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OIC-Delegation soll mit Taliban über Frauenrechte sprechen

Ankara (AA/iz). Die Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC) plant die Entsendung einer Delegation nach Afghanistan, um mit der Taliban-Regierung über das Recht von Frauen auf Bildung und Beschäftigung zu sprechen. Die Organisation sprach von Besorgnis über jüngsten Beschränkungen.

Im vergangenen Monat hatte die Taliban-Übergangsregierung Mädchen den Besuch von Universitäten untersagt und Frauen von der Arbeit in lokalen und internationalen humanitären Organisationen sowie von der Teilnahme an politischen Aktivitäten ausgeschlossen.

„Wir sind bestrebt, ein zweites Team von Ulama nach Afghanistan zu entsenden, um den Dialog über die Entscheidung, afghanischen Frauen das Recht auf Bildung und Beschäftigung vorzuenthalten, fortzusetzen“, erklärte OIC-Generalsekretär Hissein Brahim Taha.

Der Dialog solle sich auf Maßnahmen konzentrieren, die afghanischen Mädchen und Frauen ihre Grundrechte auf Bildung, Beschäftigung und soziale Gerechtigkeit vorenthalten. „Diese Rechte sind für die islamische Welt von höchster Priorität.“

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Taliban und China wollen gemeinsam Ölfeld erschließen

China

Kabul (dpa/iz). Die in Afghanistan herrschenden Taliban wollen mit millionenschwerer chinesischer Investition ein Ölfeld erschließen. Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz in der Hauptstadt Kabul unterzeichnete der Minister für Bergbau und Petroleum am Donnerstag eine entsprechende Vereinbarung mit chinesischen Vertretern, wie der Sender Tolonews berichtete.

Demnach sollen Erdölvorkommen in drei nördlichen Provinzen im Amudarja-Becken erschlossen werden. Das chinesische Unternehmen CAPEIC plant dem Bericht zufolge im ersten Schritt 150 Millionen US-Dollar zu investieren. Rund 3000 Arbeitsplätze sollen durch das gemeinsame Projekt geschaffen werden. Die Taliban-Regierung erhalte zunächst eine Gewinnbeteiligung von 20 Prozent. Es ist das größte geplante Wirtschaftsprojekt seit ihrer Machtübernahme.

Afghanistan hat große Rohstoffvorkommen, die in den vergangenen vier Jahrzehnten wegen des militärischen Konflikts kaum erschlossen werden konnten. Der Gesamtwert könnte sich laut Schätzungen auf eine Billion Dollar (rund 940 Milliarden Euro) und mehr belaufen. Bisher fehlt allerdings die Infrastruktur wie Straßen, Schienen und ausreichend Stromkapazitäten, um die Vorkommen im großen Stil auszubeuten. Afghanistans Binnenlage und die zerklüftete Landschaft erschweren Abbau und Export.

Ein Anschlag auf ein Hotel mit chinesischen Geschäftsleuten erschütterte jüngst wieder das Vertrauen. Die Taliban hatten nach ihrer Machtübernahme im August 2021 versprochen, für mehr Sicherheit zu sorgen. Immer wieder kommt es jedoch zu Anschlägen, insbesondere durch die Terrormiliz Islamischer Staat (IS). Bereits vor der Machtübernahme hatte der chinesische Außenminister Wang Yi eine Taliban-Delegation zu Gesprächen nach Tianjin in China eingeladen.

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Europäische Muslime fordern das Recht auf Bildung und Wissen für afghanische Mädchen

Rom (EULEMA/iz). Am 27. Dezember veröffentliche die NGO EULEMA (Europan Muslim Leaders Majlis) eine Stellungnahme über jüngste Maßnahmen der in Afghanistan regierenden Taliban, Mädchen und Frauen aus allen Bereichen der höheren und akademischen Bildung auszuschließen. Der zuständige Minister, Nida Nadim, wies diesen Wissenserwerb von Frauen zurück, weil er angeblich gegen „islamische und afghanische Werte“ verstoßen würde.

Bereits zuvor wurde diese Entscheidung durch die Organisation für islamische Zusammenarbeit (OIC) zurückgewiesen: „Die OIC kann die Entscheidung nur verurteilen und fordert die Behörden in Kabul auf, sie rückgängig zu machen, um die Übereinstimmung zwischen ihren Versprechen und den tatsächlichen Entscheidungen zu gewährleisten.“ Die jetzige afghanische Regierung hätte für ihren Entschluss keinen Rückhalt bei Mitgliedsstaaten oder muslimischen Organisationen.

EULEMA bekundete in dem Schreiben „unsere Solidarität mit allen Gläubigen und Bürgern, einschließlich unserer Schwestern und ihrer Familien in Afghanistan, für Bildung, Menschenrechte, Religionsfreiheit und Würde“. Muslimische Gelehrte wie Mustafa Ceric und andere seien „sehr darauf bedacht“, eine authentische Lesart des Islam mit universellen Aspekten wie das Recht auf Bildung zu verbinden. „Es darf keinen künstlichen Missbrauch der Schari’a geben.“

Für 2023 kündigte der Rat die Schaffung von Arbeitsgruppen an. Diese sollen „radikalen und ideologischen“ Fehlinterpretationen entgegenwirken.

Unterzeitung wurde die Stellungnahme unter anderem von Mustafa Ceric (Bosnien, Amina Baghajati (Österreich) und Abdassamad El Yazidi (Deutschland).

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Lage in Afghanistan: Familien bieten Kinder aus Verzweiflung zur Heirat an

Bonn (CARE). Ein neuer Bericht der Hilfsorganisation CARE zeigt, dass sich die Situation für Frauen und Mädchen in Afghanistan zunehmend verschlechtert. Durch die aktuelle Wirtschaftskrise und Nahrungsmittelknappheit ist die Zahl der Früh- und Zwangsehen in den vergangenen Monaten stark angestiegen. Zwölf Prozent der für den Bericht befragten Haushalte gaben an, eine ihrer minderjährigen Töchter verheiraten zu müssen, um die Familie ernähren zu können. Rund 90 Prozent aller Befragten berichteten, dass ihr Haushaltseinkommen seit August 2021 stark zurückgegangen sei.

„Stellen Sie sich vor, Sie müssten ihre junge Tochter verheiraten, um das Überleben der restlichen Familienmitglieder sichern zu können. Das ist herzzerreißend und sowohl für die Mädchen als auch die Familien eine Katastrophe“, erklärt Karl-Otto Zentel, Generalsekretär von CARE Deutschland. „Ohne Einkommen können Frauen keine nahrhaften Lebensmittel kaufen, notwendige medizinische Hilfe in Anspruch nehmen oder in einer angemessenen Unterkunft leben. Die internationale Gemeinschaft muss jetzt handeln, um eine weitere Verschlechterung der humanitären Lage und Ernährungsunsicherheit zu verhindern.“

Etwa 80 Prozent der befragten Frauen gaben an, dass sie in den zwei Wochen vor den Interviews mindestens eine Mahlzeit ausfallen lassen mussten. Viele gaben ihre Essensportionen an ihre Kinder ab, weil sie sich nicht genügend Lebensmittel für alle Familienmitglieder leisten konnten.

Für den Bericht befragte CARE 345 Frauen in städtischen und ländlichen Gemeinden in neun Provinzen Afghanistans und führte ausführliche Interviews mit Frauen, Fokusgruppendiskussionen mit Männern, Interviews mit Fachleuten für Ernährungssicherheit und humanitären Akteur:innen durch. Gleichzeitig wurden vorhandenen Daten aus unterschiedlichen Quellen seit August 2021 überprüft.

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Menschenrechtler fordern: Abschiebungsstopp in Kriegs- und Krisengebiete beschließen

Grenze migration

Amnesty International fordert die Innenminister anlässlich ihrer am Mittwoch beginnenden Herbsttagung auf, Abschiebungsstopps in Kriegs- und Krisengebiete wie Syrien und Afghanistan zu beschließen. Zudem plädiert die Menschenrechtsorganisation für umfassende Landesaufnahmeprogramme, um den Nachzug gefährdeter Afghan_innen zu ihren Verwandten zu gewährleisten.

BERLIN (Amnesty International). Amnesty International forderte von der Innenministerkonferenz, einen Abschiebungsstopp nach Syrien und Afghanistan zu beschließen. Markus N. Beeko, Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland, sagte: „Die Lage in Afghanistan und Syrien ist weiterhin so katastrophal, dass niemand aus Deutschland dorthin abgeschoben werden kann. Das Argument, es brauche keinen Abschiebungsstopp, weil de facto gerade nicht abgeschoben wird, lässt völlig außer Acht, dass die Unsicherheit gerade für mehrfach traumatisierte Geflüchtete mehr als zermürbend ist.“

Die Menschenrechts- und Sicherheitslage in Afghanistan und Syrien mache einen generellen Abschiebungsstopp unerlässlich. In Syrien seien besonders abgeschobene Geflüchtete gefährdet, wegen des vermeintlichen „Überlaufens zum Feind“ ins Visier genommen zu werden. Amnesty International dokumentiert in dem im September veröffentlichten Bericht „You are going to your death“, wie syrische Rückkehrer_innen gefoltert, misshandelt und willkürlich verhaftet wurden. Syrische Geheimdienstmitarbeiter ließen sie teils verschwinden oder verübten sexuelle Gewalt an den ehemals Geflüchteten.

