Streit um Türkeipolitik

Ausgabe 304

BERLIN/PARIS/ANKARA (GFP.com/iz). Heftige Differenzen in der EU über den Umgang mit der Türkei überschatten das derzeitige EU-Außenministertreffen in Berlin. Aktueller Anlass für die Debatte sind die gegenwärtigen Manöver im östlichen Mittelmeer, die auf der einen Seite von den türkischen, auf der anderen Seite von den griechischen Seestreitkräften abgehalten werden.

Ausgelöst wurden die Kriegsübungen durch die Suche der Türkei nach Öl und Gas in Gewässern, die auch von Griechenland in Anspruch genommen werden. Hintergrund des Machtkampfs ist aber auch die Außenpolitik Ankaras, die inzwischen eine maritime Komponente enthält; vom Konzept der „Blauen Heimat“ („Mavi Vatan“) ist die Rede. Während die Bundesregierung weiterhin eng mit der Türkei kooperieren will, unter anderem in der Flüchtlingsabwehr, und deshalb einen Ausgleich zwischen Athen und Ankara sucht, stellt sich Frankreich, das im östlichen Mittelmeer andere Interessen verfolgt, an die Seite Griechenlands.

Nationale Interessen
Die aktuellen Streitigkeiten in der EU über den Umgang mit der Türkei haben einen doppelten Hintergrund. Zum einen ist, wie kürzlich Günter Seufert erläuterte, ein Türkei-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), der traditionelle Rahmen für die Beziehungen zwischen Brüssel und Ankara nicht mehr gegeben: der „Beitrittsprozess der Türkei zur EU“.

Dieser orientierte vor allem darauf, Ankara zur weitreichenden Übernahme des normativen Regelwerks der Union zu bewegen; hinter ihm „konnten sich alle EU-Staaten … versammeln“, konstatiert Seufert. „Dieser Prozess“ sei jedoch „sowohl an der Politik der Türkei als auch an der Haltung der EU gescheitert“. Seit nun das einigende Band fehle, träten die „Partikularinteressen der einzelnen EU-Mitglieder gegenüber der Türkei in den Vordergrund“.

Bei vielen Themen – „Flüchtlingsfrage, Energiepolitik, Rolle der Türkei in Syrien und Libyen“ – bezögen „die einzelnen EU-Staaten im Rahmen ihrer nationalen Interessen unterschiedliche Positionen“. Weit von der gerne beschworenen Einigkeit der EU entfernt, geraten nicht zuletzt die führenden Mächte der Union, Deutschland und Frankreich, über die Türkeipolitik in Streit.

Dies wiegt umso schwerer, als die Türkei in den vergangenen zwei Jahrzehnten einen umfassenden Wandel ihrer Außenpolitik vollzogen hat. Hintergrund ist das rasante Wirtschaftswachstum des Landes seit der Jahrtausendwende: Die türkische Wirtschaftsleistung stieg von 200 Milliarden US-Dollar im Jahr 2001 auf 950 Milliarden US-Dollar im Jahr 2013 an. Dies ging mit der Ausweitung der Auslandsexpansion türkischer Unternehmen einher. Zu bevorzugten Zielen wurden einerseits angrenzende Länder – Syrien, Nordirak –, andererseits entferntere Länder der muslimischen Welt.

Als konzeptueller Rahmen diente zunächst die vom zeitweiligen Außenminister Ahmet Davutoğlu entwickelte Doktrin der „strategischen Tiefe“; heute ist oft von „Neo-Osmanismus“ die Rede. Ein aktuelles Beispiel bieten regierungsnahe türkische Medien, die Ankaras Unterstützung für die libysche „Einheitsregierung“ mit Schilderungen der Rückeroberung von Tripolis, das 1510 von Spanien erobert worden war, durch osmanische Truppen im Jahr 1551 begleiten. Parallel dazu treibt die staatliche türkische Entwicklungsagentur TIKA den Wiederaufbau alter osmanischer Ruinen in Tripolis voran.

