so gehört man auch der dazugehörigen Religion an.

Daher weigerte man sich auf nationalistischer Seite, die Muslime als jugoslawische Bürger muslimischen Glaubens anzuerkennen, sondern verband sie national immer noch mit den Türken. Seit den 1970er Jahren waren die slawischen Muslime in Jugoslawien offiziell aber als Volk unter diesem Namen anerkannt – „Muslimani“. Später änderte man die Volkszugehörigkeit in „Bosniaken“ um.

Ein weiteres Mittel zur geschichtlichen Auslöschung des Islams auf dem Balkan war das Niederbrennen von Moscheen und die Zerstörung der Vijecnica – der Nationalbibliothek Bosniens in Sarajevo. Während der serbischen Belagerung Sarajevos wurde diese 1992 mehrmals mit Granaten beschossen und schließlich, in der Nacht zum 26. August, in Brand gesetzt. Über 80% des Literaturbestands und der Dokumente in der Bibliothek wurden zerstört – Zeugnisse der kulturellen, multiethnischen und religiösen Vielfalt des Landes. Unter anderem waren dort Schriften zu finden, die das Zusammenleben von Juden, Christen und Muslimen unter der osmanischen Herrschaft dokumentierten. Außerdem beinhaltete die Vijecnica Schriften, die in bosnischer Sprache, aber in arabischer Schrift verfasst wurden. Man nannte diese Schreibweise „Arabica“, in der unzählige tief spirituelle, literarische Werke entstanden sind. All dies sollte zerstört werden, um die Geschichte neu schreiben zu können. Auch die Bücherverbrennung ruft in unserem deutschen Bewusstsein erschreckende Assoziationen hervor.

In den Debatten, die während des Krieges geführt wurden, sind Aussagen gefallen wie „denkt nicht, dass ihr Bosnien und Herzegowina nicht in die Hölle führen werdet und das muslimische Volk womöglich ins Verschwinden“. Diesen Satz äußerte der Führer der bosnischen Serben, Radovan Karadzic, gegenüber dem damaligen Präsident Bosniens, Alija Izetbegovic, der die Unabhängigkeit Bosniens von den verbliebenen Teilrepubliken Jugoslawiens anstrebte, da diese die Idee eines Großserbiens in Planung hatten. Er lehnte diese Drohung klar ab und ließ sich nicht auf den Einschüchterungsversuch Karadzics ein. Wenn wir euch also umbringen, weil ihr euch nicht unterdrücken lasst, dann seid ihr an eurem Schicksal selbst Schuld. Dieses Denken ist tief verwurzelt in den Köpfen der Nationalisten, welches es möglich macht, sich von jeglicher Schuld freizusprechen.

Kommen wir zurück zu Srebrenica. Es stellte den traurigen Höhepunkt des Bosnienkrieges dar. In einer noch heute auf Youtube zu findenden Aufzeichnung äußert sich am 11. Juli 1995 der General der bosnischen Serben, Ratko Mladic, zu seinem Vorhaben: „Wir sind hier, am 11.07.1995, in Serbisch-Srebrenica, genau einen Tag vor einem großen serbischen Feiertag, und schenken dem serbischen Volk diese Stadt, denn endlich ist der Moment gekommen, in dem wir uns, nach so vielen Aufständen, an den Türken rächen werden.“

Dass die Stadt zu diesem Zeitpunkt eigentlich als UN-Schutzzone galt, soll hier, um Zynismus zu vermeiden, keine weitere Erwähnung finden, aus Respekt vor den Opfern. Weit mehr als 8.000 Jungen und Männer im Alter von 12 bis 77 Jahren wurden in den darauffolgenden Tagen massakriert.

Srebrenica sollte uns nicht nur als eine Zahl in Erinnerung bleiben. Srebrenica sollte uns mahnen. Nationalismus und die damit verbundenen Ideologien führen in ihren schlimmsten Auswüchsen zu dem, was in den 1990er Jahren auf dem Balkan geschehen ist. Umso deutlicher wird uns Muslimen dadurch, wie konträr sie zum Islam sind. Unsere Antwort auf Feindseligkeit darf nicht die eigene Verstrickung in ideologische Strukturen sein. Unsere Antwort muss immer der Islam sein.

Ein Kommentar zu “Srebrenica geschah vor 28 Jahren

  1. Es ist befremdlich, dass Muslime das Massaker an den Armeniern im Osmanischen Reich nicht in dergleichen Weise würdigen, wie das Massaker an Muslimen in Bosnien-Herzegowina.

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