Beeko sagte hierzu: „Es gibt keine sicheren Regionen in Kriegs- und Krisengebieten, vor allem nicht für abgeschobene Geflüchtete. Wir appellieren an die Innenminister und -senatoren, für alle Menschen aus Syrien und Afghanistan, die in Deutschland sind, endlich Rechtssicherheit zu schaffen, indem Abschiebungsstopps für beide Länder beschlossen werden.“

Zusätzlich bedarf es umfassender Landesaufnahmeprogramme für afghanische Flüchtlinge. Auf diese Weise kann auch der Nachzug von Angehörigen außerhalb der Kernfamilie ermöglicht werden.

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„IZ-Begegnung“ mit Emran Feroz über die Bedeutungen der Ereignisse in Afghanistan

(iz). Der Autor und Journalist Emran Feroz wurde 1991 als Kind afghanischer Eltern im österreichischen Innsbruck geboren. Feroz, der sich auch als „Austroafghane“ bezeichnet und 2021 mit dem Concordia-Preis für eine Reportage ausgezeichnet wurde, erwies sich in den letzten Jahren als hellsichtiger Kritiker des „War on Terror“, des fragwürdigen weltweiten Einsatzes von Kampfdrohnen in aller Welt sowie der westlichen Politik in Afghanistan, das er regelmäßig und vor Ort bereiste.

Kurz vor dem Fall Kabuls an die Taliban hat Emran Feroz sein drittes Buch veröffentlicht: „Der längste Krieg“. Darin beschäftigt er sich mit dem beinahe 20-jährigen Militäreinsatz des Westens am Hindukusch, seine humanitären Kosten und warum er schlussendlich gescheitert ist. Mit ihm sprachen wir über das Land seiner Eltern, eine vom Krieg zerrissene Gesellschaft sowie über mediale Stereotypen und Fehleinschätzungen.

Islamische Zeitung: Lieber Emran Feroz, was bedeuten die Ereignisse der letzten Wochen und Monate für die Afghanen und ihr Land? Was leitet sich daraus für Sie ab?

Emran Feroz: Es ist so eine Sache, für die Afghanen zu sprechen. Zum Beispiel gibt es genug Provinzen, in denen der Abzug schon vor Jahren stattgefunden hat. Die verbliebenen Truppen, die jetzt gingen, waren ein paar tausend Mann. Und das wurde jetzt alles in jederlei Hinsicht mit den ganzen Evakuierungskommissionen so schlecht koordiniert. Wir konnten das bei den letzten US-Soldaten sehen, die am Flughafen Kriegsgerät und Helikopter zerstört haben, damit die Taliban sie nicht benutzen können. Die mit ihnen verbundenen Bilder, als sie von den Taliban zum Abflug eskortiert wurden, dokumentieren in jederlei Hinsicht einfach ein totales Versagen.

Was das jetzt für viele Afghanen bedeutet, lässt sich schwer zusammenfassen. Ich denke, dass dieses Kapitel abgeschlossen wurde und viele gleichzeitig jetzt in eine sehr ungewisse Zukunft blicken. Afghanistan als Staat kann ohne ausländische finanzielle Hilfe nicht überleben. Und von dieser Hilfe sind Millionen abhängig. Das sind jetzt die Sorgen, mit denen sich eigentlich die meisten sowohl auf dem Land als auch in den Städten beschäftigen. Und diese anderen Sachen, von denen man in diesen Tagen in Medien hört, wie individuelle Freiheiten, Menschen- und Frauenrechte, kommen noch hinzu. Was den Großteil der Gesellschaft vereint, ist einfach, dass man eigentlich vor einer humanitären Katastrophe steht und dass die verhindert werden muss. 

Islamische Zeitung: Es gibt verschiedene Organisationen, die in den letzten Wochen davon sprachen, dass rund 12 Millionen Menschen vor Lebensmittelunsicherheit stünden und zwei Millionen Kinder akut mangelernährt seien. Was sagen Ihre Kontakte vor Ort über die akute Belastung der Menschen?

Emran Feroz: Ja, das ist so. Heute haben die Taliban ein exemplarisches Bild aus dem Präsidentenpalast gepostet. Auf dem sieht man, wie sie auf dem Boden essen. Das sah sehr wie ein durchschnittliches afghanisches Essen aus – also Gemüse, ein bisschen Fleisch. Und die haben das natürlich inszeniert. Die Botschaft lautet: Wir sind nicht wie die alten Eliten, sondern sitzen alle auf dem Boden. Und der Führer sitzt ja auch da. Und wir essen alle das Gleiche. Viele haben kritisiert, dass es momentan viele gibt, die bald gar nichts mehr zu essen haben. Es gibt Regionen Afghanistans, in denen Hungersnot herrscht. Das sind Gegenden, die total isoliert sind, oder die von den Taliban besetzt wurden, wo die Nahrungsmittelreserven ausgehen. In der Region Pandschir, die offiziell von den Taliban erobert wurde, aus der aber noch Kämpfe berichtet werden, ist die Informationslage sehr undurchsichtig. Es ist sehr unklar, was da eigentlich passiert. Das liegt auch daran, dass sie keine Medien hereinließen. Irgendwie sind von dort trotzdem Berichte durchgesickert, wonach die Nahrungsmittel ausgehen und dass sich die Menschen nur noch von Brot und irgendwelchen Resten ernähren. Und ich denke schon, dass in vielen Regionen des Landes das Ganze immer mehr auf so eine Richtung zusteuert, wenn nicht bald Hilfe von außen das Land erreicht.

Islamische Zeitung: Das heißt, Sie würden aus Ihrer Sicht auf die Dinge auch dafür sein, dass es zumindest minimale Gespräche gibt und dass die Hilfslieferungen und -projekte weitergehen können?

Emran Feroz: Ja, auf jeden Fall. Und noch einen Zusatz zur letzten Frage: Natürlich sind auch die Preise für Grundnahrungsmittel und so weiter gestiegen. Sie sind höher als sonst und viele stehen unter Druck. Man merkt auch, dass vielen Bargeld ausgeht. Wir sahen, was vor den Banken, Western Union und MoneyGram los war. Viele Afghanen haben bisher Geld aus dem Ausland bekommen. Die meisten haben Verwandte im Ausland und sind gerade sehr von ihnen abhängig. Auch für mich war es in den letzten Tagen schwierig, ihnen Geld zu schicken. Mittlerweile sind sie wieder geöffnet, aber dort ist im Moment die Hölle los.

Es ist jetzt so, dass sie an der Macht sind und es darf nicht der Fehler gemacht werden, den man in den 90ern gemacht hat, nämlich das Land – was die Taliban natürlich selbst zu verschulden hatten – wieder in eine Isolation zu treiben. Die Bevölkerung wurde kollektiv bestraft. Und genau das darf sich jetzt nicht wiederholen. Dass die Taliban an der Macht sind, hat viele Gründe und hat auch Gründe in Teilen der Bevölkerung. Im Großen und Ganzen hatten die Afghanen mit dem Abzug und dem Friedensdeal nicht viel zu tun. Es wäre meiner Meinung nach nicht in Ordnung, wenn sie jetzt alle sanktioniert werden würden. Es ist ein Unterschied, wie man mit den Taliban umgeht und der Bevölkerung im Ganzen. Und wenn man da jetzt Hilfslieferungen stoppt oder das Land sanktioniert, bestraft man in erster Linie die Bevölkerung. 

Islamische Zeitung: Sie sind Journalist und beobachten, was im Land vor sich geht; aber auch, was hier im Westen geschrieben wird. Beinahe schon wütend machte es, dass direkt ab dem 16. August von „unserer Niederlage in Afghanistan“ gesprochen wurde. Geopolitisch und militärisch mag das eine Niederlage gewesen sein, obwohl es de facto seit 2014 keinen Kampfauftrag mehr in Afghanistan gab. Ist das nicht eine unheimliche Egozentrik, dass man das so sagt und die Niederlage der Afghanen selbst verschweigt?

Emran Feroz: Ja, natürlich. Das ist ein Problem, das sich durch die jüngste Berichterstattung gezogen hat. Man sprach von „unserer Niederlage“ und „unseren Soldaten“. Und man hat sich gleichzeitig für wichtige Fehlentwicklungen gar nicht verantwortlich machen wollen und wiederum die Afghanen beschuldigt. Das klingt an in Sätzen wie: Wir haben unser Bestes gegeben, aber die afghanische Armee wollte nicht kämpfen. Die meisten Menschen, die in diesem Krieg gelitten haben, die vor Ort gekämpft und viele Opfer gebracht haben, waren Afghanen. Die Armee wurde in den letzten Jahren, Monaten und Wochen im Grunde verpulvert. Man hat arme Männer in den Krieg geschickt und gleichzeitig mit Leuten zusammengearbeitet, die korrupt waren und sich persönlich bereicherten.

Islamische Zeitung: Es gibt Stimmen, die dieses Narrativ, die afghanische Armee und Polizei hätte nicht gekämpft, geradegerückt haben. Ab 2014 lag die Hauptlast der Bodeneinsätze bei Armee und Polizei. Sie haben mindestens 74.000 Tote zu verzeichnen gehabt. Dass sie nicht gekämpft hätten, ist so nicht wahr, oder?

