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US-Generalstabschef: Bürgerkrieg in Afghanistan ist wahrscheinlich

Washington/Ramstein (dpa/iz). US-Generalstabschef Mark Milley hat sich besorgt darüber geäußert, dass Afghanistan nach der Machtübernahme der Taliban und dem Abzug der internationalen Truppen in einen Bürgerkrieg abgleiten könnte.

„Ich weiß nicht, ob die Taliban in der Lage sein werden, ihre Machtstellung zu festigen und eine Regierung zu etablieren“, sagte Milley dem Sender Fox News am 4. August in einem Interview auf dem US-Luftwaffenstützpunkt Ramstein in Rheinland-Pfalz. „Meine militärische Einschätzung ist, dass sich die Lage wahrscheinlich zu einem Bürgerkrieg auswachsen wird.“

Eine solche Entwicklung könnte wiederum dazu führen, dass Terrorgruppen das Machtvakuum in Afghanistan für sich nutzen, warnte Milley. Zu befürchten sei, dass sich Al-Qaida neu formiert, die Extremisten des Islamischen Staats (IS) ihren Einfluss ausbauen „oder eine Vielzahl anderer Terrorgruppen“ sich am Hindukusch breit machen. „Es könnte sein, dass wir binnen 12, 24 oder 36 Monaten sehen werden, wie ausgehend von dieser Region der Terrorismus aufs Neue erstarkt. Und wir werden das beobachten.“

Mit dem Abzug der letzten US-Soldaten vom Flughafen Kabul war in der Nacht zu Dienstag der internationale Afghanistan-Einsatz nach fast 20 Jahren zu Ende gegangen.

Als wichtigstes Argument für den Truppenabzug hatte die US-Regierung angeführt, dass das Terrornetzwerk Al-Qaida faktisch zerschlagen und nicht mehr in der Lage sei, von dort aus Ziele in den USA anzugreifen. Nach Einschätzung der Vereinten Nationen war Al-Kaida bereits vor dem Abzug der internationalen Truppen in fast jeder zweiten afghanischen Provinz präsent.

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„Die Taliban haben sich monatelang auf diesen Augenblick vorbereitet“

(iz). Die rasante Übernahme Afghanistans durch die Taliban – halb Durchmarsch, halb Selbstaufgabe der bisherigen Regierung – hat Politiker, Militärs und Analysten in aller Welt geschockt. Längst ist von einem Scheitern „des Westens“ die Rede.

Hierzu sprachen wir mit dem geopolitischen Analysten D. Hurrell. Hurrell lebt in Südafrika und arbeitet derzeit als politischer Analyst und Dozent. Mit ihm sprachen wir über die enorme Geschwindigkeit des Taliban-Vormarsches, über das Zeitalter der Interventionen und darüber, wer nun in der Region profitieren könnte.

Islamische Zeitung: Am 15. August nahmen die Taliban nach einer enorm schnellen Kampagne, in der viele Provinzen und Städte beinahe kampflos an sie fielen, die Hauptstadt Kabul ein. Hat Sie der Verlauf der Ereignisse überrascht?

D. Hurrell: Ich denke, jeder war von der Geschwindigkeit überrascht, mit der Afghanistan überrollt wurde. Die meisten städtischen Räume des Landes wurden in einem Zeitraum von neun Tagen erobert. Das wird uns als ein Scheitern der Geheimdienste präsentiert. Die Wirklichkeit ist, dass internationale Kräfte und ihre afghanischen Verbündeten in zwanzig Jahren Kriegsführung nicht in der Lage waren, sie zu vertreiben.

Es gab keinen Zweifel darüber, dass die Gruppe Gebietsgewinne machen würden, sobald der US-Abzug begann und die Moral der afghanischen Armee (ANA) fiel. Ein frühes Anzeichen war ihre Weigerung, die Verpflichtung zur „Reduktion von Gewalt“ umzusetzen, die 2020 Teil des Vertrages mit den USA war. Viele glauben, dass die mit den USA verbündeten Warlords und Milizen gemeinsam mit Regierungskräften in der Lage gewesen wären, größere Städte wie Kandahar und Herat zu halten und zu verteidigen, sodass die Kämpfe auf das Hinterland beschränkt blieben.

Das war jedoch nicht der Fall. Afghanische Sicherheitskräfte kapitulierten im Angesicht des Vormarsches. Wir konnten zwischen Mai und Juli signifikante Geländegewinne in ländlichen Gebieten beobachten. Sie kopierten dabei ISIS/Daesh (vielleicht auch Dschingis Khan). Sie nutzten beispielsweise soziale Medien, auf denen sie Beispiele davon verbreiteten, was jenen widerfahren wird, die sich ihnen widersetzen. Ich beziehe mich dabei auf die häufig verbreitete Hinrichtung von Angehörigen der afghanischen Spezialkräfte (ANSF), wie sie sich in Malestan und Spin Boldak ergeben haben.

Zusätzlich sah die Doha-Vereinbarung eine Garantie vor, dass US-Luftangriffe außer von „Kampfgebieten“ zu enden hätten. Das führte dazu, dass die Taliban mit größerer Bewegungsfreiheit in vielen Gebieten agieren konnten. Was nicht nur ihre logistischen und materiellen Netzwerke stärkte, sondern auch politisch den Boden für eine Umgebung nach den USA bereitete.

Islamische Zeitung: War die de facto Übernahme Afghanistans durch die Taliban die Folge des US-Abzugs, der ohne sonderliche Bedingungen durchgezogen wurde?

D. Hurrell: Die Taliban haben sich monatelang auf diesen Augenblick vorbereitet. Es scheint, sie selbst seien von der Geschwindigkeit ihrer Offensive überrascht gewesen. Aber wir wissen, dass sie den Grundstein dafür gelegt haben. Über Monate gab es Drohungen und heimliche Verhandlungen zwischen den Taliban und lokalen Brigadekommandeuren, Warlords und Gouverneuren, die in die massenhaften Kapitulationen von Regierungstruppen der letzten Woche mündeten.

Natürlich gab es in einigen Provinzen heftige Gefechte zwischen afghanischen Einheiten und den Taliban wie in Helmand, Kandahar und Herat. Aber ihnen folgten die Aufgabe oder ein ausgehandelter Rückzug der Sicherheitskräfte. Die Taliban ließen es jeden wissen, dass sie entweder bei einer Kapitulation Amnestie gewähren würden oder man die Konsequenzen auf sich nehmen müsse. Ihre Offensive wurde von einer effektiven Kampagne in den sozialen Medien begleitet, die jeden Widerstand einschüchterte.

Es scheint, dass selbst die afghanischen Streitkräfte es versäumt haben, sich strategisch so zu positionieren, dass sie Kerngebiete auf Kosten von Gebieten verteidigen, die nicht zu halten waren. Die Unterstützung und Sicherheitskoordinierung zwischen Kabul und den Provinzen war offenbar sehr gering. Es gab keine defensive Führung. Das war eine Reflexion des hochkorrupten Klientelsystems, wie es sich in den letzten beiden Jahrzehnten entwickelte. Auch hatten sich afghanische Einheiten seit einem Jahrzehnt stark auf die USA, das alliierte Militär, Luftunterstützung und operationale Doktrin verlassen. Das bedeutete, dass die Armee ohne diese Unterstützung unorganisiert war und moralisch zusammenbrach.

