Sulaiman kommentiert verstärkte Neigung zu sachlich falschen und spirituell verheerenden historischen Analogien

Ausgabe 237

(iz). Der Zweite Weltkrieg, und mehr noch die zeitgleiche industrielle Auslöschung ganzer Bevölkerungsschichten, ist voller erschreckender, alptraumhafter Bilder. Für mich vermittelt ein einziges Foto (mutmaßlich aus der Ukraine) ganz besonders den totalen Horror des ungebremsten Mordens: Ein deutscher Polizeisoldat oder ein SS-Mitglied legt aus nächster Nähe auf eine Mutter an, die kurz vor ihrer Erschießung noch ihr Kind schützend wegdreht.

Jetztzeit. Bereits am 27. Januar jährte sich die Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz. Und am 8. Mai erinnert man sich an den 70. Jahrestag der deutschen Kapitulation und der Befreiung vom Nazismus. Keine Frage, das Jahr 2015 ist in dieser Hinsicht symbolträchtig aufgeladen. In beinahe schon erschreckender Zeitgleichheit fühlten sich Juden und Muslime in Europa durch Ereignisse in den letzten Monaten an die ideologisierte Gefahr des letzten Jahrhunderts erinnert.

In Belgien, Frankreich und anderswo wurden jüdische Einrichtungen angegriffen und jüdische Bürger kamen durch die Handlungen terroristischer Verbrecher ums Leben. Parallel dazu wurden in Schweden, in Großbritannien, in Frankreich (nach den Anschlägen auf „Charlie Hebdo“) und in Deutschland Muslime, ihre Moscheen sowie vergleichbare Einrichtungen angegriffen, in Brand gesetzt, oder mit Schmierereien verschandelt. Auch setzen altbekannte Kampagnenblätter weiterhin auf eine aggressive Spielart der „Islamkritik“.

Hierzulande waren es aber nicht nur vereinzelte Vorfälle oder „Anschlagserien“, die Muslime beunruhigen. Das zeitweise Aufkommen der PEGIDA-Bewegung und eine begleitende dumpfe Welle in sozialen Medien führte nicht nur bei Muslimen zu Assoziationen mit den dunkelsten Aspekten der deutschen Vergangenheit. Außer der oft gehörten Zuschreibung des „Nazi!“ (deren Stichhaltigkeit leider selten diskutiert wird) häufen sich weitere unsägliche historische Vergleiche.

Der destruktivste ist die Behauptung, Muslime seien „die neuen Juden“ – zu hören ist er dankenswerterweise nicht von muslimischen Repräsentanten. Hinter vorgehaltener Hand aber, oder in sozialen Netzwerken klingt dergleichen aber durchaus an. Einen Anteil daran haben auch „Projekte“, die sich gezielt der Opferrolle von Muslimen widmen. (An anderer Stelle wäre zu diskutieren, inwieweit die derzeitige Betonung des „Opfers“ Teil der muslimischen Lehre ist, oder nicht) Ein Beispiel: Eine Seite auf Facebook nennt sich gar „Muslimstern“.

Mehrfach ignorant sind solche Ansichten, weil sie die generellen Unterschiede damals und heute außer Acht lassen. Anders als im Falle des Antisemitismus gab es in Deutschland keine jahrhundertelange, aus dem Christentum abgeleitete, tief-unbewusste Aversion gegen Muslime und ihre Religion. Es agierte keine prägende Gestalt wie Luther, deren Ressentiment gegen die jüdische Bevölkerung bis ins 20. Jahrhundert wirken konnte. Und, in den Jahrzehnten vor 1933, regierte auch kein Rechtsstaat, der insbesondere Minderheiten schützen will. Theoretisch unterfüttert (gewiss nicht beabsichtigt) wird die Tendenz von Soziologen und Islamophobie-Experten, die in Muslimfeindlichkeit Parallelen zum antisemitischen Vorurteil erkennen. Mancher sieht eine Analogie zwischen der Lage deutscher Juden im Wilheminismus und heutigen Muslimen (von noch falscheren Vergleichen ganz zu schweigen). Die Folgen liegen auf der Hand: Menschen, die sich in der Rolle der „neuen Juden“ wähnen, werden gewiss noch weniger Anreiz als heute sehen, sich – aus ihrer religiösen Tradition heraus – an einer aktiven Mitgestaltung ihrer Umwelt zu beteiligen und positive Projekte auf den Weg zu bringen.

Spirituell führt das unausweichlich zu Ressentiments gegen die nichtmuslimische Gesellschaft. Wer würde sich dann noch bemüßigt fühlen, was eigentlich eine Pflicht für Muslime ist, seiner Nachbarschaft, derartig unter Verdacht stehend, das Geschenk des Islam zu bringen? In Folge eines politisierend-säkularisierten Welt- und Selbstverständnisses entfernen sich die betroffenen Muslime nicht nur an diesem kritischen Punkt von einer ganzheitlichen, inneren Landschaft des Herzens und vom Wissen der ständig anwesenden Göttlichkeit. Jenseits der Tatsache, dass dieser Vergleich offen falsch und nicht statthaft ist, offenbart er eine Meinung von Allah, die alles andere als eine gute ist.