Emran Feroz: Genau richtig. Allein die Anzahl der Todesopfer der Sicherheitskräfte war in den letzten Jahren mindestens drei bis viermal so hoch wie die der Zivilisten. Das war mindestens eine fünfstellige Zahl, die jedes Jahr zustande kam. Es wurde gekämpft, obwohl grundlegende Dinge fehlten. Das letzte Mal habe ich im Frühling afghanische Soldaten an der Front gesehen. Denen fehlt es an allem Möglichen. Sie wurden auch nicht regelmäßig entlohnt und haben trotzdem gekämpft. Das war zum Beispiel in einer Provinz im Nordosten, aus der die Amerikaner vor fast 10 Jahren abgezogen sind. Und dort hat für diese Menschen der Abzug keine große Rolle gespielt, weil die meisten sowieso schon allein waren. Aber gleichzeitig hat man gemerkt, wie tief die Gräben zwischen diesen Soldaten und den herrschenden Politikern waren. Es ist auch verständlich, wenn sie irgendwann kampfesmüde wurden und sich sagten: Okay, ich kann nicht mehr. Wieso schickt Person X nicht ihre Kinder? Die sind alle im Ausland und studieren.

Islamische Zeitung: … beziehungsweise betreiben Restaurants in Dubai, von denen Sie einige Fälle beschrieben haben… 

Emran Feroz: Richtig. Genau diese Perspektive wird gerne ausgeblendet. Man sucht gerne die Schuld bei anderen und redet von der eigenen Niederlage, obwohl man gar nicht versteht, was die letzten und auch die kommenden Jahre eigentlich für die meisten Afghanen bedeuteten und weiterhin bedeutend werden.

Islamische Zeitung: Wenn man Erinnerungen westlicher Soldaten liest, die 2007 oder 2008 in Helmand oder Kandahar eingesetzt waren, sprechen diese von teilweise intensiven und blutigen Gefechten. Wie sah der innerafghanische Krieg aus? War das eine sehr blutige Angelegenheit? 

Emran Feroz: Ja. Allerdings auf beiden Seiten; Sowohl von Seiten der Taliban als auch der Armee und verschiedenen Milizen, die in den letzten Jahren aufgebaut wurden. Das hat sich in manchen Gebieten auch auf verschiedene Stammesfehden und damit verbundenen Strukturen bezogen. Es konnte dort wie (???) beschrieben werden, wenn in einem Dorf Talibankämpfer oder ein Kommandeur vermutet wurde und das ganze Dorf blindlings bombardiert wurde, zu vielen Toten kommen. Auf der anderen Seite hat sich Vergleichbares ereignet, wenn die Taliban irgendeinen Ort erobert haben. Dann konnte die ganze Verwandtschaft von Angehörigen eines Soldaten oder eines Mitglieds des Sicherheitsapparates getötet werden. Es gab zusätzlich viele verschiedene Strukturen. Nicht nur die afghanische Armee, sondern die Polizei sowie verschiedene Milizen, die von der CIA aufgebaut wurden und einen Geheimdienst mit eigenen Milizen, sodass es zum Teil sehr unübersichtlich war. Man hat oft Exempel statuiert und sich gegenseitig massakriert.

Islamische Zeitung: Es wird häufig so gesprochen, als wären die Afghanen in den letzten 20 Jahren keine Akteure gewesen. Das sind Menschen, die haben gehandelt, die haben sich gefreut, haben gelitten, sind gestorben und haben gelebt. Also braucht es da nicht auch einen Perspektivwechsel, der den Menschen vor Ort keine Handlungsfähigkeit abspricht?

Emran Feroz: Das ist ganz wichtig, weil man in den letzten Jahren in vielen Analysen bis jetzt sieht, dass das immer noch oft versucht wird. Es wird versucht, Probleme mit irgendwelchen Verschwörungstheorien zu externalisieren. Da gibt es viele Fake News. Ich habe ja den Fall Pandschir beschrieben. Da hat sich in den letzten Tagen viel Aufmerksamkeit drauf gerichtet. In den ersten Tagen nach der Stürmung durch die Taliban haben Propagandisten der Gegenseite Gerüchte gestreut von pakistanischen Drohnen und Einsatzkräften, die die Taliban unterstützt hätten. Es wird ja von einer Taliban-ISI-Achse gesprochen, wonach Pakistan die Taliban unterstützt und auch in den 90er Jahren unterstützt hat. Das ist ein offenes Geheimnis, aber oft wird es dann so vermengt, dass am Ende selbst viele Afghanen denken, diese Taliban seien eigentlich gar keine Afghanen, sondern wie Aliens von einem anderen Ort. Man sagt dann, dass seien Pakistaner oder Punjabis. Ich habe unter den Taliban bisher keinen einzigen Pakistaner oder Punjabi getroffen. Da herrscht oft ein verzerrtes Bild. Das wurde dann alles als Fake News entblößt, die indische Medien gestreut haben. Jeder seriöse Beobachter weiß eigentlich sofort, was Sache ist. Aber viele sind leider darauf reingefallen. Das ist nur ein aktuelles Beispiel, was sich jetzt wiederholt hat. Ein Grund hierfür war, dass man den Menschen diese Handlungsfähigkeit und die eigene persönliche Agenda aberkannt und sie auch nicht wirklich gekannt hat. Auch, wie die Taliban die ganzen Provinzhauptstädte und Kabul einnehmen konnten, hat viele überrascht, weil sie einfach nicht einsehen wollten, dass diese Leute nicht irgendwelche Ausländer sind, die von irgendwo herkommen, sondern Menschen aus diesem Land. Irgendwie muss man damit klarkommen. Anstatt das zu machen, wurde man halt von dieser Realität und von vielen anderen eingeholt. 

Islamische Zeitung: Wir sind darauf angewiesen, komplexe Vorgänge mit einer langen Geschichte in Form von Bildern zu erklären. Derzeit werden über Afghanistan sehr viele stereotype Bilder gezeichnet mit Begriffen wie „Mittelalter“, „Moderne“ und ähnlichem. Dabei dauert die oft gewaltsame „Modernisierung“ und Zentralisierung Afghanistans seit mehr als 100 Jahren an. Dann wird gerne von Stämmen geredet, obwohl selbst Paschtunen bei genauem Blick keine Einheit sind. Und es gibt den Gegensatz von Stadt und Land. Kurzum, es ist von außen sehr schwer, sich ein angemessenes Bild zu machen. Um es in einer Frage zusammenzufassen: Was haben die Taliban denn mit dem afghanischen Mittelalter zu tun? 

Emran Feroz: Es ist immer lustig, wenn es um Mittelalter oder Steinzeit geht. Und dann sieht man die Taliban-Spezialkräfte, die mittlerweile wie amerikanische Spezialeinheiten aussehen. Ich denke, von solchen Bildern sollten wir uns verabschieden. Die Taliban leben im 21. Jahrhundert. Sie haben ein anderes Wertesystem, total andere Vorstellungen als viele Menschen hier im sogenannten Westen und auch als viele andere in Afghanistan. Aber sie sind auch modernes oder postmodernes Phänomen. Natürlich gab es in den letzten Jahrzehnten oder Jahrhunderten Kriege in Afghanistan wie die mehreren anglo-afghanischen. Dort ließen sich natürlich auch gewisse Akteure finden, die den Taliban nicht unähnlich waren. Aber die gelten heute unter den meisten Afghanen trotzdem als Nationalhelden, weil sie die Briten verjagt haben.

Etwas, was solche Akteure immer in Afghanistan gestärkt hat – egal ob bei den Briten, den Sowjets oder den Amerikanern –, lässt sich mit dem Tiroler Volkshelden Andreas Hofer vergleichen. Der lebte im frühen 19. Jahrhundert und wurde 1809 hingerichtet. Ich versuche, in meinem Buch und auch mit dem von Pankaj Mishra zu verdeutlichen, dass es solche Bewegungen auch hier gegeben hat und vielleicht sogar auch heute geben könnte, wenn die Umstände andere wären. Hofer hatte damals einen Bauernaufstand gegen Napoleon und die Bayern angezettelt. Er hat sich als Verteidiger bestimmter Werte inszeniert – hier eines konservativen Katholizismus. Auf der Gegenseite gab es Leute, die sagten: Ihr lebt im Mittelalter und wir klären euch jetzt auf. Dann ist aber genau das Gegenteil eingetreten, was sie wollten. Die Menschen haben umso mehr an diesen Werten festgehalten und gewisse Aufstände unterstützt. Man kann diese Werte – in diesem Fall Liberalismus, Demokratie etc. – nicht von außen aufzwingen. Ähnliches wurde in den 70er und 80er Jahren von den Sowjets versucht.

Islamische Zeitung: Ist dieses Projekt der Modernisierung von oben in Afghanistan nicht viel älter? Fand das nicht schon unter Königen wie Amanullah statt? 

