
(iz). Die Hafen- und Hansestadt Hamburg zählt zu den dynamischen Metropolen Deutschlands. Ihre Weltläufigkeit zeigt sich auch in ihren muslimischen Communities, die seit Jahren beispielsweise im Rahmen der SCHURA Hamburg konstruktiv und auf regelmäßiger Ebene zusammenarbeiten.
Hierzu sprachen wir mit Kerim Tokicin, der in verschiedenen muslimischen Zusammenhängen aktiv ist. Derzeit ist der 30-jährige Ingenieur in der Islamischen Hochschulgemeinde (IHG) sowie im Vorstand der SCHURA engagiert.
Islamische Zeitung: Lieber Kerim Tokicin, Sie sind im Vorstand der Islamischen Hochschulgemeinde (IHG) an der Universität Hamburg. Können Sie uns kurz erzählen, wobei es sich dabei handelt und was Ihre Aktivitäten sind?
Kerim Tokicin: Als Islamische Hochschulgemeinde sind wir in vielen Tätigkeitsfeldern aktiv. Angefangen von Seminaren und Fortbildungen über religiöse Themen, aber auch gesellschaftspolitische Themen bis hin zur Vergabe von Stipendien und der Organisation von Bildungsreisen.
Wir kümmern uns auch um die Vergabe von Plätzen unserer Studenten-WGs. Die Arbeit ist sehr umfang- und abwechslungsreich, macht aber unfassbar viel Spaß. Unser Vorstand setzt sich aus ehrenamtlichen Studenten der verschiedenen Universitäten Hamburgs zusammen.
Islamische Zeitung: Muslimische StudentInnen und AkademikerInnen gehören in Deutschland mit zu den aktivsten Netzwerkern der Community. Was ist Ihrer Meinung nach deren Bedeutung und Beitrag für diese?
Kerim Tokicin: Studentische und akademische Netzwerke haben generell den Anspruch Diskurse anzustoßen und auch kritische Themen zu erörtern. Dies ist selbstverständlich auch in der muslimischen Community der Fall. Man tastet sich an Themen heran, die vielleicht in gewöhnlichen Gemeinschaften nicht so bekannt sind oder tabuisiert werden. Das heißt aber noch lange nicht, dass wir die Speerspitze und Vordenker der muslimischen Gemeinden wären. Wir wollen unangenehme Themen nicht nur ansprechen, sondern diese auch in die Tiefe tragen und sie aus islam-theologischer Sicht betrachten. Das ist was anderes als die klassische Predigt beim Freitagsgebet, von der man sich wöchentlich berieseln lässt. Außerdem glaube ich daran, dass eine wachsende Zahl muslimischer Akademiker sich langfristig positiv auf die Gemeinschaft auswirken wird.
Islamische Zeitung: Zum Studienalltag gehört es auch, viel Zeit in der Uni zu verbringen. Wie wichtig ist es dabei für die StudentInnen, auch hier Zugriff auf religiöse Dienstleistungen und Einrichtungen zu haben?
Kerim Tokicin: Wir bekommen immer wieder Anfragen von Studenten, die auf der Suche nach Rückzugsorten für das Gebet sind. Einige Universitäten sind in dieser Hinsicht vorbildlich und stellen Räumlichkeiten zur Verfügung, in denen sich Studenten zurückziehen können. Wir als IHG setzen uns dafür ein, bei Bedarf einen sogenannten Raum der Stille zu eröffnen. Allerdings sind wir da auf die Mithilfe beziehungsweise die Kooperation der jeweiligen Hochschulen und Universitäten angewiesen. Wir können nicht in die Uni gehen und einen Raum beanspruchen. Das funktioniert so leider nicht. Deshalb müssen wir immer auf die Uni und das Präsidium der jeweiligen Hochschule zugehen und unser Anliegen darstellen. Es ist kein Geheimnis, dass man in einer Gesellschaft lebt, in der 70-80 Prozent der Menschen nicht unbedingt tiefgläubig sind, sodass der Bedarf für einen Raum der Stille nicht dringend vorhanden ist. Deshalb sind Muslime meistens erst einmal die einzige Gruppe, die so etwas fordert. Allerdings lassen sich schnell weitere Mitstreiter finden, die so einen Raum sinnvoll finden und nutzen würden.