Ein beitragender Faktor war die vollkommene Korruption und Funktionsstörung des afghanischen Militärs. Kommandeure und Offiziere stahlen das Geld und bezahlten ihre Soldaten nicht. Das führte zu Desertionen und zum Verkauf von Waffen auf dem Schwarzmarkt – an die Taliban.

Islamische Zeitung: Die Afghanistankampagne von NATO, USA und anderen Kräften leitete nach Ansicht einiger Beobachter den Kreislauf im Rahmen des sogenannten Krieges gegen den Terror ein. Markieren für Sie die jüngsten Entwicklungen das Ende einer Ära?

D. Hurrell: Nun gut. Der globale Krieg gegen den Terror hatte zwei widersprüchliche strategische Eigenschaften. Einerseits großflächige militärische Einsätze (Irak und Afghanistan) und geheime Jagden auf Geister in aller Welt (Al-Qaida). Die Kriege in Irak und Afghanistan waren natürlich daheim unbeliebt, teuer und ohne klar erzielbare Ziele im Hinterkopf. Wenn wir die Nationale Sicherheitsstrategie von 2002 betrachten, dann sprach sie von Terroristen, Massenvernichtungswaffen sowie den Abschied der Vereinigten Staaten von alten Mustern der Großmächtekonkurrenz.

Interessanterweise richtete die Strategie von 2017 ihren Fokus zurück zu einem „Wettbewerb der Großmächte“. Es scheint also, dass der amorphe nichtstaatliche Feind nach dem 11. September 2001 einer Konzentration auf die konventionelleren Herausforderungen gewichen ist. Dazu zählen die Ukraine-Krise, Chinas ständig wachsende militärische Expansion sowie die iranische Penetration verschiedener militärischer Arenen. Die Ära nach 9/11 mag niemals enden, aber der Sicherheitsfokus der USA und ihrer Verbündeten passen sich neuen Umständen an. Der Wettbewerb von Großmächten wird voraussichtlich erneute umfangreiche Militäreinsätze notwendig machen. Aber diese Konfliktzonen werden nicht mehr im Mittleren Osten liegen, sondern in Ostasien. Daher wird Biden sich auch auf eine Wiederherstellung der transatlantischen Beziehungen durch die NATO fokussieren.

Trotzdem besteht der Hunger auf Anti-Terror-Operationen fort wie fortgeführte Einsätze bestimmter westlicher Mächte im Sahel gegen militante Gruppen. Interessanterweise warnt ein aktueller Bulletin von Anti-Terrorismus in USA vor einer erhöhten Bedrohung durch einheimische Terroristen. Fallen die bösen Taten auf den Übeltäter zurück?

Islamische Zeitung: Es heißt manchmal, dass die Natur kein Vakuum erträgt. Was wären Ihrer Meinung die nächsten Schritte in Afghanistan? Kehren die Taliban zu ihrer Politik – wenn es so etwas gibt – aus den 1990er Jahren zurück?

D. Hurrell: Die Taliban erklären, dass ihre Ziele vergleichbar zu denen in den 1990ern seien: die Eroberung Kabuls und die Wiederherstellung des Islamischen Emirats Afghanistan. Die Gruppe erhöht ihre Mullahs zu politischen Führern und ultrakonservative Tendenzen bestehen fort. Ich kann mir vorstellen, dass sie die Praktiken der früheren Hochburgen wiederholen werden wie die Verweigerung der Schulbildung für Frauen und Mädchen sowie andere Vorgehensweisen. Jedoch sind die heutigen Kämpfer eine Generation nach der ursprünglichen Gruppe. Hinweise deuten an, dass die konservativen und traditionellen Tendenzen natürlich – und vielleicht geschwächt – durch zwei Jahrzehnte der Begegnung mit Ideen von außen beeinflusst wurden – inklusive durch andere Afghanen. Reporter in den von den Taliban kontrollierten Gebieten sprechen von „Widersprüchen“: Während sie vor zwanzig Jahren noch Fernsehgeräte an Masten aufhingen, sehen sie jetzt offenbar gerne indische und türkische Seifenopern im Satellitenfernsehen.

Der Taliban-Sprecher Suhail Shaheen sagte, die Gruppierung befürworte eine „offene, inklusive islamische Government“. Es ist nicht vollkommen klar, ob dazu auch Elemente der früheren Regierung gehören sollen. Aber das mag ein Versuch sein, eine internationale Anerkennung zu fördern. Er meinte auch, angesichts ihrer Beliebtheit sei „Legitimität und Anerkennung unser Recht“. Die Taliban bauten ihre Unterstützung im Laufe des Jahrzehnts auf und hielten sie aufrecht, indem sie die Korruption der afghanischen Regierung, einschließlich ihres Versagens bei der Bereitstellung grundlegender Dienstleistungen, zusammen mit dem Narrativ des Dschihad gegen die ausländischen Eindringlinge betonten. Dieses war Teil des Leims, der sie zusammenhielt.

Vermutlich werden sie sich um Zugang zu gewissen ausländischen Finanzmitteln bemühen, wenn wir in Betracht ziehen, dass die Staatsausgaben bei weitem die Kosten der Finanzierung einer Miliz durch Opiumgewinne überwiegen. Woher wird das Geld zur Aufrechterhaltung von Strom und Bewahrung der Infrastruktur kommen? Das Fundament ihrer Legitimität wird sich vom Kämpfen im Krieg hin zu effektiver Regierung verschieben müssen. Aus diesem Grund glaube ich, wird es keine Rückkehr zur Politik der 1990er geben, sondern einen intelligenteren Ansatz zur Förderung regionaler und später internationaler Anerkennung.

Selbstverständlich gibt es Unterschiede innerhalb der Organisation. Diese hängen davon ab, welche Fraktion gerade dominiert. Darüber hinaus könnten Versuche zur Erzwingung einer abstoßenden Form von Scharia Aufstände in größeren Städten provozieren, insbesondere in Kabul. Mindestens aber könnte die Zahl von Dissidenten anwachsen, die wegen der Ablehnung ihrer Doktrin die Gruppe sabotieren werden. Gerade eben sahen wir eine kleine Demonstration von Kabuler Frauen, die den Schutz ihrer Rechte forderten. Das ist natürlich eine optimistische Sichtweise. Es kann genauso eine Rückkehr zu den dunklen Tagen der 1990er geben.

Die andere Frage ist, was jetzt mit den Taliban-Gruppen geschieht. Nach zwei Jahrzehnten Korpsgeist und Zusammenhalt, die auf der Grundlage des Widerstands gegen einen ausländischen und sehr spezifischen inländischen Feind beruhten, muss man davon ausgehen, dass die Bindung schwindet, welche die Gruppe zusammenhielt. Das gilt insbesondere, sollten regionale, stammesbedingte und politische Differenzen an Einfluss gewinnen. Ich denke, wir sollten auch in Betracht ziehen, dass es notwendigerweise zu Machtkämpfen kommen wird, wenn die Taliban mit der Regierungsbildung beginnen, um regionaler und später internationale Anerkennung zu erlangen. Sollten sich die mächtigsten politischen Fraktionen daran beteiligen, könnte das zu Machtkämpfen führen.