Emran Feroz: Ja, genau. Natürlich ist es viel älter. Es gab die großen Versuche von außen, aber dann auch jene von innen wie dem Amanullah Khan, der das durchsetzen wollte – auch mit Gewalt. Das muss man auch bedenken. Er war nicht der superdemokratische Reformer. Er setzte auf paschtunische Stämme, denen er diese Dinge überstülpen wollte. Die hat er dann zum Teil wirklich erniedrigt und niedergemetzelt. Und da sind dann auch wieder viele Feindschaften entstanden. Aber im Großen und Ganzen ist jeder gescheitert, der es von innen oder außen mit Gewalt versuchte. Und gleichzeitig wurden Kräfte stärker, die den Taliban gar nicht so unähnlich waren.

Islamische Zeitung: Wir können bei manchen jungen Muslimen im Westen beobachten, wie sie sich teils auf eine „glorreiche“ Vergangenheit beziehen, die dann aber auch eine konstruierte ist. Was ist diese „Tradition“, auf welche sich die Taliban überhaupt beziehen? Lässt die sich aus der realen Vergangenheit begründen oder ist sie eher die Folge von 42 Jahren Krieg und Konflikt?

Emran Feroz: Ich denke, in Teilen lässt sich das aus der Vergangenheit begründen. In Teilen ist es aber auch Folge aus diesen Kriegen.

Islamische Zeitung: Die Taliban haben gerade eben ihr Übergangskabinett vorgestellt. Jetzt müssen sie einen Staat betreiben. Es gibt ein Phänomen, das wir auch aus der Russischen Revolution kennen. Am Ende haben in den Folterkammern weiterhin die Leute vom zaristischen Geheimdienst gearbeitet oder im Militär zaristische Offiziere. Jetzt werden die Taliban wahrscheinlich nicht umhinkommen, auch auf das bisherige Personal zu setzen. Sind sie auf die bisherigen Beamten angewiesen, um das Ganze halbwegs am Laufen zu halten? 

Emran Feroz: Auf jeden Fall. Sie können nicht mal definieren, was genau der Unterschied sein soll zwischen der Islamischen Republik Afghanistan, die in den letzten 20 Jahren existiert hat, und dem Islamischen Emirat, wie sie es propagieren. Und es wurde jetzt auch offiziell immer noch nicht umbenannt. Es sind noch viele Fragen offen. Die Taliban müssen sich auf jeden Fall in vielerlei Hinsicht öffnen. Sie sind auf solches Personal angewiesen. Diese Interimsregierung ist nicht mal für die traditionell konservativen Verhältnisse Afghanistans inklusiv. Wenn man betrachtet, welche afghanischen Gelehrte miteinbezogen wurden, ist das alles andere als inklusiv. Es gab Stimmen, die den Eindruck hatten, sie wären jetzt progressiv. Sie stehen vor großen Problemen. Es gibt sehr wohl in ihren Reihen Leute, die wissen, wie schwer dieser Spagat ist. Sie hätten ja, wenn wirklich Inklusivität gewollt wäre, zum Beispiel eine Regierung aufstellen können, in der man Gesichter aus der alten Regierung sieht, in der man mehrere Frauen sieht, in der man auch ehemalige korrupte Politiker wie Karzai sieht. Das hätte vielleicht auf der internationalen Bühne besser ausgeschaut als das jetzige Ergebnis.

Aber sie hätten so wahrscheinlich viele in ihren eigenen Reihen verloren. Selbst der durchschnittliche Fußsoldat hätte sich die Frage gestellt, wofür sie denn gekämpft haben. Dieser Spagat ist sehr schwierig. Und ich denke allerdings, dass sie ohne diese anderen Experten nicht umhinkommen. 

Islamische Zeitung: Glauben Sie, dass sich die Taliban akut und zukünftig in einem Vakuum befinden, sodass sie Knowhow aus Staaten wie China, Pakistan oder den Iran beziehen müssen? 

Emran Feroz: Ich denke schon. Die genannten Staaten werden immer mehr eine dominante Rolle in Afghanistan einnehmen. Die Taliban sind jetzt in einer Situation, in der sie abhängig sein werden. Der Punkt ist auch, dass sie ein bisschen vor einer ideologischen Krise stehen. Was die meisten innerhalb der Taliban zusammengehalten hat, war die Präsenz der ausländischen Truppen, war die Korruption. Das ist jetzt weg. Das heißt, dass viele auch viel mehr hinterfragen werden, was ihre Führer machen. Aber das eröffnet die Gefahr einer weiteren Radikalisierung.

Das ist der nächste Punkt. Wir haben immer noch den IS in Afghanistan. Sie wissen ganz genau: Wäre das Szenario einer inklusiven Regierung mit Leuten wie Abdullah, wie Karzai und so weiter eingetreten, wären Abspaltungen vorstellbar. Und die sieht man am Ende dann beim IS.

Islamische Zeitung: Es mag ein bisschen abstrus klingen, aber müssen die Taliban nicht jetzt den Habitus des Widerstandskämpfers aufgeben und beispielsweise auch Uniformen tragen, um überhaupt den von ihnen kontrollierten Staat repräsentieren zu können?

Emran Feroz: Die müssen jetzt den Staat zum Laufen bringen, was natürlich so eine Sache ist. Die müssen erkennbar sein. Viele von ihnen tragen jetzt auch Uniformen. Erkennbarkeit ist wichtig. Das wird schon mehr in diese Richtung gehen. Natürlich sieht man noch viele Soldaten, die man am Turban und mit ihrer Waffe erkennt, wenn sie patrouillieren. Wenn sie den Staat führen in jeglicher Hinsicht und ernst genommen werden wollen, dann wird sich das mehr in eine solche Richtung bewegen. Ich denke aber, dass sie damit auch überfordert sein werden. Wie gesagt, bis vor Kurzem waren sie eine Guerillagruppierung. Dort, wo sie regiert haben, konnten sie das Vakuum aufgrund der Korruption schnell fühlen. Aber das alles fällt jetzt weg und die ganze Verantwortung liegt bei ihnen. 

Islamische Zeitung: Zu den sechs Kernpunkten, die Sie in „Der längste Krieg“ als Momente des Scheiterns der westlichen Intervention in Afghanistan identifizieren, gehört ein Versagen beim Thema „Frauen“ beziehungsweise die Instrumentalisierung der Frage. Jenseits der realen Lage von Frauen im neuen Afghanistan, welche Funktion hatte die „Befreiung der Frau“ für die Intervention und die folgende Besetzung?

Emran Feroz: Wir müssen eines bedenken und das ist dieses Bild von der Befreiung der Frau. Es wurde immer wieder rekonstruiert. Auch die Medien haben es ständig angerufen, dass man nach Afghanistan geht um dort die afghanische Frau zu befreien. In den 80ern haben die Sowjets gleich argumentiert wie zuvor auch die Briten. Per se wird dem afghanischen Mann unterstellt, dass er ein zurückgebliebener Barbar sei, der nicht wisse, wie er mit seiner Frau umzugehen hat.

Als Folge davon konnten wir in den letzten Jahren und eigentlich auch bis jetzt Beiträge zum Thema aus verhältnismäßig privilegierten Stadtteilen Kabuls sehen, in denen ein liberales Leben geführt wird. Hier werden Künstlerinnen oder Regisseurinnen gezeigt, was den Eindruck erweckt: All das wurde durch die Intervention geschaffen und würde jetzt durch die Taliban zunichte gemacht.

Das ist halt falsch. Die dargestellten Szenen repräsentieren nur einen Bruchteil der weiblichen Gesellschaft. Diese kleine urbane Elite hat sich in den letzten 20 Jahren entwickelt und von dieser militärischen Besatzung auf die eine Art und Weise profitiert. Und so wird versucht, dieses Bild auf alle Afghaninnen anzuwenden. Die meisten von ihnen, die auf dem Land leben, sind in einer komplett anderen Realität aufgewachsen. Und das hat viel zu tun mit Armut, mit wirtschaftlicher Ungleichheit, mit fehlender Entwicklung, die dort halt nicht stattfand und den ganzen verschwundenen Hilfsgeldern. Es hängt auch mit der betriebenen Kriegswirtschaft sowie dem Kriegsgeschehen selbst zusammen.

Es macht für viele westliche Akteure die Sache einfacher, diese Dinge jetzt nicht zu erklären oder nicht auf diese komplexen Realitäten einzugehen. Stattdessen werden Bilder aus irgendeinem Stadtteil gesendet, nicht einmal aus ganz Kabul, wo es auch eher ländliche und ärmliche Distrikte gibt. Man will den Leuten weismachen, diese Dinge seien für die Mehrheit repräsentativ. Ähnliches findet sich aus den 80ern in den Propagandafilmchen der afghanischen Kommunisten und Sowjets. Dort wurden Frauen präsentiert, die einen sehr westlichen Lebensstil pflegten oder daheim Alkohol tranken. Da wurde vieles so sehr propagandistisch inszeniert.

Islamische Zeitung: Was in der Berichterstattung vor und nach dem Fall Kabuls auffällt, ist die teils vollkommende Abwesenheit der zehntausenden Frauen und zehntausenden Mädchen, die von Anfang bis Ende der Besatzung durch Bombardierungen, Drohnen und nächtliche Überfälle auf ihre Dörfer ums Leben kamen beziehungsweise verstümmelt wurden…

Emran Feroz: Ich will niemandem Böses unterstellen, vor allem nicht irgendwelchen Kollegen. Aber mir ist in den letzten Wochen auch aufgefallen, auch nach dem Erscheinen des Buches, dass man hier überhaupt keine Ahnung hatte, mit was für Menschen man dort zusammenarbeitete. Da war beispielsweise Asadullah Chalid. Der hielt sich entführte Mädchen als Sexsklaven und wahrscheinlich auch Jungen. Er hat viele Menschen sexuell missbraucht, ermordet und gefoltert. Der Mann hatte seine eigene Villa, in der er machen konnte, was er wollte, während er von den Alliierten hofiert wurde. Vor ein paar Jahren wurde er durch einen mutmaßlichen Angriff der Taliban schwer verletzt und in den USA behandelt, wo ihn Obama persönlich besuchte.