Islamische Zeitung: Sie sind nicht nur in der IHG aktiv, sondern sitzen auch im Vorstand der SCHURA Hamburg. Was zeichnet diesen Zusammenschluss muslimischer Gemeinden auf Landesebene im Vergleich mit anderen als Alleinstellungsmerkmal aus?
Kerim Tokicin: Seitdem ich Vereinsarbeit mache, gibt es die SCHURA und ich habe sie als selbstverständlich wahrgenommen. Ich war mir der Besonderheit nicht bewusst. Erst, nachdem ich mich mit Freunden aus Berlin oder Köln ausgetauscht habe, merkte ich, wie wertvoll sie ist. Die haben sich beschwert, dass man bei ihnen vor Ort nichts Vergleichbares hinbekommt.
Die SCHURA Hamburg hat etwas Wichtiges geschafft. Das sollte man aufrechterhalten und mit aller Kraft weiterführen, sodass man die Gemeinden weiter zusammenschweißt. Es gibt wie überall auch Uneinigkeiten bei einigen Themen. Im Großen und Ganzen kann man doch von einem erfolgreichen Projekt sprechen. Sie ist die politische Stimme der Hamburger Muslime geworden. Letzten Endes saß sie mit am Tisch, als der Staatsvertrag ausgehandelt wurde.
Islamische Zeitung: Seit beinahe zehn Jahren bestehen eben dieser Vertrag zwischen dem Hamburger Senat einerseits und andererseits der DITIB, der VIKZ und der SCHURA. Könnten Sie eine Bilanz ziehen?
Kerim Tokicin: Da mein Vater Bestatter ist, habe ich die Auswirkungen des Vertrags unmittelbar zu spüren bekommen. Auf dem Friedhof gab es plötzlich einen Bereich um die Waschung zu vollziehen und eine Fläche um das Totengebet zu verrichten. Das klingt selbstverständlich, war es jedoch bis zum Staatsvertrag nicht. Vieles hat sich verbessert.
Die Wahrnehmung der SCHURA sowie der muslimischen Gemeinden in der Hamburger Politik gewann auf ein anderes Niveau. Um nur einen Punkt zu nennen: Die Anerkennung der muslimischen Feiertage in Schulen und auf den Arbeitsstätten ist zur Normalität geworden. Früher wurde über so etwas hitzig bei Lanz diskutiert. Nach zehn Jahren Staatsvertrag kann man sagen, dass mindestens eine Generation damit aufgewachsen ist, es kennt und für selbstverständlich hält. Das hinterlässt Eindruck bei der nichtmuslimischen Bevölkerung als auch bei der muslimischen. Es gibt immer wieder Dinge, die dazu führten, dass einige politische Parteien meinten, sie müssten das Ganze revidieren. Man sollte sich zusammensetzen und die letzten Zehn Jahre bewerten, aber niemand hat gesagt, dass das einfach wird. Es ist ein wichtiger und richtiger Schritt, mit dem man ein gemeinsames Miteinander in Deutschland gestaltet.
Islamische Zeitung: Zu den gewohnheitsmäßigen KritikerInnen des Staatsvertrages gehören CDU-Politiker. Wie gehen Sie mit den Vorwürfen um und bestehen direkte Kontakte?
Kerim Tokicin: Der Staatsvertrag wurde damals mit dem ersten Bürgermeister Ole von Beust (CDU) ins Leben gerufen, unterzeichnet wurde er von dem jetzigen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), damals noch Bürgermeister Hamburgs. Wichtig ist, dass man den Staatsvertrag nüchtern bewertet und auswertet. Wir nehmen ernstgemeinte Kritik auf und bewerten dies natürlich. Wer hier allerdings verzichtet an einem Tisch über die Dinge zu diskutieren, betreibt Populismus.