Islamische Zeitung: Die Blitzoffensive der Taliban wurde als eine Niederlage „des Westens“ beschrieben. Werden China, Russland, Iran und Indien von der neuen Herrschaft in Afghanistan profitieren?

D. Hurrell: Ich denke, es ist vielsagend, dass die Taliban laut Berichten seit dem 16. August die russische und chinesische Botschaft in Kabul bewachen. Diese Vertretungen wurden nicht evakuiert und arbeiten weiter – genauso die des Irans. Diese Länder haben sehr pragmatische Ansätze im Umgang mit dieser militanten Organisation an den Tag gelegt – und tun es weiterhin. Es gibt Berichte, wonach Russland schon vor Jahren seine Fühler in Richtung Taliban ausgestreckt hat. Angeblich soll Moskau Kopfprämien für die Tötung amerikanischer Soldaten gezahlt haben.

Alle Regionalmächte wussten, dass die Amerikaner eines Tages gehen und die Taliban, oder ihre Nachfolger, bleiben würden. Diese ausländischen Akteure werden sich mit den Taliban austauschen, um den Bestand ihrer Interessen zu sichern – insbesondere bei Fragen der Grenzsicherheit. China und Russland scheinen diesbezüglich Signale an die Taliban zu senden. Kürzlich organisierten beide Staaten Militärübungen in Nordwestchina, während Russland am 10. August ebenfalls Übungen mit Truppen aus Tadschikistan und Usbekistan nahe der afghanischen Grenze abhielt. Beide betrachten Afghanistan als ein sehr instabiles Land. Von beiden hört man Besorgnis über die Unsicherheit, die von Afghanistan ausgeht und in ihre Gebiete eindringt, weshalb eine präventive Diplomatie mit der Gruppe als notwendig erscheint.

Zuvor versuchte Peking, Afghanistan über den Bau der Autobahn Peschawar-Kabul zum Teil seines Projekts einer „Neuen Seidenstraße“ (BRI) zu machen. Das würde Afghanistan in das Netzwerk von Autobahnen, Eisenbahnstrecken und Energiepipelines zwischen Pakistan und China einbringen. China wird wahrscheinlich Verhandlungen mit Taliban fortführen. Diese haben angedeutet, chinesische Investitionen wären willkommen und würden beschützt. Russland hat nur geringe ökonomische Interessen im Land. Währenddessen versucht der Iran, sein „Einflussgebiet“ in Afghanistan auszubauen; inklusive unter Afghanen in der Gemeinschaft der schiitischen Hazara.

Für die meisten regionalen Staaten dürfte die nahe Zukunft eine Periode des Krisenmanagements sein und Fallout eines Regierungszusammenbruchs beinhalten. Auch die Frage von Flüchtlingsströmen wird auftreten. Eine andere Sorge ist die wachsende Präsenz des IS/Daesh im Norden. Nachbarstaaten dürften sich mit den Taliban absprechen, um diese Bedrohung zu neutralisieren.

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Die Theorie des Partisanen holt die Taliban ein

(iz). Die Bücher des, wegen seiner Nähe zum Nationalsozialismus verfemten, Staatsrechtlers Carl Schmitt behandeln Kernfragen moderner Ordnungsmodelle. So werden Werke wie „Nomos der Erde“, „Der Begriff des Politischen“ oder „Theorie des Partisanen“ weiterhin zitiert, wenn es um die Einordnung geopolitischer Ereignisse geht. In der letztern Schrift (1962 publiziert) drehte sich sein Denken um die weltpolitische Bedeutung des Partisanen.

In seiner Abhandlung beschreibt der Jurist das alte Paradox, das verhältnismäßig kleine Partisanengruppen unter Ausnutzung der Verhältnisse am Boden große Mengen regulärer Truppen binden. Der Fall Afghanistan sowie Sieg der Taliban zeigen, dass dieses Phänomen immer noch Aktualität beansprucht. In seiner Theorie sind es vier Kriterien, welche die spezifischen Eigenschaften jener Kämpfer aufzeigen: Irregularität, gesteigerte Mobilität, Intensität des politischen Engagements und ihr tellurischer Charakter.

Ihre Partisanentaktik erklärt den schockierenden Erfolg der Taliban. Wobei ihre religiösen (man sagt „mittelalterlich“ geprägten) Überzeugungen die Intensität ihres Kampfes begleiten, wenn auch nicht vollständig erklären können. Bereits ihre Ausrüstung und Umgang mit Kriegsmaterial der neuesten Generation, ihre Fähigkeit zum totalen Krieg und ihr Wille zur Macht ohne Rücksicht auf Verluste zeigen, dass sie Kinder der Moderne sind. Jetzt wird sich zeigen, ob sie zu einer Formensprache finden, die so etwas wie Realpolitik ermöglicht.

Nach Jahrzehnten trostloser Auseinandersetzungen muss der Frieden für alle Beteiligten das primäre Ziel sein. Am Rande könnte der Westen einige seiner eigenen Widersprüche auflösen. Die Irregularität des Taliban-Kampfes hat die Amerikaner zu einer Strategie der Luftschläge und Drohnenkriege verführt und mündete zu Recht in die Debatte, ob diese Mittel – man denke nur an zivile Opfer – vertretbar sind. Auf dem Boden war die westliche Koalition nie in der Lage, das Land nachhaltig zu befrieden.

Jetzt wird sich erweisen, ob es den Taliban gelingt, ihren Status als kämpfende Kriminelle zu überwinden und Ordnungsmacht zu werden. Bisher waren sie nur ein „Unwert“ im westlichen Wertesystem. China und Russland sind hier zu Zugeständnissen bereit. Vermutlich ebenso die Amerikaner, die sie mit ihren Geheimverhandlungen faktisch aufgewertet hatten.

Es gibt eine Passage in „Theorie des Partisanen“, die zumindest aus weltpolitischer Sicht ein wenig Hoffnung auf ein gutes Ende in der Region stiftet. Nach Schmitt hat der Partisan einen wirklichen, aber keinen absoluten Feind. Für ihn folgte daraus eine andere Grenze der Feindschaft aus dem tellurischen Charakter des Irregulären, der ein Stück Erde verteidige, zu dem er eine autochthone Beziehung habe. Nur weil dieser absolute Begriff der Gegnerschaft den ehemaligen Kämpfern fehle, sei überhaupt ein Friedensabkommen im Bereich des Möglichen.

Im Gegensatz zur Pragmatik der Taliban zeigt sich der Terrorismus der IS-Terroristen klarer. Das sind Gruppen, die ebenso irregulär kämpfen, aber keine vergleichbaren politischen Motivationen kennen, sondern ihren religiös verklärten Nihilismus global verbreiten. Der Vernichtungswille dieser Verbrecher ist seiner Natur gemäß absolut, ihr Ziel ist das Chaos, während die Taliban – zumindest rhetorisch – in Kabul so etwas wie eine Ordnung im Rahmen eines lokalen Rechtssystems etablieren. Mit der Trennung von Ordnung und Ortung definierte Schmitt im „Nomos der Erde“ den eigentlichen Wesenszug von Nihilismus. Frei von dieser nihilistischen Seite waren auch die Amerikaner nicht. Man denke nur an die geheimen Lager und rechtsfreien Zonen in der Region sowie in Guantanamo.

