BERLIN/KABUL (GFP.com). Nach dem Abzug des Westens aus Afghanistan suchen die Vereinten Nationen die Bevölkerung des Landes mit dem Nötigsten zu versorgen.
Eine UN-Geberkonferenz in Genf konnte am gestrigen Montag Hilfszusagen von mehr als einer Milliarde US-Dollar einwerben; die Bundesrepublik stellte 100 Millionen Euro in Aussicht. Hintergrund ist, dass es dem Westen während der 20-jährigen Besatzungszeit nicht gelungen ist, die afghanische Wirtschaft aufzubauen: Sie blieb von umfangreichen Zahlungen aus dem Ausland abhängig, die bestimmte Sektoren aufblähten – etwa Dienstleistungen für westliches und Regierungspersonal –, aber nicht für den Aufbau einer auch nur annähernd eigenständigen Produktion sorgten.
Während korrupte Regierungsfunktionäre unter den Augen des Westens Milliardensummen nach Dubai schleusten, verarmte die Bevölkerung zusehends; bereits vor dem Abzug des Westens war gut die Hälfte der Afghanen auf humanitäre Hilfe angewiesen. Dass die Hilfsgelder nach der Machtübernahme der Taliban nicht mehr fließen und die USA Sanktionen in Kraft gesetzt haben, versetzt der afghanischen Wirtschaft den Todesstoß.
In Abhängigkeit von Hilfsgeldern
Afghanistans wirtschaftliche Lage war bereits vor der blitzartigen Übernahme der Macht durch die Taliban katastrophal. Nach fast 20 Jahren westlicher Besatzung machten laut Berechnungen der Weltbank humanitäre Hilfe, westliche Entwicklungsgelder und westliche Ausgaben für das Militär immer noch rund 43 Prozent des afghanischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) aus; drei Viertel der Regierungsausgaben wurden aus Unterstützungsprogrammen finanziert.
Der hohe Mittelzufluss hielt die afghanische Wirtschaft in Abhängigkeit: Er blähte diejenigen Sektoren auf, die, etwa Dienstleistungen, von westlichem Personal genutzt und vom Westen finanziert wurden, führte aber dazu, dass andere wichtige Branchen, vor allem industrielle, vernachlässigt wurden.
Zugleich war die Währung, der Afghani, wegen des stetigen Mittelzuflusses überbewertet, was sowohl Exporte verteuerte und damit erschwerte als auch Importe erleichterte; auch das schwächte die afghanische Produktion. Hinzu kam, dass die afghanische Rentenökonomie Korruption begünstigte, wogegen wiederum die westlichen Mächte nicht ernsthaft einschritten: Die Regierung in Kabul wie auch die in den Provinzen herrschenden Warlords waren in der Lage, aus den auswärtigen Hilfszahlungen stets gewaltige Summen für sich abzuzweigen.
Krasse Korruption, bittere Armut
Diese Summen haben Analysen zufolge Milliardenbeträge erreicht. Schlagzeilen machten zuletzt Berichte, Ex-Präsident Ashraf Ghani habe bei seiner Flucht aus Kabul in die Vereinigten Arabischen Emirate große Mengen an Bargeld mit sich geführt; von weit über 100 Millionen US-Dollar war die Rede. Ghani streitet dies ab.
Tatsache ist jedoch, dass bereits zuvor Fälle bekannt geworden waren, bei denen afghanische Regierungsfunktionäre mit Millionenbeträgen etwa nach Dubai einreisten. Laut einer Untersuchung, die im Juli 2020 von der Carnegie Endowment for International Peace mit Hauptsitz in Washington publiziert wurde, sind in den vergangenen zwei Jahrzehnten im Kontext mit Korruption Milliarden US-Dollar aus Afghanistan nach Dubai abgeflossen.
Gleichzeitig nahm die Armut im Land immer mehr zu. Der Bevölkerungsanteil der Afghanen, die unterhalb der Armutsschwelle lebten, stieg von 33,7 Prozent im Jahr 2007 auf 54,5 Prozent im Jahr 2016. Bereits im Juli appellierten die Vereinten Nationen an wohlhabende Staaten, zusätzliche Mittel für Afghanistan zur Verfügung zu stellen: Rund 18 Millionen Afghanen, die Hälfte der Bevölkerung, seien auf humanitäre Hilfe angewiesen. Ein Drittel der Bevölkerung sei unterernährt, die Hälfte der Kinder unter fünf Jahren sogar akut.