Islamische Zeitung: Ein großer Anteil der politischen Arbeit von MuslimInnen findet auf Bundesebene statt. Aber interessanterweise finden viele für Muslime relevante Entscheidungen – von Baurecht zu Schulrecht, Seelsorge, Friedhofsordnung etc. – auf Länderebene statt. Hamburg hat den Vorteil, Kommune und Land in einem zu sein. Haben Sie das Gefühl, dass die muslimischen Communities das ausreichend miteinbeziehen?
Kerim Tokicin: Von Hamburg aus betrachtet kann ich sagen, dass man hier versucht, viele Bereiche abzudecken. Dinge wie muslimische Grabfelder oder islamische Seelsorge entwickeln sich hier. Das ist ein Punkt der Vereine, die hier arbeiten, dass sie sich in diesen Bereichen klare Ziele setzen und versuchen, ihre Wünsche und Forderungen durchzusetzen. Viele Punkte wurden auch im Staatsvertrag festgehalten.
Wie das im Rest von Deutschland, vor allem in den flächenmäßig größeren Bundesländern ist, kann ich nicht bewerten.
Islamische Zeitung: Nach verschiedenen Angaben leben in Hamburg derzeit rund 140.000 MuslimInnen. Mit 8,9 Prozent der Einwohner ist ihr Anteil an der Stadtbevölkerung nicht viel kleiner als der in Berlin. Im Gegensatz zur Hauptstadt stehen die Communities und Kieze seltener im Blickpunkt negativer Aufmerksamkeit. Woran könnte das liegen?
Kerim Tokicin: Schwierige Frage… das könnte viele Gründe haben: einer davon ist sicherlich, dass die SCHURA sehr früh entstanden ist. Seit 1999 versuchen die muslimischen Gemeinden sich unter einem Dach zu formieren. Man hat hier früh den Kontakt zu Politikern aufgenommen. Ich kann mich erinnern, dass Ole von Beust damals als erster Bürgermeister mit Ramazan Ucar und Ahmet Yazici zum Iftar-Empfang in der Merkez Camii war. So was befördert das gegenseitige Vertrauen und baut Vorurteile auf beiden Seiten ab. Ich weiß gar nicht, seit wie vielen Jahren es schon den Iftar-Empfang des BIG gibt. Dort kommen die Freunde und Kooperationspartner zusammen und tauschen sich bei einer schönen Atmosphäre aus. All das sorgt dafür, dass Spannungen abgebaut werden und Politik auch früher auf Hilferufe reagiert, bevor es dann so endet wie in Berlin.
Islamische Zeitung: Lieber Kerim Tokicin, Hamburgs MuslimInnen machen – so zumindest unsere subjektive Wahrnehmung – einen frischen und dynamischen Eindruck. Profitieren sie von den maritimen und weltstädtischen Traditionen der Hansestadt?
Kerim Tokicin: Das freut mich zu hören. Wir versuchen das Hamburger Mantra „die schönste Stadt der Welt“ zu leben. Ich habe das von vielen Muslimen gehört, die von außerhalb kommen. Woher die „Frische und Dynamik“ kommt, kann ich so pauschal nicht beantworten. Sicherlich gehört dazu, dass man zum Beispiel in einer ursprünglich türkisch geführten und gegründeten Gemeinde mal einen pakistanischen Imam hatte. Das war selbstverständlich und keiner hat sich beschwert. Vielleicht bin ich auch Teil dieses Wandels. Ich bin so aufgewachsen und habe es nie anders kennengelernt. Hamburg ist keine große Großstadt wie Berlin. Jeder geht in jede Moschee, man kennt sich. Auch das steigert die Dynamik.
Islamische Zeitung: Vielen lieben Dank für das Interview.