Wenn man solche Details kennt, ist es heuchlerisch, wenn man beim Lesen immer wieder auf die gleichen Narrative stößt, als ob man mit irgendwelchen Saubermännern zusammengearbeitet hätte. Und jetzt kommen halt die bösen Taliban und das ganze Projekt ist gescheitert. So war es nicht. Ich denke, viele wollten sich mit solchen Fällen nicht beschäftigen, weil sie das Narrativ nicht unterfüttern.

Und dieses Narrativ war wirklich wichtig. Ich habe in meinem Buch den Fall einer Aischa aufgezeichnet, die von ihrem Ehemann verstümmelt wurde. Sie war auch auf dem Cover des „Time Magazine“ zu sehen. Als Unterschrift konnte man lesen, was passieren werde, wenn wir Afghanistan verlassen. Das ist einige Jahre her. Und in dem Text wurde das explizit wiederholt. Später wurde dann klar, was afghanische Lokaljournalisten berichteten und berichtigten, dass es nicht die Taliban waren. Vielmehr wurde sie Opfer familiärer Gewalt.

Man hat oft versucht, das dominante Narrativ zu nähren und erhalten. Das merkt man auch jetzt in diesen Tagen. Alle Stories wollen immer sortieren und herausfinden, was die Verbindung zu den Taliban dabei ist. Gleichzeitig will man sich nicht damit auseinandersetzen, dass es dort eigentlich kein Gut und Böse gab, dass die Lage dort viel komplexer war. Und dass man sich nicht nur mit Menschenrechtsverbrechern und Frauenfeinden gemein machte, sondern selbst so in den betroffenen Gebieten agierte, die von Drohnenangriffen, Spezialeinheiten und so weiter heimgesucht wurden.

Islamische Zeitung: Nach 42 Jahren Schweigen – von Ausnahmen abgesehen – die Waffen in Afghanistan. Halten Sie es für möglich, dass dies ein Moment ist, in dem die Menschen zur Ruhe kommen können und vielleicht auf lokaler Ebene auch so etwas wie eine Heilung eintreten könnte? 

Emran Feroz: Manche sind da recht nüchtern, und ich bin es meistens auch. Wenn man es von den Zahlen her betrachtet, ist es tatsächlich eine große Sache, dass in den letzten Wochen in Afghanistan so wenig Menschen getötet wurden oder generell, dass die Gewalthandlungen so stark abgenommen haben. Man muss aber bedenken, dass die Taliban auch terroristisch gegen die eigene Bevölkerung vorgegangen sind und in den Städten Selbstmordanschläge und so weiter verübt haben. Und die bekämpfen jetzt niemanden mehr als den IS. Aber das ist jetzt weniger ausschlaggebend und nicht so dominierend.

Man muss aufpassen, dass man nicht zu sehr auf das Narrativ der Taliban eingeht. Gerade ließen sie propagandistisch die ganzen Betonmauern in Kabul abbauen, die oft für viel Verkehrschaos gesorgt haben und die Sicherheit von irgendwelchen Politikern und deren Häusern gewährleistet haben. Es wurde alles abgebaut und die Taliban wollen damit sagen: So, jetzt gibt’s hier Frieden. Aber das wurde ja aufgebaut, weil solche Angriffe stattgefunden haben. 

Viele Menschen nehmen das auch als einen Unterschied wahr. Aber ob die politischen Entwicklungen in diese Richtung gehen, wird sich noch zeigen müssen. Das hat vieles einfach mit dem Handeln der Taliban zu tun, aber auch mit dem Verhalten der internationalen Staatengemeinschaft. In den Teilen der afghanischen Gesellschaft, vor allem in den Städten, in denen die Taliban Probleme mit ihrer Art von Regierung haben, hat in den letzten 20 Jahren ein sozialpolitischer und technologischer Fortschritt stattgefunden. Und da wird es sicher weiterhin zu Demonstrationen und irgendeiner Art von politischem Aktivismus gegen sie kommen. Und das ist auch gut und wichtig. Der Punkt ist halt, ob sich die Taliban an ihre Ankündigungen halten oder totalitärer werden. Mein Optimismus oder Pessimismus hängen auch davon ab, welche Richtung sie einschlagen werden. Pessimismus hat man mir nicht so leicht austreiben können. 

Afghanistan steht vor einer humanitären Katastrophe. Es gibt viele Binnenflüchtlinge. Es gibt auch viele andere Menschen, die einfach raus wollen. Und dieses ganze Gerede von den Taliban kurz nach ihrer Machtübernahme wurde auch von vielen westlichen Medien irgendwie für gut befunden. Alles, was sie bis jetzt so gemacht haben, und vor allem die Art, wie sie ihre Regierung aufgestellt haben, die hat nicht nur bestätigt, dass man ihnen eben keinen großen Vertrauensvorschuss geben sollte und dass das Ganze sehr schnell ausarten könnte.

Islamische Zeitung: Lieber Emran Feroz, wir bedanken uns für das Gespräch.

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Auch nach dem Abzug des Westens bleibt seine Ökonomie

BERLIN/KABUL (GFP.com). Nach dem Abzug des Westens aus Afghanistan suchen die Vereinten Nationen die Bevölkerung des Landes mit dem Nötigsten zu versorgen.

Eine UN-Geberkonferenz in Genf konnte am gestrigen Montag Hilfszusagen von mehr als einer Milliarde US-Dollar einwerben; die Bundesrepublik stellte 100 Millionen Euro in Aussicht. Hintergrund ist, dass es dem Westen während der 20-jährigen Besatzungszeit nicht gelungen ist, die afghanische Wirtschaft aufzubauen: Sie blieb von umfangreichen Zahlungen aus dem Ausland abhängig, die bestimmte Sektoren aufblähten – etwa Dienstleistungen für westliches und Regierungspersonal –, aber nicht für den Aufbau einer auch nur annähernd eigenständigen Produktion sorgten.

Während korrupte Regierungsfunktionäre unter den Augen des Westens Milliardensummen nach Dubai schleusten, verarmte die Bevölkerung zusehends; bereits vor dem Abzug des Westens war gut die Hälfte der Afghanen auf humanitäre Hilfe angewiesen. Dass die Hilfsgelder nach der Machtübernahme der Taliban nicht mehr fließen und die USA Sanktionen in Kraft gesetzt haben, versetzt der afghanischen Wirtschaft den Todesstoß.

In Abhängigkeit von Hilfsgeldern

Afghanistans wirtschaftliche Lage war bereits vor der blitzartigen Übernahme der Macht durch die Taliban katastrophal. Nach fast 20 Jahren westlicher Besatzung machten laut Berechnungen der Weltbank humanitäre Hilfe, westliche Entwicklungsgelder und westliche Ausgaben für das Militär immer noch rund 43 Prozent des afghanischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) aus; drei Viertel der Regierungsausgaben wurden aus Unterstützungsprogrammen finanziert.

Der hohe Mittelzufluss hielt die afghanische Wirtschaft in Abhängigkeit: Er blähte diejenigen Sektoren auf, die, etwa Dienstleistungen, von westlichem Personal genutzt und vom Westen finanziert wurden, führte aber dazu, dass andere wichtige Branchen, vor allem industrielle, vernachlässigt wurden.

Zugleich war die Währung, der Afghani, wegen des stetigen Mittelzuflusses überbewertet, was sowohl Exporte verteuerte und damit erschwerte als auch Importe erleichterte; auch das schwächte die afghanische Produktion. Hinzu kam, dass die afghanische Rentenökonomie Korruption begünstigte, wogegen wiederum die westlichen Mächte nicht ernsthaft einschritten: Die Regierung in Kabul wie auch die in den Provinzen herrschenden Warlords waren in der Lage, aus den auswärtigen Hilfszahlungen stets gewaltige Summen für sich abzuzweigen.

Krasse Korruption, bittere Armut

Diese Summen haben Analysen zufolge Milliardenbeträge erreicht. Schlagzeilen machten zuletzt Berichte, Ex-Präsident Ashraf Ghani habe bei seiner Flucht aus Kabul in die Vereinigten Arabischen Emirate große Mengen an Bargeld mit sich geführt; von weit über 100 Millionen US-Dollar war die Rede. Ghani streitet dies ab.

Tatsache ist jedoch, dass bereits zuvor Fälle bekannt geworden waren, bei denen afghanische Regierungsfunktionäre mit Millionenbeträgen etwa nach Dubai einreisten. Laut einer Untersuchung, die im Juli 2020 von der Carnegie Endowment for International Peace mit Hauptsitz in Washington publiziert wurde, sind in den vergangenen zwei Jahrzehnten im Kontext mit Korruption Milliarden US-Dollar aus Afghanistan nach Dubai abgeflossen.