Bei aller Vorsicht angesichts der tatsächlichen Ambitionen der Taliban streben sie zumindest bisher kein weltumspannendes Machtsystem unter ihrer Führung an. Es wäre sogar denkbar, dass ironischerweise ausgerechnet die neuen Machthaber in Kabul am internationalen Kampf gegen den Terrorismus teilnehmen könnten. Wenn auch nur, um ihre lokale Macht abzusichern. Zumindest in dieser Hinsicht und aus dem Sicherheitsinteresse Europas heraus betrachtet, wäre dies ein Fortschritt und eine Eindämmung in der Produktion neuer Terroristen.

Ihre Ankündigung, ein „Emirat“ auf Grundlage einer souveränen Nation zu formen, steht zunächst für die Hoffnung, die eigene Irregularität zu verlassen. Sie wären nicht die ersten Kämpfer in der Weltgeschichte, denen die Verwandlung zu Politikern gelingt. Dabei werden sie die Geister, die sie riefen, nicht loslassen. Schon jetzt bilden sich am Hindukusch neue Partisanengruppen gegen ihre Macht. Da jeder Partisan meist mit Hilfe Dritter handelt, wird man hier genau hinsehen müssen, wer diesen Terror von Außen unterstützt.

Bald werden die Talibantruppen offizielle Uniformen anziehen müssen, um von anderen Partisanen unterscheidbar zu werden. Zweifellos werden sie nicht mehr im Schutz der Berge und der Dunkelheit operieren. Ihre Taten im Rahmen einer Regierungsverantwortung werden durch die Macht der sozialen Medien transparent sein. Ihre Souveränität wird eingeschränkt sein. Sie beherrschen nicht den Luftraum. Vermutlich bleiben sie auf den Zugang zu internationalen Finanzsystemen angewiesen, ohne den heute kein Staat zu herrschen vermag. Bisher verfügen die Afghanen nicht einmal über die Ressourcen ihrer Nationalbank, deren Geld in den Vereinigten Staaten lagert.

Man muss allerdings befürchten, dass durch den US-Abzug aus der Region sowie der Ankündigung, mit der Welt in Frieden leben zu wollen, ein Vakuum entsteht, das mit intensiven Freund-Feind-Definitionen in der afghanischen Innenpolitik besetzt wird. Bisher war die politische Dynamik alleine von Feindbildern geprägt. Bleibt dies so, wäre ein Bürgerkrieg keine Überraschung. Der Umgang mit Minderheiten, Frauen und ethnischen Gruppen wird eine Friedensfähigkeit beweisen. 

Der eigene Anspruch, eine „islamische“ Ordnung zu sein, wird ebenso auf dem Prüfstand stehen. Bisher hat kein religiös geprägter Staat der Welt diese Forderung im Feld von Ökonomie und Wirtschaftsrecht umgesetzt. Durchaus möglich, dass die Taliban – wie an anderen Stellen gesehen – alle ökonomischen und sozialen Einrichtungen moderner Staaten nur mit dem Adjektiv „islamisch“ ergänzen und ihre religiöse Seite sich ausschließlich in einem rigiden Kontroll- und Moralsystem über die eigene verarmte Bevölkerung zeigt. Sicher ist nur: Frieden wird sich nicht ohne Gerechtigkeit einstellen.

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Taliban an der Macht verstärken uigurische Befürchtungen

China

(iz). Gerade eben verkündeten die siegreichen Taliban nach dem Abzug des letzten US-amerikanischen Soldaten, Afghanistan sei nun wieder eine „souveräne Nation“. Ihre Übernahme des Landes hat nicht nur zu Fragen geführt, wie die Gruppierung ihre Macht im Inland nutzen wird. Trotz verschiedener Signale an das Umfeld bleibt es offen, wie seine direkten und indirekten Nachbarn auf den jetzigen Sieg reagieren  oder wie die Machthaber in Kabul verfahren werden.

Das erste Mal seit 2001 steht die Hauptstadt unter ihrer Kontrolle. Momentan sind die verschiedenen Kommandoebenen – in Doha, Pakistan sowie Kommandeure im Land – im Prozess einer Regierungsbildung. Jenseits von Ankündigungen in Pressekonferenzen und -gesprächen.

Bisher richtet sich der weltweite Fokus vorrangig – und verständlich – auf die Perspektive von Afghanen in Hinblick auf die neuen Herren in Kabul. Immerhin sind sie direkt von ihrer Politik und ihrem konkreten Verhalten als erste und am stärksten betroffen. Von der deutschen Öffentlichkeit unbeachtet sehen Exiluiguren eine angedeutete Annäherung zwischen Kabul und Peking mit Sorge.

In einem Fachreader der International Crisis Group (ICG) vom 26. August zu Reaktionen und Optionen von Nachbarländern beschäftigt sich die China-Expertin Amanda Hsiao mit einem zukünftigen Verhältnis Pekings zu den Taliban.

Nach Ansicht verschiedener Beobachter und Medien liegen seine Interessen in drei Bereichen: afghanische Rohstoffe, seine Integration in die Road-and-Belt-Initiative (Projekt Neue Seidenstraße) sowie Sorgen um die regionale und innere Sicherheit Chinas. Hsiao betont in ihrem Text vor allem die chinesische Angst vor einem Übergreifen der Unsicherheit – sowohl auf das eigene Gebiet als auch Drohungen gegenüber eigenen Bürgern und Projekten in Pakistan. China setze „vor allem durch diplomatischen und ökonomischen Austausch“ auf die Förderung von Stabilität in Afghanistan.

Darüber hinaus hinterlasse der westliche Rückzug vom Hindukusch ein Vakuum. Das gäbe China mehr Freiraum in Zentralasien. Für Peking könne sich das als zweischneidiges Schwert erweisen. Die Abwesenheit der USA in Afghanistan mache regional Platz. Allerdings stünden Washington nun neue Ressourcen im indopazifischen Raum zur Verfügung, um dort Druck auf China ausüben zu können.

Für Uiguren, insbesondere Exilanten in Zentralasien, ist relevanter, dass Peking  auch in Afghanistan unter dem Deckmantel eines „Kampfes gegen den Terror“ Druck auf die verfolgte Minderheit ausüben werde. Nach Ansichten von Hsiao hätten die Taliban hier beschwichtigende Signale bezüglich der kleinen Extremistenbewegung ETIM (die auf einige hundert Uiguren geschätzt wird) in Afghanistan gesendet.

„Peking wird die Taliban-Regierung anerkennen wollen, wahrscheinlich nachdem oder gleichzeitig mit Pakistan, aber bevor ein westliches Land dies tut, obwohl der Zeitpunkt dieses Schrittes zum Teil davon abhängen könnte, ob es gelingt, von den Taliban zusätzliche Zusicherungen in den beiden Fragen zu erhalten, die ihm am wichtigsten sind“, lautet die Einschätzung der ICG-Expertin.

Am 24. August berichtete der US-amerikanische Sender Radio Free Asia, wie Exiluiguren in Afghanistan auf den Erfolg der Taliban reagieren. Sie seien „voller Schrecken“. Diese Machtübernahme könne bedeuten, dass sie nach China ausgeliefert würden, wo ihnen „harte Strafen“ drohten. Menschenrechtsgruppen befürchteten „das Schlimmste“ für die geschätzten 2.000 Uiguren, die derzeit leben würden.

