Suche nach dem Ursprung in der Türkei

Ausgabe 274

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(KNA). Ümüt B. freut sich über das Ahnenregister, das seit Kurzem online ist und Familienstammbäume in der Türkei öffentlich einsehbar macht. „Es hieß immer, meine Urgroßmutter stamme aus Bulgarien“, sagt er. „Jetzt haben wir die offizielle Bestätigung.“ B., der seinen vollen Namen nicht nennen will, hofft nun, von der bulgarischen Regierung einen zweiten Pass zu erhalten – und damit womöglich bald ein Visum für den Schengenraum.
So wie B. geht es zurzeit vielen. Seit dem 8. Februar ist das Ahnenregister im Netz frei zugänglich. Die Aufzeichnungen reichen zum Teil bis ins 19. Jahrhundert zurück, noch in die Zeit des Osmanischen Reiches. Jeder türkische Bürger kann seinen Familienstammbaum einsehen. Die Nachfrage war derart groß, dass die Website nach ihrem Start überlastet war und für einige Tage wieder offline genommen wurde. Kurz darauf folgte ein Relaunch. Mehr als acht Millionen haben den kostenlosen Service bislang genutzt und sich mit Ahnenforschung befasst. Wie B. sehen darin nicht wenige die Chance auf einen Zweitpass und damit einhergehende Vorteile. Vor allem die Generalkonsulate und Botschaften der Balkanländer erwarten für die kommenden Wochen eine Anfragewelle von Türken, die ihre Chancen auf eine zweite Staatsbürgerschaft ausloten wollen.
Kritiker warnen unterdessen vor den Problemen, zu denen das öffentliche Register führen könne. So schrieb die Zeitung „Cumhuriyet“: „Stellen Sie sich vor, Sie denken, Sie seien Vollblut-Türke – und dann finden Sie heraus, dass Sie Armenier sind.“ Andere befürchten Übergriffe nationalistischer Türken und Diskriminierung von Armenisch- oder Griechischstämmigen in der Türkei. Dass das Thema hochsensibel ist, zeigt auch der Fall des 2007 ermordeten Journalisten Hrant Dink. Dink, selbst armenischer Abstammung, sorgte 2004 mit einem Artikel für Aufruhr, der nahelegte, dass Sabiha Gökcen (1913-2001), Adoptivtochter von Staatsgründer Kemal Atatürk, armenischer Abstammung gewesen sei. Das Ahnenregister zeigt aber auch, dass die Frage, wer Türke ist, längst nicht so klar ist, wie es sich manche Nationalisten wünschen.
Viele Kinder, deren Eltern 1915 ums Leben kamen, wurden von türkischen Familien adoptiert. Andere traten zum Islam über und verheimlichten ihre Herkunft. Mit der Gründung der Republik 1923 konnte sich jeder auf dem Staatsgebiet Lebende zur türkischen Staatsbürgerschaft bekennen. Indem man alle in der Türkei Lebenden zu Türken erklärte, hoffte man, sich aller Minderheitenkonflikte entledigen zu können. Tatsächlich ist die Türkei de facto ein Vielvölkerstaat. Im Osmanischen Reich waren die Türken die Titularnation – doch auf dem Staatsgebiet der heutigen Türkei lebten Griechen, Juden, Kurden, Armenier, Aramäer, Georgier, Araber und andere Ethnien. Nach den Balkankriegen, dem Ersten Weltkrieg und den darauffolgenden ethnischen Säuberungen kamen Albaner, Serben, Bulgaren und Bosniaken hinzu. Dagegen verließen fast alle Griechen 1955 das Land.
Warum die Genealogie-Website ausgerechnet jetzt online ging, ist unklar. Kritiker halten den Zeitpunkt für denkbar ungünstig, da das Klima im Land nach dem fehlgeschlagenen Putsch vom Juli 2016 „paranoid“ geworden sei. Andere vermuten hinter der Veröffentlichung einen Versuch, in unruhiger Zeit an die patriotischen Gefühle zu appellieren.