Gleichzeitig nahm die Armut im Land immer mehr zu. Der Bevölkerungsanteil der Afghanen, die unterhalb der Armutsschwelle lebten, stieg von 33,7 Prozent im Jahr 2007 auf 54,5 Prozent im Jahr 2016. Bereits im Juli appellierten die Vereinten Nationen an wohlhabende Staaten, zusätzliche Mittel für Afghanistan zur Verfügung zu stellen: Rund 18 Millionen Afghanen, die Hälfte der Bevölkerung, seien auf humanitäre Hilfe angewiesen. Ein Drittel der Bevölkerung sei unterernährt, die Hälfte der Kinder unter fünf Jahren sogar akut.

Ausbleibende Gehälter

Der Abzug des Westens trifft die afghanische Wirtschaft, die ohnehin unter einer der schlimmsten Dürrekatastrophen und der Covid-19-Pandemie leidet, in gleich mehrfacher Hinsicht schwer. Zum einen waren westliche Soldaten, Mitarbeiter von Hilfs- und Entwicklungsorganisationen sowie weiteres Personal schon an sich ein bedeutender Wirtschaftsfaktor, da sie Unterkünfte anmieteten, Dienstleistungen in Anspruch nahmen und anderes mehr. Unmittelbar weggefallen sind die Mittel, die der Westen für den Unterhalt der – offiziell – rund 300.000 afghanischen Soldaten zahlte; und auch wenn ein erheblicher Anteil von ihnen nur auf dem Papier existierte und ihr Sold abgezweigt wurde: Eine sechsstellige Zahl an Afghanen steht nun ohne Einkommen da.

Ähnliches gilt, dies beschreibt das Afghanistan Analysts Network (AAN) in einer umfassenden Analyse, für viele der rund 420.000 Staatsangestellten, denen die Taliban ohne ausländische Hilfe keine Löhne zahlen können. Dies hat Folgen für den gesamten Dienstleistungssektor, der sich zu erheblichen Teilen aus ihren Ausgaben finanzierte. Die AAN-Analyse zitiert eine Studie der Weltbank, der zufolge rund 2,5 Millionen Afghanen zuletzt im Dienstleistungs- oder im Baugewerbe tätig waren – gut 77 Prozent aller Beschäftigten in den Städten.

US-Sanktionen

Hinzu kommen von den Vereinigten Staaten verhängte Strafmaßnahmen sowie Sanktionen gegen die Taliban. Die Biden-Administration hat bereits im August die afghanischen Devisenreserven, soweit sie Zugriff auf sie hat, eingefroren. Von den insgesamt neun Milliarden US-Dollar liegen allein sieben – in Form von Bargeld, Gold oder Anleihen – bei der US-Zentralbank; über sie kann Kabul nun nicht mehr verfügen.

Dies gilt auch für weitere im Ausland gelagerte Gelder. Den Taliban werde es allenfalls gelingen, 0,2 Prozent der Devisenreserven anzuzapfen, heißt es. Weil Washington zudem Sanktionen gegen die Taliban aufrechterhält, sind alle Lieferungen nach Afghanistan, insbesondere auch humanitäre, durch US-Repressalien bedroht; und auch wenn die Biden-Administration bekundet hat, humanitäre Hilfe sei von den Sanktionen ausgenommen, so wird dennoch, ähnlich wie bei Hilfslieferungen nach Iran, von schwerer Verunsicherung berichtet.

Das wiegt besonders schwer, da Afghanistan aufgrund der spezifischen ökonomischen Entwicklung unter westlicher Besatzung massiv von Importen abhängig ist: Über ein Viertel des Reisbedarfs, bis zu 40 Prozent der Zutaten für Brot und mehr als drei Viertel des elektrischen Stroms müssen laut AAN durch Einfuhren gedeckt werden.

Hunger, Flucht und Terror

Die Lage ist hochbrisant – vor allem aus humanitärer, für den Westen besonders aus politischer Perspektive. Bleiben die Sanktionen gegen die Taliban in Kraft und die westlichen Zahlungen aus, droht eine humanitäre Katastrophe; die Vereinten Nationen schlossen zuletzt nicht aus, dass 97 Prozent der afghanischen Bevölkerung Mitte 2022 unter die Armutsschwelle rutschen könnten. Das brächte immenses menschliches Leid.

Der Westen sucht, davon unbeeindruckt, sein Geld als Druckmittel gegen die Taliban einzusetzen. Außenminister Heiko Maas bekräftigte auf der Afghanistan-Geberkonferenz der Vereinten Nationen am gestrigen Montag in Genf, Berlin werde sich auf „reine Nothilfe“ für die Bevölkerung beschränken; sämtliche weiteren Zahlungen blieben ausgesetzt. Sollte damit die Spekulation verbunden sein, ein Ausbleiben der gewohnten Gelder werde die Bevölkerung veranlassen, den Druck auf die Taliban zu erhöhen und sie womöglich zu stürzen, dann könnte dies – darauf weist etwa das AAN hin – nicht nur zu einer Massenflucht in Richtung Europa führen, sondern auch die Bereitschaft der Taliban zunichte machen, Terroristen, etwa diejenigen des ISKP (Islamic State Khorasan Province), von Angriffen auf westliche Ziele abzuhalten.

Kampf um Einfluss

Vor diesem Hintergrund haben die Vereinten Nationen gestern Zusagen für Hilfen im Wert von mehr als einer Milliarde US-Dollar erhalten; die Bundesrepublik hat einen Beitrag von bis zu 100 Millionen Euro in Aussicht gestellt. Nach UN-Schätzungen würde dies, sofern die Zahlungen tatsächlich eintreffen – das ist in vergleichbaren Fällen oft nicht geschehen –, eine Weile für das Nötigste reichen.

Alles weitere ist Gegenstand von Sondierungen und Verhandlungen, die gerade erst begonnen haben und bei denen nicht die afghanische Bevölkerung, sondern das westliche Bestreben, Einfluss auf die neue Regierung in Kabul zu nehmen, im Vordergrund steht.

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Peking ist vorsichtig: Taliban setzen voll auf Hilfe aus China

China

Die Taliban sprechen von ihren „Freunden“ in China, die Afghanistan wiederaufbauen wollten. Zwar tritt Peking in das Machtvakuum, das die USA hinterlassen haben. Aber Investitionen erfordern Sicherheit. So ist China vorsichtig. Kann es den Taliban überhaupt trauen? Von Andreas Landwehr

Peking (dpa/iz). Die Hoffnungen der Taliban auf baldige wirtschaftliche Hilfe aus China zum Wiederaufbau Afghanistans könnten enttäuscht werden. Nach ihrer Machtübernahme in Kabul setzen die Militanten auf den großen Nachbarn, der die „Gotteskrieger“ schon früh als die neuen Herrscher des Landes diplomatisch aufgewertet hatte. „China ist unser wichtigster Partner und bedeutet für uns eine grundlegende und außergewöhnliche Chance, denn es ist bereit, zu investieren und unser Land neu aufzubauen“, sagte ihr Sprecher Sabiullah Mudschahid der italienischen Tageszeitung „La Repubblica“.

Mit Chinas Hilfe planen die Taliban ein Comeback des schwer angeschlagenen Afghanistans. In dem Land gebe es „reiche Kupferminen, die dank der Chinesen wieder in Betrieb genommen und modernisiert werden können“, sagte der Sprecher. Der Wert der Bodenschätze in Afghanistan wird tatsächlich auf eine Billion US-Dollar geschätzt. Nur fehlt es an Investitionen und Infrastruktur, um den Reichtum auch zu bergen – vor allem aber mangelt es an der nötigen Sicherheit.

Erstmal verspricht Peking nur humanitäre Nothilfe und Impfstoffe gegen die Pandemie in einem Wert von 200 Millionen Yuan, umgerechnet 26 Millionen Euro. China ist diplomatisch aktiv, das von den USA nach ihrem Rückzug hinterlassene Machtvakuum auszufüllen. Außenminister Wang Yi spricht mit den Nachbarländern. Afghanistan ist am Donnerstag auch wichtiges Thema des Brics-Gipfels mit Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping, Russlands Wladimir Putin und den anderen Staats- und Regierungschefs aus Indien, Brasilien und Südafrika.

Die Erwartungen der Taliban, China könnte den Wiederaufbau maßgeblich mitfinanzieren, wirken aber unrealistisch. So hat Peking die Milliardeninvestitionen in seine Infrastrukturinitiative der „Neuen Seidenstraße“ (Belt and Road Initiative) zum Aufbau neuer Handelswege schon heruntergefahren. Auch verweisen Experten in China auf die schlechte Sicherheitslage in Afghanistan und beäugen die Taliban misstrauisch.

Selbst früher, vor dem Ausbruch der Pandemie, als die Lage vergleichsweise stabil war, gab es keine größeren Investitionen Chinas. Zwei große chinesische Projekte in Afghanistan sind schon damals nicht ans Laufen gekommen. So erhielt 2008 ein Unternehmen aus China einen auf drei Milliarden US-Dollar geschätzten Zuschlag für die Entwicklung einer der größten Kupferlagerstätten weltweit in Mes Aynak. Und 2011 wollte ein chinesischer Konzern die Ölfelder am nördlichen Grenzfluss Amudarja erschließen. Nichts ist passiert.