Nach Angaben eines Mannes, dessen Eltern bereits in Afghanistan geboren wurden, seien die rund 80 uigurischen Familien in der Hauptstadt verwirrt und fürchteten um ihr Leben. Er selbst sei bei einem Gang zum Bäcker von einzelnen Taliban geschlagen worden. Exiluiguren in der Türkei hätten mittlerweile von Kontakten in der nördlichen Stadt Mazar-e-Sharif berichtet, wonach Taliban in Privatwohnungen eindringen und Mädchen entführen würden. „Kasachstan fliegt Kasachen aus Afghanistan, Usbekistan nimmt Usbeken, die Türkei und alle anderen Länder nehmen ihre Bürger mit, aber niemand (…) hilft unst“, sagte ein Kabuler Uigure.

Bereits am 11. August veröffentlichte das Uyghur Human Rights Project (UHRP) einen neuen Bericht, wonach Pakistan und die nun gestürzte afghanische Regierung „Komplizen“ Pekings in der grenzübergreifenden Unterdrückung von Uiguren seien. Das chinesische Vorgehen gegen Exilgemeinschaften in den beiden Ländern würde die Menschenrechte und weltweite Standards verletzen, so die Autoren.

Seit 1990 gab es 60 Ausweisungen von Uiguren durch pakistanische Sicherheitskräfte im Windschatten des internationalen Antiterror-Kriegs. China hält den Druck auf Exiluiguren aufrecht, die über Pakistan, Afghanistan und andere Staaten in den Westen fliehen. In den letzten 10-15 Jahren soll sich die Stärke der dortigen Gemeinschaft von rund 3.000 Menschen auf bloß 100 Personen reduziert haben.

„Pakistan und Afghanistan werden zu chinesischen Klientenstaaten“, sagte UHRP-Direktor Ömer Kanat. „Auf Geheiß der chinesischen Behörden werden in Islamabad und Kabul gefährdete Uiguren schikaniert, inhaftiert und deportiert. Einige der ins Visier genommenen Uiguren sind in China gefoltert und hingerichtet worden, während andere die Zerschlagung ihrer Familien und die rigorose Überwachung ihrer Gemeinschaften erlebt haben. Chinas wirtschaftliche Großzügigkeit kann jede Art von Komplizenschaft bei der Gewalt gegen Uiguren erkaufen.“

Für das Fachmedium „Bitterwinter“ beschäftigte sich die Analystin Ruth Ingram mit den Auswirkungen der Machtübernahme für Uiguren in der Region. Bereits vor ihrem Sieg hätten die Taliban gegenüber Peking versprochen, dass sie keinen antichinesischen Terror auf ihrem Gebiet zulassen würden. Sie würden bei der Abschiebung von „problematischen“ Uiguren kooperieren. Damit hätten sie der Kommunistischen Partei eine weitere Waffe für ihr Arsenal im sogenannten Krieg gegen den Terror gegeben. Dieser verlasse sich auf die Zusammenarbeit mit engsten Nachbarn und „dem Schweigen der muslimischen Staaten“.

Exiluigurische Organisationen sowie westliche Forscher hätten seit Jahren dokumentiert, dass der Verweis auf die Terrororganisation ETIM, wenn es sie denn überhaupt gäbe, keine faire Repräsentation von Uiguren insgesamt sei. Und Uiguren sollten nicht durch Aktionen geschmäht werden, welch die ETIM in ihrem Namen beginge.

Die Uiguren seien zu den Opferlämmern auf dem Altar von Pekings unaufhaltsamem wirtschaftlichen und politischen Marsch nach Westen geworden. Die KPCh habe sich Loyalität, Schweigen und Komplizenschaft mit Versprechungen für Hilfe, Wohlstand und Schutz erkauft. „Pakistans unerschütterlicher chinesischer Verbündeter Imran Khan leugnet jede Kenntnis von der Notlage der Uiguren vor seiner Haustür, und das neue Taliban-Emirat ist bereit, seinen Stolz zugunsten von Bergen von Geld für Bau- und Schürfrechte herunterzuschlucken“, so Ingram.

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Weltweite Hilfsappelle für Menschen in Afghanistan

Auch am Wochenende haben Vertreter von Nichtregierungsorganisationen und der Kirche weiter Hilfe für die Menschen in Afghanistan gefordert. Der Blick richtete sich insbesondere auf Frauen und Kinder. Zudem wurden Rufe zu einer Erleichterung von Asylverfahren laut. Amnesty International und Reporter ohne Grenzen forderten Visa für Gefährdete.

Bonn (KNA). „Wir können in historischen Momenten wie diesen nicht gleichgültig bleiben“, mahnte Papst Franziskus beim Mittagsgebet auf dem Petersplatz am 29. August. Die leidgeprüfte Bevölkerung benötige dringend Unterstützung – vor allem Frauen und Kinder. Er nehme großen Anteil am Schicksal der Menschen und gedenke der Opfer des verheerenden Terroranschlags in Kabul vom Donnerstag.

Die von Franziskus angestoßene Solidaritätsinitiative „Economy of Francesco“ rief zudem einen internationalen „Marsch für die Rechte afghanischer Frauen“ ins Leben. Laut Vatican News beteiligten sich am Samstag Aktivisten in mehreren Städten und Ländern. Das Vorrücken der militant-islamistischen Taliban habe laut UN nicht nur zu willkürlichen Tötungen geführt, erläuterte Olena Komisarenko, Mitglied von „Economy of Francesco“. Viele Frauen seien plötzlich verschwunden oder eingesperrt worden.

Das UN-Flüchtlingshilfwerk rief die Nachbarstaaten von Afghanistan zu Solidarität auf. Mehr als eine halbe Million Afghanen, die Mehrheit davon Frauen und Kinder, seien aufgrund der in den vergangenen Wochen gestiegenen Gewalt und Unsicherheit auf der Flucht, twitterte das UNHCR am gleichen Tag. Die Nachbarländer sollten deswegen die Grenzen offenhalten. „Die Möglichkeit, Sicherheit zu suchen, kann das Leben unzähliger Zivilisten retten.“

Die UNHCR-Vertreterin in Deutschland, Katharina Lumpp forderte, die Bundesregierung müsse mit Blick auf Flüchtlinge aus Afghanistan Asylverfahren und den Familiennachzug erleichtern. Asyl für afghanische Flüchtlinge treffe derzeit vor allem die Nachbarländer des asiatischen Staates, in denen schon seit Jahrzehnten 90 Prozent aller afghanischen Flüchtlinge lebten, sagte Lumpp der „Augsburger Allgemeinen“ (Montag). „Daher ist es auch so wichtig, sich solidarisch zu zeigen, in Worten und Taten.“

Ein Sprecher von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sagte am 28. August nach einem Telefonat der Kanzlerin mit dem britischen Premierminister Boris Johnson und dem niederländischen Premierminister Mark Rutte, dass sich alle einig seien, „dass der Ausreise von Staatsangehörigen, Ortskräften und schutzbedürftigen Menschen aus Afghanistan auch weiterhin höchste Priorität zukommt, ebenso wie der humanitären Versorgung der Bevölkerung und der Flüchtlinge in der Region.“

Außenminister Heiko Maas (SPD) erklärte am 20. August anlässlich seiner Reise in die Region um Afghanistan: „Deutschlands Engagement endet nicht mit dem Abschluss der militärischen Evakuierungsmission. Wir konnten in den vergangenen Wochen auf internationale Zusammenarbeit und Unterstützung zählen.“ Man wollte sich mit den Nachbarstaaten Afghanistans darüber verständigen, „wie Deutsche, unsere Ortskräfte und weitere schutzbedürftige Afghaninnen und Afghanen schnell und sicher nach Deutschland gelangen können“.

