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Tag der Deutschen Einheit 2023: Kommentar über ein problematisches Wir-Gefühl

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Am Tag der Deutschen Einheit öffnen Moscheen die Tore. Nicht alle sehen das wohlwollend. Andere beklagen ewig gleiche Rituale.

(iz). Der Tag der offenen Moschee findet inzwischen traditionell am Tag der Deutschen Einheit statt. In diesem Jahr luden über 1.000 Gebetshäuser in Deutschland die lokale Bevölkerung zum Austausch ein. Ziel war es nicht nur, Vorbehalte gegen die islamischen Gemeinden abzubauen, sondern auch auf die soziologische Vielfalt der Gläubigen hinzuweisen.

Tag der Einheit auch in Moscheen

Deutsche Muslime mit oder ohne Immigrationshintergrund sind seit Jahrzehnten Teil der Gesellschaft. Sie sind BürgerInnen mit allen Rechten und Pflichten. Darüber hinaus leisten die Moscheen einen beachtlichen Beitrag zur Integration von Flüchtlingen.

In den Medien wird diese Initiative meist wohlwollend begleitet. Aber es gibt Stimmen, die den Organisatoren ideologische Motive unterstellen oder „Trittbrettfahrerei“ vorwerfen und nicht akzeptieren, dass Muslime sich an einem neuen Wir-Gefühl beteiligen.

Pressefoto: igmg.org, X

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Wiederholung der gleichen Rituale

Andere KritikerInnen sehen in den Feiern rund um den Tag der Einheit eine leere Symbolpolitik, die die bestehenden Ost-West Unterschiede-des Landes in einer ewigen Wiederholung des gleichen Rituals überspielen.

Großes Aufsehen hat ein Buch des ostdeutschen Literaturwissenschaftlers Dirk Oschmann erregt: „Der Osten, eine Erfindung des Westens“. Dem Autor geht es in seiner Streitschrift nicht um Identitätspolitik oder die Verfestigung einer Ost-Identität, sondern im Gegenteil um „Des-Indentifizierung“.

Er bezieht sich auf den französischen Sozialphilosoph Jacques Rancière, der für das absolute Recht einer Person oder einer gesellschaftlichen Gruppe eintritt, keine Identität zugeschrieben zu bekommen. 

Auf der sachlichen Ebene erinnert das Buch an Sachverhalte, die das Integrationsprojekt Einheit trotz vieler Erfolge hinterfragen. Es gibt Beispiele: Der Anteil Ostdeutscher in Spitzenpositionen von Wissenschaft, Verwaltung, Jurisprudenz, Medien und Wirtschaft beläuft sich derzeit auf durchschnittlich 1,7 Prozent.

Der Immobilienbesitz in Leipzig liegt bspw. zu 90 Prozent in westlichen Händen. Er beklagt die Unterschiede im Lohnniveau und die Schwierigkeiten im Vermögensaufbau der Bevölkerung.

Assoziationsketten prägen das Bild Ostdeutschlands

Neben diesen Fakten stehen im Mittelpunkt des Buches die Klagen über diverse Assoziationsketten, die aus Sicht des Autors das Bild Ostdeutschlands prägen. Es ist gerade für uns Muslime klar, was gemeint ist: Viele MitbürgerInnen aus dem Westen sehen  – insbesondere wegen der Wahlerfolge der AfD – auf die neuen Bundesländer mit großen Vorbehalten.

Ironischerweise dürften wir aber in dem Sachbuch einige Passagen entdecken, die für uns Muslime aus eigener Erfahrung durchaus nachvollziehbare Phänomene beschreiben. Oschmann beklagt vor allem in den Medien zum Beispiel Zuschreibungsmechanismen, die sich in Vorurteilen, Stereotypen, Ressentiments und Schematisierungen zeigen. Mit anderen Worten: Er erklärt zu Recht dass es die Ostdeutschen oder die Westdeutschen nicht gibt.

VIP-Prediger

Foto: Adobe Stock, Montecillo

Die Medien suchen Zuschreibungen

„Wutbürger, AfD-Wähler, Nazis, Rassisten“, so schreibt er, sind Typisierungen, die von den Medien gezielt gesucht und ausgesucht werden, damit sie im nächsten Schritt als repräsentativ hingestellt werden. Und: „Vor 1989 behauptete der Osten, alle Nazis würden im Westen leben, seit 1989 läuft es andersherum.“

Oschmann erinnert daran, dass die Mehrheit der führenden AfD-Funktionsträger in Thüringen, Sachsen oder Brandenburg aus den alten Bundesländern stammen. Die ostdeutschen Landesregierungen und der Verfassungsschutz hätten lange die Zuwanderung von Rechtsradikalen tatenlos begleitet. Kurzum: Das Problem mit dem Rechtsradikalismus ist für ihn in erster Linie ein gesamtdeutsches Phänomen.

Foto: © Jorge Royan / www.royan.com.ar, via Wikimedia Commons | Lizenz: CC BY-SA 3.0

Oschmann übersieht Migranten und Flüchtlinge

Über das Thema Migranten und Flüchtlinge ist in seinem lesenswerten Buch weniger die Rede. Das ist kein Zufall, sondern hier liegt eine Schwachstelle seiner Argumentation, da diese Fragen die Atmosphäre in Ostdeutschland entscheidend betreffen.

Wie steht es um die Gewalt gegen Muslime in den ostdeutschen Regionen? Warum wurden die PEGIDA und ihre Verschwörungstheorie über die Islamisierung Europas ausgerechnet in Dresden erfolgreich?

Bezeichnend ist in diesem Kontext, wie der Literaturwissenschaftler mit einer der wichtigsten Stimmen Ostdeutschland umgeht. Uwe Tellkamp hatte mit Äußerungen über Flüchtlinge und Islam vor einigen Jahren bundesweit Aufsehen erregt. Es werde laut Tellkamp eine Religion importiert, die „mit unserer Auffassung von Werten, speziell dem Rechtssystem“ nichts am Hut habe.

Eine Aussage, die Millionen Muslime in Deutschland ausgrenzt. Im Buch widmet er der Kontroverse über den Dresdner Schriftsteller und dem Umgang mit pauschalen Vorurteilen leider nur einen Satz, der die angebliche Benachteiligung des Ostdeutschen im Diskurs umschreibt. Die Frage: Sind nicht alle Wissenschaftler und Autoren, unabhängig von ihrer Herkunft oder Religion, gemeinsam aufgerufen, das Niveau der Debatte zu heben und Erfindungen über die jeweils andere, meist konstruierte Identität zu hinterfragen?

Ein Fazit der Lektüre ist klar: Die Einheit der Deutschen, die Akzeptanz der muslimischen Bevölkerung sowie der Umgang mit Zuwanderung werden uns nicht nur die nächsten Tage, sondern weitere Jahrzehnte beschäftigen.