Ausbleibende Gehälter
Der Abzug des Westens trifft die afghanische Wirtschaft, die ohnehin unter einer der schlimmsten Dürrekatastrophen und der Covid-19-Pandemie leidet, in gleich mehrfacher Hinsicht schwer. Zum einen waren westliche Soldaten, Mitarbeiter von Hilfs- und Entwicklungsorganisationen sowie weiteres Personal schon an sich ein bedeutender Wirtschaftsfaktor, da sie Unterkünfte anmieteten, Dienstleistungen in Anspruch nahmen und anderes mehr. Unmittelbar weggefallen sind die Mittel, die der Westen für den Unterhalt der – offiziell – rund 300.000 afghanischen Soldaten zahlte; und auch wenn ein erheblicher Anteil von ihnen nur auf dem Papier existierte und ihr Sold abgezweigt wurde: Eine sechsstellige Zahl an Afghanen steht nun ohne Einkommen da.
Ähnliches gilt, dies beschreibt das Afghanistan Analysts Network (AAN) in einer umfassenden Analyse, für viele der rund 420.000 Staatsangestellten, denen die Taliban ohne ausländische Hilfe keine Löhne zahlen können. Dies hat Folgen für den gesamten Dienstleistungssektor, der sich zu erheblichen Teilen aus ihren Ausgaben finanzierte. Die AAN-Analyse zitiert eine Studie der Weltbank, der zufolge rund 2,5 Millionen Afghanen zuletzt im Dienstleistungs- oder im Baugewerbe tätig waren – gut 77 Prozent aller Beschäftigten in den Städten.
US-Sanktionen
Hinzu kommen von den Vereinigten Staaten verhängte Strafmaßnahmen sowie Sanktionen gegen die Taliban. Die Biden-Administration hat bereits im August die afghanischen Devisenreserven, soweit sie Zugriff auf sie hat, eingefroren. Von den insgesamt neun Milliarden US-Dollar liegen allein sieben – in Form von Bargeld, Gold oder Anleihen – bei der US-Zentralbank; über sie kann Kabul nun nicht mehr verfügen.
Dies gilt auch für weitere im Ausland gelagerte Gelder. Den Taliban werde es allenfalls gelingen, 0,2 Prozent der Devisenreserven anzuzapfen, heißt es. Weil Washington zudem Sanktionen gegen die Taliban aufrechterhält, sind alle Lieferungen nach Afghanistan, insbesondere auch humanitäre, durch US-Repressalien bedroht; und auch wenn die Biden-Administration bekundet hat, humanitäre Hilfe sei von den Sanktionen ausgenommen, so wird dennoch, ähnlich wie bei Hilfslieferungen nach Iran, von schwerer Verunsicherung berichtet.
Das wiegt besonders schwer, da Afghanistan aufgrund der spezifischen ökonomischen Entwicklung unter westlicher Besatzung massiv von Importen abhängig ist: Über ein Viertel des Reisbedarfs, bis zu 40 Prozent der Zutaten für Brot und mehr als drei Viertel des elektrischen Stroms müssen laut AAN durch Einfuhren gedeckt werden.
Hunger, Flucht und Terror
Die Lage ist hochbrisant – vor allem aus humanitärer, für den Westen besonders aus politischer Perspektive. Bleiben die Sanktionen gegen die Taliban in Kraft und die westlichen Zahlungen aus, droht eine humanitäre Katastrophe; die Vereinten Nationen schlossen zuletzt nicht aus, dass 97 Prozent der afghanischen Bevölkerung Mitte 2022 unter die Armutsschwelle rutschen könnten. Das brächte immenses menschliches Leid.
Der Westen sucht, davon unbeeindruckt, sein Geld als Druckmittel gegen die Taliban einzusetzen. Außenminister Heiko Maas bekräftigte auf der Afghanistan-Geberkonferenz der Vereinten Nationen am gestrigen Montag in Genf, Berlin werde sich auf „reine Nothilfe“ für die Bevölkerung beschränken; sämtliche weiteren Zahlungen blieben ausgesetzt. Sollte damit die Spekulation verbunden sein, ein Ausbleiben der gewohnten Gelder werde die Bevölkerung veranlassen, den Druck auf die Taliban zu erhöhen und sie womöglich zu stürzen, dann könnte dies – darauf weist etwa das AAN hin – nicht nur zu einer Massenflucht in Richtung Europa führen, sondern auch die Bereitschaft der Taliban zunichte machen, Terroristen, etwa diejenigen des ISKP (Islamic State Khorasan Province), von Angriffen auf westliche Ziele abzuhalten.
Kampf um Einfluss
Vor diesem Hintergrund haben die Vereinten Nationen gestern Zusagen für Hilfen im Wert von mehr als einer Milliarde US-Dollar erhalten; die Bundesrepublik hat einen Beitrag von bis zu 100 Millionen Euro in Aussicht gestellt. Nach UN-Schätzungen würde dies, sofern die Zahlungen tatsächlich eintreffen – das ist in vergleichbaren Fällen oft nicht geschehen –, eine Weile für das Nötigste reichen.
Alles weitere ist Gegenstand von Sondierungen und Verhandlungen, die gerade erst begonnen haben und bei denen nicht die afghanische Bevölkerung, sondern das westliche Bestreben, Einfluss auf die neue Regierung in Kabul zu nehmen, im Vordergrund steht.