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Tausende Afghanen stehen auf Wartelisten für Familiennachzug

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Berlin (KNA). Mehr als 4.000 afghanische Staatsbürger haben vor Beginn der Luftbrücke in Kabul auf einen Termin in deutschen Auslandsvertretungen für ein Visum zum Familiennachzug gewartet. Mit Stand 16. August hätten sich „auf den Terminlisten der Botschaften für den Familiennachzug insgesamt für die Beantragung in Islamabad 2.775 Personen (davon 791 zu subsidiär Schutzberechtigten) und für Neu Delhi 1.388 Personen (davon 196 zu subsidiär Schutzberechtigten) registriert“, hieß es auf Nachfrage der Zeitungen der Funke Mediengruppe aus dem Auswärtigen Amt.

Insgesamt warteten demnach Mitte August noch 4.163 afghanische Staatsbürger auf einen Termin zur Familienzusammenführung. Das ist ein deutlicher Anstieg im Vergleich zu Anfang Mai 2021. Laut einer Antwort der Bundesregierung auf Anfrage der Linksfraktion warteten damals in Islamabad knapp 1.879 Afghanen auf einen Termin für den Familiennachzug, in Neu Delhi waren es 1.138.

Unklar ist, wie viele dieser Menschen in den vergangenen Tagen mit Hilfe von internationalen Rettungsfliegern aus Afghanistan ausgeflogen worden sind. In Deutschland anerkannte Flüchtlinge haben grundsätzlich das Recht, ihre engsten Angehörigen, etwa Ehegatten und Kinder, über das Verfahren zum Familiennachzug nach Deutschland zu holen.

Seit dem Terroranschlag auf die deutsche Botschaft 2017 in Kabul laufen die Visaverfahren für afghanische Staatsangehörige zum Familiennachzug in den deutschen Auslandsvertretungen in Pakistan und Indien. Nach Angaben der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linksfraktion beträgt die Wartezeit für einen Termin zur Familienzusammenführung etwa im pakistanischen Islamabad sowie im indischen Neu Delhi „über ein Jahr“.

Außenminister Heiko Maas (SPD) hat angekündigt, in den kommenden Tagen in die Region zu reisen. Maas hatte unlängst mit Blick auf die dramatische Lage in Afghanistan zudem versprochen, die „Kapazitäten unserer Visastellen in Islamabad, Neu Delhi, Taschkent“ aufzustocken und die „Möglichkeiten der zentralen Visabearbeitung im Bundesamt für Auswärtige Angelegenheiten voll zu nutzen“.a

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Woran ist man gescheitert? Zur Niederlage des Westens am Hindukusch

Die Entscheidung von Präsident Biden, die US-Truppen endlich aus Afghanistan abzuziehen, war richtig und sicherlich überfällig. Die mangelnde Vorbereitung auf einen geordneten und sicheren Abzug war jedoch ein weiterer schrecklicher […]

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Interview: Wie sehen Deutschafghanen die aktuelle Lage?

(iz). In Deutschland gibt es sowohl eine exilafghanische Community, die wegen der Krisenspitzen der letzten Jahrzehnte nach Deutschland gekommen ist. Darüber hinaus leben hier auch viele Menschen mit afghanischen Wurzeln, die teil schon in der dritten oder vierten Generation in Deutschland ihre Heimat fanden.

Nach der rapiden Einnahme von afghanischen Provinzhauptstädten und schließlich dem plötzlichen Fall der Hauptstadt Kabul sind diese Menschen umso betroffener, als die allermeisten noch Angehörige in dem Land haben. Mit einigen haben wir in den letzten zwei Wochen gesprochen. Im Folgenden sprechen wir mit mit Belal el-Mogaddedi. Er ist seit Langem, wie viele Deutschafghanen, unter anderem in der muslimischen Community aktiv und Vorsitzender der Deutschen Muslim-Liga e.V.

Islamische Zeitung: Lieber Belal El-Mogaddedi, in Deutschland leben Afghanen bzw. Deutschafghanen seit den 1950ern oder kamen in verschiedenen Krisenpunkten der letzten Jahrzehnte hierher. Wie reagiert die Community bzw. Ihr Umfeld auf die jüngsten Ereignisse?

Belal el-Mogaddedi: Nun, die Reaktionen sind höchst unterschiedlich. Wie sollte es auch anders sein. Es gibt diejenigen, die auf die Straße gehen und gegen die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan demonstrieren. Andere dagegen begrüßen diese Machtübernahme, behalten ihre Sympathien für die Taliban aber für sich, um in der Öffentlichkeit nicht anzuecken. Und die dritte Gruppe besteht aus den Menschen, die jetzt erst einmal abwarten, die Lage genau beobachten, sie studieren und sagen, dass man den aktuellen Entwicklungen erst einmal etwas Zeit geben soll, bevor man ein abschließendes Urteil fällt.

Islamische Zeitung: Nach den letzten Tagen zeigten sich Politiker und Experten sehr überrascht. Kam die Implosion der afghanischen Regierung ebenso plötzlich für Exil- und Deutschafghanen?

Belal el-Mogaddedi: Der Vormarsch der Taliban ist für viele Afghanen, die ihr Land gut kennen, sicherlich nicht überraschend gekommen, nachdem im vergangenen Jahr zwischen der Regierung Trump und den Taliban in Doha ein Abzugsabkommen geschlossen worden ist. Friedensabkommen kann man das dünne Papier, das in Doha unterzeichnet worden ist, ja nicht nennen.

Was mich persönlich etwas überrascht hat, ist die Tatsache, dass die Taliban im Norden Afghanistans die Provinzzentren so schnell einnehmen konnten, bevor sie in ihren eigentlichen Einflusszonen im Südosten Erfolge erzielten. Der Zusammenbruch der afghanischen Regierung unter Aschraf Ghani ist für Kenner des Landes sicherlich auch nicht überraschend gekommen, weil diese Regierung kein besonders hohes Ansehen in der Bevölkerung genoss.

Dass sich der Zusammenbruch aber derart schnell, also innerhalb weniger Tage, vollzog, hat kaum jemand voraussehen können. Spätestens nach dem Fall von Ghazni hätte aber jeder wissen müssen, dass das Überleben der Regierung von Herrn Ghani nur noch eine Frage von wenigen Wochen und nicht Monaten sein konnte. Und als dann die nur wenige Kilometer von Kabul entfernte Provinzhauptstadt von Logar, Pul-i-Alam, fiel, war eigentlich klar, dass die Regierung Ghani Geschichte ist.

Islamische Zeitung:  Wie erlebt man eine solche Situation als Person und als Familie, wenn die Zukunft der Angehörigen so ungewiss ist?