„Blaue Heimat“
In jüngerer Vergangenheit hat ergänzend das Konzept der „Blauen Heimat“ („Mavi Vatan“) an Einfluss gewonnen. Seinen Ursprung hat es in Führungskreisen der türkischen Marine, deren Rolle im Kalten Krieg strikt durch die NATO definiert wurde, deren Strategen allerdings spätestens seit den 2000er Jahren – parallel zum Erstarken der eigenständigen türkischen Wirtschaftsexpansion – auch Wege zur Stärkung einer eigenständigen maritimen Politik zu skizzieren begannen.

Wegen geografischer Besonderheiten – vor weiten Teilen der westlichen Küsten der Türkei liegen griechische Inseln, für die Athen jeweils eigene 200-Meilen-Zonen beansprucht, was die türkische 200-Meilen-Zone massiv einschränkt – führt dies tendenziell zum Konflikt mit Griechenland. „Mavi Vatan“ – gemeint ist das türkische Meer – ist mit einem Angriff auf die griechische Maximalposition in der Frage der 200-Meilen-Zonen verbunden.

Gemeinsame Manöver
Die führenden EU-Mächte reagieren unterschiedlich auf die immer aggressivere Politik der Türkei im östlichen Mittelmeer. Frankreich erhöht seine dortige Militärpräsenz und weitet die militärische Zusammenarbeit mit Griechenland und Zypern aus.

Hintergrund sind traditionelle französische Interessen im Nahen Osten, aber auch konkrete Rohstoffprojekte: So hat sich Total gemeinsam mit der italienischen Eni Explorationsrechte für vermutete Erdgaslagerstätten in sieben der 13 Blöcke südlich von Zypern gesichert. Zu Monatsbeginn ist ein neues Militärabkommen zwischen Frankreich und Zypern in Kraft getreten, das gemeinsame Ausbildungsmaßnahmen und Manöver, aber auch Rüstungskooperation umfasst.

Im Februar hatte sich Paris auch mit Athen geeinigt, in naher Zukunft ebenfalls ein Militärabkommen zu schließen; auch dabei soll es um gemeinsame Kriegsübungen sowie um eine engere Rüstungszusammenarbeit gehen. Frankreich hat mittlerweile mehrere gemeinsame Seemanöver mit Griechenland abgehalten; eines davon soll am heutigen Freitag zu Ende gehen. An ihm beteiligen sich auch Zypern und Italien; es ist recht offen gegen die türkischen Explorationstätigkeiten im östlichen Mittelmeer gerichtet.

Brücke nach Nahost
Berlin hingegen setzt weiterhin auf Kooperation mit Ankara. Hintergrund sind nicht zuletzt alte geostrategische Interessen. Die Türkei fungiere nach wie vor als bedeutende „Brücke in den Nahen und Mittleren Osten, in den Kaukasus und indirekt auch nach Zentralasien“, urteilt exemplarisch SWP-Experte Seufert; intensive politische Aktivitäten insbesondere im Nahen Osten seien „ohne oder gar gegen Ankara … nur schwer denkbar“.

Hinzu komme wie bereits seit je, dass die Türkei den Bosporus und damit den strategisch äußerst bedeutenden Zugang zum Schwarzen Meer kontrolliere. Der Bundesregierung gilt zudem eine enge Zusammenarbeit mit der Türkei bei der Flüchtlingsabwehr als unverzichtbar; nicht zufällig geht der Flüchtlingspakt der EU mit Ankara maßgeblich auf deutsche Aktivitäten zurück.

Darüber hinaus gilt es in Berlin als unumgänglich, die weitere Annäherung der Türkei an Russland und womöglich auch an China zu verhindern; dazu muss die Kooperation aufrecht erhalten werden. Tatsächlich wäre ein Bruch mit Ankara ein weltpolitisch gravierender Rückschlag für den Westen, besonders für die NATO.