„Deswegen denke ich, dass China gerade jetzt, wo es nicht nur potenziell, sondern tatsächlich Instabilität in fast allen Bereichen in Afghanistan gibt, nicht viel investieren wird“, sagt Professor Shi Yinhong von der Pekinger Volksuniversität. „Afghanistan hat jetzt drastische Veränderungen durchgemacht“, sagt der Experte. „Es gibt weder angemessene Sicherheit, noch lässt sich über nachweisliche und vergleichsweise langfristige, vernünftige Stabilität sprechen.“

Schon im befreundeten Pakistan, wo China im Rahmen der „Seidenstraße“ rund 60 Milliarden US-Dollar in Infrastruktur für den China-Pakistan Wirtschaftskorridor investiert hat, gebe es „feindliche Kräfte“, die chinesische Unternehmen und Personal attackiert haben, hebt der Professor hervor. Auch die Taliban an sich seien „komplex“, sagt Shi Yinhong auf eine Frage nach rivalisierenden Gruppen.

Ob China den Taliban überhaupt trauen kann? „Die chinesische Regierung hofft darauf, aber sie ist nicht naiv“, sagt der Professor. So haben die neuen Herrscher in Kabul versprochen, niemandem zu erlauben, vom Boden Afghanistans aus chinesische Interessen zu gefährden. Gemeint sind Extremisten und Unabhängigkeitskräfte, die China in seiner angrenzenden Region Xinjiang fürchtet – dem ehemaligen Ostturkestan. Dort gehen die Chinesen gegen muslimische Uiguren vor, haben Hunderttausende von ihnen in Umerziehungslager gesteckt.

Es hat schon eine gewisse Ironie: Während China in Xinjiang mutmaßliche Extremisten bekämpft, stellt es sich in Afghanistan an die Seite militanter Islamisten, die die Chinesen als ihre „Freunde“ preisen. Aber von echtem Vertrauen ist in Peking wenig zu spüren. „Ohne Beweise oder Prüfung über eine beträchtliche Zeit kann niemand glauben, dass die Taliban, die in der Vergangenheit untrennbar mit der ostturkestanischen Bewegung verbunden waren, so schnell und definitiv ihr Versprechen halten werden, das sie Chinas Regierung gegeben haben“, sagt Shi Yinhong.

Aber Peking ist pragmatisch. Denn es geht nicht nur um Xinjiang, sondern auch darum, dass Afghanistan ein Nährboden für Terrorismus und eine Quelle der Unsicherheit für Chinas Interessen in ganz Zentralasien und in Pakistan werden könnte. Selbst wenn China echte Sorgen über die Bereitschaft der Taliban habe, ihre Versprechen einzuhalten, seien die Beziehungen und der potenzielle Gewinn für Peking „einfach zu wichtig, um ignoriert zu werden“, glaubt der Sicherheitsexperte Derek Grossmann von der Rand Corporation. „Ähnlich wichtig ist das Risiko, die Taliban damit zu verärgern, ihnen verspätet die Anerkennung und Legitimation zu geben, die sie ersehnen, was Chinas Sicherheitsinteressen gefährden könnte.“

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Amerikas Antiterrorkrieg und das Scheitern in Afghanistan

Nach dem 11. September 2001 riefen die USA den globalen Krieg gegen den Terrorismus aus. Keine drei Jahre später verkündeten sie den ersten Sieg in diesem Krieg – ausgerechnet in Afghanistan. Das sollte nicht die einzige katastrophale Fehleinschätzung bleiben. Von Can Merey und Jan Kuhlmann

Washington (dpa). US-Präsident George W. Bush wollte die Nation aus ihrer Schockstarre erlösen, als er neun Tage nach den Anschlägen vom 11. September 2001 vor dem Kongress sprach. „Unsere Trauer hat sich in Zorn verwandelt und der Zorn in Entschlossenheit“, sagte Bush damals. „Unser Krieg gegen den Terror beginnt mit Al-Kaida, aber er endet nicht dort. Er wird erst enden, wenn jede Terrorgruppe von globaler Reichweite gefunden, gestoppt und besiegt worden ist.“ Von einem Ende der internationalen Terrorbedrohung kann auch 20 Jahre später keine Rede sein. Und auf dem ersten Schlachtfeld in diesem Krieg – Afghanistan – ist der Westen gerade gescheitert.

Nachdem die Taliban sich weigerten, Al-Kaida-Chef Osama bin Laden auszuliefern, begann am 7. Oktober 2001 der US-geführte Angriff auf Afghanistan. Bush machte damals deutlich, dass sich der Kampf der USA ausdrücklich auch gegen jene Regierungen richte, die Terroristen Schutz böten. Das Taliban-Regime stürzte Ende 2001, eine Zeit lang schien es, als wäre Afghanistan auf einem guten Weg. Bei einem Besuch des afghanischen Übergangspräsidenten Hamid Karsai im Weißen Haus sprach Bush im Juni 2004 vom „ersten Sieg im Krieg gegen den Terror“.

Es war eine von vielen katastrophalen Fehleinschätzungen der USA. Spätestens die Abzugspläne von US-Präsident Donald Trump und seinem Nachfolger Joe Biden setzten in Afghanistan eine Dynamik in Gang, die zur erneuten Machtübernahme der Taliban geführt hat. Ursprünglich hatte Biden angekündigt, den US-Truppenabzug bis zum 11. September dieses Jahres abzuschließen. Am 20. Jahrestag der Anschläge weht nun wieder die weiße Flagge der Islamisten in Kabul. Die Nato-geführten Truppen sind im Chaos abgezogen, die afghanischen Sicherheitskräfte kollabiert. Die Taliban haben den Krieg in Afghanistan gewonnen.

Biden argumentiert, das wichtigste Ziel des Einsatzes sei dennoch erreicht worden – und zwar schon im Mai 2011, als US-Spezialkräfte Al-Kaida-Chef Osama bin Laden in Pakistan töteten. Richtig ist, dass die USA seit dem 11. September 2001 nie wieder zum Ziel eines vergleichbaren Terrorangriffs wurden. Die Gefahr ist aber nicht gebannt. In ihrem jüngsten Bericht zur Bedrohungslage schreiben die US-Geheimdienste, die Terrormiliz Islamischer Staat (IS), Al-Kaida und der Iran mit seinen militanten Verbündeten „planen weiterhin Terroranschläge gegen Personen und Interessen der USA, einschließlich in unterschiedlichem Ausmaß in den Vereinigten Staaten“.

Bereits vor dem Abzug der internationalen Truppen war Al-Kaida nach Einschätzung der Vereinten Nationen in fast jeder zweiten afghanischen Provinz präsent. In einem Bericht des US-Sicherheitsrats vom Frühjahr hieß es: „Die Taliban sind weiterhin eng mit Al-Kaida verbunden und zeigen keine Anzeichen für einen Abbruch der Beziehungen.“ Nicht verwunderlich, dass Al-Kaida den Abzug des Westens aus Afghanistan als Triumph feiert: „Gott hat uns den Sieg versprochen und Bush die Niederlage“, teilte das Terrornetz kürzlich mit. „Das afghanische Debakel Amerikas und der Nato markiert den Anfang vom Ende einer dunklen Ära westlicher Vorherrschaft und militärischer Besatzung islamischer Länder.“

Tatsächlich könnte dieses afghanische Debakel auch in Washington zu einem grundsätzlichen Umdenken führen. „Wir müssen aus unseren Fehlern lernen“, sagte Biden nach dem Ende des Einsatzes. „Bei dieser Entscheidung über Afghanistan geht es nicht nur um Afghanistan. Es geht darum, eine Ära großer Militäroperationen zur Umgestaltung anderer Länder zu beenden.“ Die Schaffung demokratischer Strukturen könne nicht Ziel von Anti-Terror-Einsätzen sein. Biden argumentiert, für die Terrorismusbekämpfung müssten keine amerikanischen Bodentruppen in fernen Ländern stationiert werden – dafür hätten sich bereits jetzt andere Mittel wie etwa Drohnen bewährt.

Dass ein großangelegter Einsatz von Bodentruppen schwieriger zu beenden als zu beginnen ist, hat sich nicht erst in Afghanistan gezeigt. Bush nutzte den Krieg gegen den Terrorismus auch als Vorwand, um im März 2003 den Irak anzugreifen. Ende 2011 zogen die USA ihre Truppen aus dem Land ab. Keine drei Jahre später mussten sie zurückkehren, um die irakischen Sicherheitskräfte im Kampf gegen den IS zu unterstützen. Die Terrormiliz ist trotz ihrer militärischen Niederlage weiter im Irak und im benachbarten Syrien aktiv.

Auch in Afghanistan unterstützten die US-Truppen die einheimischen Sicherheitskräfte, und noch eine Parallele ist im Irak zu erkennen: Eine funktionierende Demokratie, wie sie die USA nach ihrer Irak-Invasion 2003 in dem Land etablieren wollten, ist dort niemals entstanden. Zwar gibt es Wahlen zum Parlament, doch ändern diese an den realen Machtverhältnissen wenig. Die Politik des Landes ist geprägt von Misswirtschaft und Korruption. Beispielhaft dafür steht die schwache Infrastruktur des Landes. Während der Irak zu den ölreichsten Ländern der Welt zählt, leiden die Menschen dort permanent an Strommangel.