Belal el-Mogaddedi: Ich stehe seit dem Fall Kabuls, der ja – Gott Sei Dank – im Vergleich zu den Kriegsszenarien der vergangenen 20 bzw. 43 Jahre Krieg in Afghanistan relativ friedlich erfolgt ist, mit in Afghanistan lebenden Verwandten und sehr guten Freunden in fast täglichem Kontakt. Selbstverständlich macht man sich Sorgen um Freunde und Familie. Aber man erfährt durch sie auch, dass Kabul eben viel mehr ist, als uns die auf den Flughafen konzentrierte mediale Berichterstattung weismachen will.

Das Leben geht weiter; anders, aber es geht weiter. Die meisten Geschäfte sind geöffnet. Die öffentliche Sicherheit, wen verwundert es, ist besser als noch vor zehn Tagen. Niemand kann mit Sicherheit sagen, wie schnell sich das zukünftige politische System in Afghanistan etablieren kann und inwieweit es eine wirkliche inklusive Regierung geben wird.

Man muss Geduld aufbringen, und meine Verwandten und Freunde beobachten die Entwicklungen sehr genau. Was ich allerdings immer wieder in meinen Telefonaten erfahre, ist, dass keiner das Land momentan verlassen will. Ein sehr guter Freund sagte mir vor drei Tagen: Einmal im Leben Flüchtling sein zu müssen, hat mir gereicht. Ich bleibe! Das bewegt und beeindruckt mich sehr.

Afghanistan bleibt auch für mich immer mein Sehnsuchtsland, so dass ich sehr gut verstehen kann, warum dieser sehr gute Freund, ein studierter Jurist, in Afghanistan bleiben will. Um es mal salopp mit einem abgewandelten Zitat von Franz Müntefering zu verdeutlichen: Flüchtling zu sein, ist Mist!      

Islamische Zeitung: Viele Exil- und Deutschafghanen, gerade die hier geborenen, haben das Land noch nie oder nur selten gesehen. Was bedeutet Afghanistan für die Community? Gibt es da einheitliche Bilder?

Belal el-Mogaddedi: Da muss man sicherlich zwischen denen unterscheiden, die Afghanistan nur aus den Erzählungen ihrer Eltern kennen und das Land nicht besucht haben, und denen die zu unterschiedlichsten Zeiten seit dem Fall der kommunistischen Machthaber in Afghanistan in unterschiedlichsten Eigenschaften das Land privat besucht oder dort sogar gearbeitet haben.

Die Bilder sind hier sehr unterschiedlich. Da ist die ganze Bandbreite von Bildern vorhanden. Da gibt es das nostalgische Bild eines Afghanistans unter dem König Zahir Shah, in dem alles gut und geordnet war, was natürlich nicht der Realität entspricht. Und dann gibt es das Bild, dass in den vergangenen 20 Jahren dort alles bestens war, und auch dieses Bild ist nicht richtig.

Ich klammere ganz bewusst die Zeit des Bürgerkrieges von 1992-1996 und die sich daran anschließende Herrschaft der Taliban hier einmal bewusst aus. Jeder hat seine eigenen Eindrücke und Bilder im Kopf.

Viele nehmen Afghanistan nur durch ihre Besuche in Kabul wahr, aber Kabul ist nicht Afghanistan, genauso wenig wie Berlin Deutschland ist. Es ist viel mehr als die Hauptstadt. Afghanistan ist reich an Ethnien, Kulturen, Lebensweisen mit allen Vorteilen und Herausforderungen, die so ein Reichtum mit sich bringen kann. 

Islamische Zeitung: Die Medien zeichnen oft sehr holzschnittartige Bilder von Afghanen – von der hippen, befreiten Frau über die gesichtslosen Opfer bis zum düsteren Talib. Finden sich die Menschen da wieder?

Belal el-Mogaddedi: Nein, natürlich nicht. Medienvertreter reisen in den seltensten Fällen durch das Land. Haben Sie schon einmal einen Bericht über die wunderbare Stadt Herat in den Hauptnachrichten gesehen, über die pulsierende Stadt Jalalabad, über das Leben in Kandahar, Kundus und Mazar-i-Scharif? Ich habe keinen gesehen.

Differenzierung in der Berichterstattung ist nicht gerade die Stärke westlicher Medienvertreter in Afghanistan, die sich aus ihrem Kokon in Kabul kaum herauswagen.

Die Bandbreite des Denkens und der Lebensvorstellungen bzw. -einstellungen sind in Afghanistan, wie in jedem anderen Land in dieser Welt, sehr groß. Dazu muss man aber auch mal einen Blick über den Kabuler Tellerrand hinaus wagen, durch das Land reisen, Stimmen auf dem Land einfangen, sich von Vorverurteilungen lösen und der Vorstellung der eigenen kulturellen Überlegenheit distanzieren.   

Islamische Zeitung: In Deutschland reden wir meist von „Afghanen“, während die dortige Gesellschaft weitere ethnischen und kulturellen Ausprägungen kennt. Spielen diese Differenzen eine Rolle für Deutschafghanen?

Belal el-Mogaddedi: Mit den ethnischen und kulturellen Ausprägungen ist in den vergangenen Jahren sehr viel gespielt worden, und hätten sich bestimmte politische Akteure während des Bürgerkrieges in den 1990er Jahren durchgesetzt, wäre Afghanistan in drei Teile zerfallen. Ich betrachte jeden, der einen afghanischen Pass in der Tasche trägt, als Afghanen; genauso wie jeder, der einen deutschen Pass in der Hand hält, ein Deutscher ist. Und zwar ohne Wenn und Aber.

Natürlich gibt es Akteure in der afghanischen Community im Ausland, also auch hier in Deutschland, die sich auf ihre ethnische Zugehörigkeit etwas einbilden, und einen Vorteil für sich daraus ziehen wollen. Ich habe mit diesem Denken nie etwas anfangen können, es ist mir sehr zuwider. Ganz gleich ob wir Hazaras, Uzbeken, Tadschiken oder Paschtunen sind, ob wir Juden, Hindu, Sikhs oder Muslime sind, wir können nur in der Einheit für Afghanistan arbeiten, zum Wohle und im Interesse aller Afghanen. Für mich als Muslim ist das mehr als nur eine Überzeugung, es ist mein religiöser Auftrag so zu denken und so zu handeln.

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Wer mäßigt die Taliban? Ein Kommentar über realpolitische Herausforderungen

the afghans

Berlin (iz).

(iz). Es gehört zu den berühmten Erkenntnissen Machiavellis, dass die erfolgreiche Eroberung eines Gebietes durch den Fürsten, vom Volk schnell beklatscht wird, auch wenn die angewandten Mittel dazu weder gerecht noch angemessen waren. Die Idee, dass erhabene Ziele die gewählte Umsetzung rechtfertigen, wurde später zu einem der Leitgedanken moderner Politik.

Der Plan der Eroberung und Demokratisierung Afghanistans mit militärischer Macht wurde in den USA entworfen, ohne dass die Strategie je einer faktischen, rechtlichen oder moralischen Prüfung unterzogen wurde. Der Westen wurde schmerzhaft an die Weisheit erinnert, dass man Alliierte am Hindukusch mieten, aber auf Dauer nicht kaufen kann. Die Kosten für das geopolitische Abenteuer waren gigantisch und zum größten Teil ein profitables Geschäft für die Militär- und Sicherheitsindustrie.