Der Frust vieler Iraker über ihre herrschende Klasse ist so groß, dass die Wahlbeteiligung 2018 auf ein historisches Tief fiel. Später zogen vor allem junge Frauen und Männer zu Massenprotesten auf die Straße, gegen die die Sicherheitskräfte mit Gewalt vorgingen.

Vor allem öffnete der US-Militäreinsatz im Irak mit dem Sturz von Langzeitherrscher Saddam Hussein das Tor für massiven Einfluss des schiitischen Nachbarn Iran. Die schiitischen Muslime stellen im Irak nicht nur die Mehrheit, sondern dominieren auch die Politik. Teheran nutzt vor allem schiitische Milizen, um seine Interessen durchzusetzen. Diese bewaffneten Gruppen sind nicht nur militärisch stark, sondern auch eng mit wichtigen politischen Parteien verbunden.

Das politische Chaos im Irak nutzte auch der IS, um 2014 große Teile des Landes unter Kontrolle zu bringen. In seinen Reihen fanden sich nicht zuletzt viele Sunniten wieder, die früher in Saddams Armee gedient hatten. Als die USA nach dessen Sturz das Militär auflösten, fühlten sich viele Soldaten gedemütigt – und sannen auf Rache.

Auf die USA wächst der Druck, ihre Soldaten auch aus dem Irak abzuziehen. In den vergangenen Monaten kam es immer wieder zu Raketenangriffen auf Einrichtungen, die von Amerikanern genutzt werden. Washington sieht schiitische Milizen am Werk. Doch ein Abzug hätte weitreichende Konsequenzen: „Der Iran übernimmt dann den Irak“, prophezeit Guido Steinberg, Irak-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Und auch der IS dürfte sich im Aufwind sehen.

Das würde erst recht gelten, wenn die Biden-Regierung auch den von Trump begonnenen Abzug aus Syrien vollenden sollte. Dort unterstützen die US-Truppen die Kurden im Kampf gegen den IS. Ohne Washingtons Hilfe wäre es kaum vorstellbar, dass sie die von ihnen kontrollierten Gebiete im Norden und Osten Syriens halten könnten.

Taliban stellen Übergangskabinett vor

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Die Taliban hatten betont, dass sie eine Regierung nicht nur aus ihren eigenen Mitgliedern bilden werden. Mit den ersten Besetzungen werden sie dieser Ansage nicht gerecht. Überraschend ist, wer Premierminister wird.

Kabul (dpa/iz). Die Taliban haben Teile eines Übergangskabinetts für Afghanistan vorgestellt. Demnach wird der öffentlich wenig bekannte Mullah Mohammed Hassan Achund amtierender Vorsitzender des Ministerrats, was dem Amt eines Premierministers gleichkommt. Das erklärte Taliban-Sprecher Sabiullah Mudschahid am Dienstag bei einer Pressekonferenz in Kabul.

Die Ernennung Achunds als Regierungschef gilt als Überraschung. Er ist eines der Gründungsmitglieder der Taliban, war zuletzt im Führungsrat, der Rahbari Schura, und gilt als enger Vertrauter des Taliban-Führers Haibatullah Achundsada. Achund, der in Afghanistan Mullah Hassan genannt wird, hielt bereits während der ersten Taliban-Herrschaft wichtige Posten: UN-Angaben zufolge war er Außenminister und Gouverneur der Provinz Kandahar, aus der er stammt. Achund gilt als gemäßigt. Seit 2001 steht er im Zusammenhang mit den Handlungen und Aktivitäten der Taliban auf einer UN-Sanktionsliste.

Die Taliban hatten nach massiven militärischen Gebietsgewinnen Mitte August die Macht in Afghanistan übernommen. Der bisherige Präsident Aschraf Ghani war kurz davor aus dem Land geflohen. Seit ihrer Machtübernahme bemühen sich die Islamisten um eine gemäßigtere Außendarstellung als zu Zeiten ihrer Schreckensherrschaft zwischen 1996 und 2001. Es besteht dennoch weiter die Sorge, dass die militante Gruppe ihre Herrschaft auf Unterdrückung und drakonischen Strafen gründen könnte.

Taliban-Sprecher Mudschahid sagte, man habe sich darauf geeinigt, ein Übergangskabinett zu ernennen und bekanntzugeben, „um die notwendigen Regierungsarbeiten durchführen zu können“. Insgesamt besetzten die Taliban 33 Posten. Die Besetzung der verbleibenden Führungspositionen von Ministerien und Institutionen werde man sukzessive bekanntgeben, sagte Mudschahid weiter.

Zu einem von zwei Stellvertretern Achunds wurde Mullah Abdul Ghani Baradar ernannt, der bisherige Vizechef der Taliban. Er wurde nach seiner Freilassung aus pakistanischer Haft im Jahr 2018 das öffentliche Gesicht der Gruppierung und unterzeichnete 2020 für die Taliban das Abkommen mit den USA unter anderem über ein Ende des US-geführten Militäreinsatzes in Afghanistan. Er telefonierte auch mit dem damaligen US-Präsidenten Donald Trump.

Die Ernennung von Achund zeige, „wie wenig wir im Westen über die Taliban wissen und ihre Entscheidungen voraussagen können“, sagte der Afghanistan-Experte Thomas Ruttig von der Kabuler Denkfabrik Afghanistan Analysts Network. Vor der Bekanntgabe waren die allermeisten Beobachter davon ausgegangen, dass Mullah Baradar Regierungschef wird.

Andere Personalien sind weniger überraschend. Mullah Jakub, der älteste Sohn des langjährigen, verstorbenen Taliban-Chefs Mullah Omar, wird Verteidigungsminister. Er soll etwa Mitte 30 sein und als Taliban-Vizechef die Milizen gesteuert haben. Siradschuddin Haqqani, der dritte Vizechef der Taliban und Chef des berüchtigten Haqqani-Netzwerkes, wird Innenminister. Es wird für einige der grausamsten Anschläge in Afghanistan verantwortlich gemacht. Die USA suchen den etwa Mitte-40-jährigen Haqqani mit einem siebenstelligen Kopfgeld.

Als Aufsteiger innerhalb der Taliban-Reihen sehen Beobachter Amir Chan Motaki. Er war Bildungs- und Informationsminister während der Taliban-Herrschaft 1996 bis 2001 und wird nun Außenminister. Er gilt als eine der versöhnlichsten Figuren innerhalb der Bewegung und leitete bislang die Aussöhnungskommission der Taliban. Mit Abdul Hak Wasik wird ein ehemaliger Guantánamo-Häftling Chef des Geheimdienstes.

Ein Frauenministerium findet sich bisher nicht auf der veröffentlichten Liste. Dafür wurde ein Ministerium für „Einladung, Führung, Laster und Tugend“ eingeführt, das die Afghanen vom Namen her an das Ministerium „für die Förderung der Tugend und die Verhütung des Lasters“ erinnern dürfte. Diese Behörde hatte während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 Menschen zum Gebet gezwungen oder Männer dafür bestraft, wenn sie keinen Bart trugen.

Kritik an der Zusammensetzung des Kabinetts folgte prompt. Die Islamisten hatten zuletzt immer wieder betont, eine „inklusive Regierung“ ernennen zu wollen. Kurz nach ihrer Machtübernahme hatten sie regelmäßig andere Politiker des Landes wie etwa den Ex-Präsidenten Hamid Karsai oder den bisherigen Leiter des Hohen Versöhnungsrates, Abdullah Abdullah, zu Gesprächen getroffen. Ihrer Ankündigung wurden sie nun aber nicht gerecht: Bei allen bisher bekannten Besetzungen handelt es sich um Taliban-Mitglieder.

Auch ethnisch geht es bisher einseitig zu. Der Afghanistan-Experte der Denkfabrik International Crisis Group, Ibraheem Bahiss, schrieb auf Twitter, soweit er dies beurteilen könne, seien bis auf zwei Tadschiken und einen Usbeken alle Postenträger Paschtunen. Mitglieder der Minderheit der Hasara etwa fehlen völlig.

Die Frage der Inklusivität ist relevant, da viele westliche Regierungen davon abhängig machen, ob sie die künftige Regierung anerkennen und das Land, das massiv von ausländischen Hilfsgeldern abhängig ist, unterstützen werden. „Mit so einem Taliban-Kabinett wird die Welt Afghanistan nicht mal mit einem Dollar helfen“, schrieb ein afghanischer Journalist auf Twitter.

Der ehemalige Gouverneur von Balch, Mohammed Atta Nur, kritisierte die Zusammensetzung unter anderem für einen Mangel an Professionalität und Frauen. Sie widerspreche zudem dem Geist der gültigen Verfassung des Landes.

Die Ankündigung zur Übergangsregierung erfolgte nur Stunden, nachdem die Taliban in der Hauptstadt Kabul in die Luft feuerten, um Hunderte Demonstranten auseinanderzutreiben. Die Menschen waren gegen eine mutmaßliche Einmischung Pakistans in Afghanistan auf die Straßen gegangen. Indirekt kritisierten sie aber auch die Islamisten. Die Taliban hatten zudem mehrere Journalisten für mehrere Stunden festgenommen.