Das Scheitern der Allianz in dem Vielvölkerstaat zwingt die Muslime das neue Regime in dem Land, das sich ausdrücklich auf den Islam beruft, zu beurteilen. Unsere Sympathie gehört dabei zunächst allein der geschundenen Zivilbevölkerung, die wahrlich eine bessere Zukunft verdient. Viele Muslime befürchten zu Recht, dass das sogenannte Emirat das Ressentiment gegen die eigene Präsenz in der Öffentlichkeit weiter anheizen wird.

Die Produktion von Bildern, die einen archaischen und rückwärtsgewandten Islam zeigen, graben sich tief in das kollektive Bewusstsein der Europäer ein. „In einer Affektkommunikation“, schreibt der Philosoph Byul Chun Han in seinem Buch Infokratie, „setzen sich nicht die besseren Argumente, sondern Informationen mit größerem Erregungspotential durch“. Der Eindruck entsteht, dass die Taliban die afghanische Bevölkerung oder die islamische Lehre repräsentieren.

Hinzukommt, dass die zu verarbeitenden Berichte über die komplizierte Lage in dem Land so umfangreich geworden sind, dass sie die begrenzte Rationalität von Individuen übersteigt. Die Verführung zur Vereinfachung ist greifbar bis hin zu der dialektischen Logik: Wir sind gut, weil sie so böse sind. Die moralische Freisprechung aller handelnden Akteure in der Region dürfte bei genauerem Hinsehen eher schwerfallen. Wer die Geschichte Afghanistans verstehen will, muss lernen, dem Anderen zuzuhören und eine alternative Sicht zuzulassen. Eine Übung, die nach Ansicht  von Byul Chun Han in unserer auf schnelles Urteilen angelegten Infokratie in Vergessenheit zu geraten droht: „Die Wahrheit im emphatischen Sinne hat einen narrativen Charakter. Daher verliert sie in der entnarrativisierten Informationsgesellschaft radikal an Bedeutung.“

Unabhängig vom Wissensstand über die geopolitischen Kämpfe der letzten Jahrzehnte sind die Vorbehalte gegenüber dem aktuellen Regime zweifellos berechtigt. Sie werden von Muslimen geteilt. Das Bild bewaffneter militärischer Milizen, die neben einem predigenden Imam stehen, lassen ahnen, dass ein neuer afghanischer Staat – oder wie immer man das Gebilde definiert – schlimmstenfalls eine Symbiose autoritärer Machenschaften mit einer religiösen Ideologie darstellt. Im Westen denkt man hier an neue Formen des Faschismus. So kann es kommen, muss es aber nicht.

Der Siegeszug der Taliban, ursprünglich eine kleine Minderheit, erklärt sich nicht aus der Überzeugungskraft ihrer Lehre. Die Machtergreifung ermöglichte in erster Linie die Apathie der verzweifelten afghanischen Bevölkerung, die lange Jahre vergeblich auf so etwas wie Frieden – auf Grundlage eines gerechten Nomos – wartete. Die Option eines endlosen Bürgerkrieges nach dem Abzug der Amerikaner ließ nicht nur die Einheimischen resignieren, sondern ebenso Anrainerstaaten in der Region. Die Versuchung ist für alle Beteiligten groß, sich mit der gegebenen Lage zu arrangieren. Spätestens seit den Geheimverhandlungen der USA mit den Partisanen sind Verhandlungen mit der neuen afghanischen Regierung kein Tabu mehr. Fakt ist, die neuen Machthaber verfügen über ein rohstoffreiches, aber verarmtes Land und beherrschen die verängstigte Zivilgesellschaft. Das mag man beklagen – nur die Würfel sind gefallen.

Nicht nur die muslimischen BürgerInnen sind gespannt, wie unsere Regierungen nach dem Ende der militärischen Phase eine neue Realpolitik zu Afghanistan entwerfen werden. Wer sich um das Wohl der Bevölkerung sorgt, muss befürchten, dass der Krieg mit ökonomischen Mitteln und auf dem Rücken der Armen fortgeführt wird. In diesem Fall wird Kabul der Geldhahn zugedreht und damit ein Aufbegehren und Aufstände der Zivilbevölkerung provoziert. Eine andere, ebenso destruktive Möglichkeit, wäre es, neue Partisanengruppen zu schaffen, die den Kampf gegen die Taliban fortsetzen. Hier käme die alte militärische Einsicht ins Spiel, dass man Partisanen nur mit Partisanen bekämpfen kann. Beide Ansätze werden kaum zu einer Befriedung der Lage führen.

Entscheidend wird sein, ob der Westen bereit ist, das neue Machtgebilde als Staat anzuerkennen. Die Folge wäre ein Wechsel des Status von feindlichen Terroristen hin zu einer politischen Anerkennung. Diesen Weg hat die Strategie der Amerikaner, mit den Taliban Geheimverhandlungen zu führen, im Grunde vorgezeichnet. Bedingung für diesen Dialog war die Bereitschaft des Feindes, künftig auf die Unterstützung des internationalen Terrors zu verzichten. Diese Ankündigung ermöglicht die rechtliche Unterscheidung zu dem kriminellen IS-Staat im Irak. Die Taliban selbst haben das Wort Kalifat, das für die Idee eines globalen Machtanspruchs steht, nie benutzt. Damit ist die Einhegung der neuen Macht in ein regionales Phänomen zumindest denkbar.

Die Türkei, China und Russland nehmen die geopolitischen Fakten zur Kenntnis und werden versuchen ihrerseits den Expansionswillen der Taliban zu begrenzen. Gelingt es, sie in diesem Sinne einzuschränken, wäre sogar ein dauerhafter Frieden denkbar. Die Frage nach der Möglichkeit der Mäßigung der politischen Führung in ihrem Herrschaftsgebiet stellt sich trotzdem. Wer hofft, dass der militärischen Niederlage eine schnelle Manifestation des westlichen Wertesystems folgt, träumt. Nüchtern betrachtet ist der eurasische Kontinent zum größten Teil keine Demokratie mehr.

Man könnte in dieser Situation auf die Idee kommen, dass eine Gemeinschaft von Millionen europäischer Muslime, die über eine beachtliche Zahl von Gelehrten und Intellektuellen verfügen, auf die Taliban einen Einfluss ausüben könnte. Die Ablehnung von Selbstmordattentaten, jeder Form des Terrorismus sowie die Forderung nach Frauenrechten gehören zum, aus den islamischen Quellen begründeten, Standardrepertoire muslimisch gebildeter Kreise. Hinzukommt ihre historisch gewachsene Überzeugung, wonach jede Ideologie in trostlosen Systemen endet. Erinnert man die „Gelehrten“ der Bewegung zum Beispiel an die sozio-ökonomischen Dimensionen des Islams, wären einer rein poltisch-ideologischen Interpretation des Glaubens erste Schranken gesetzt. Über Jahrhunderte war ein sicheres Zeichen für eine „Islamisierung“ eines Gebietes die Einrichtungen der Stiftungen und die führende Rolle der Frauen im Management dieser Sphäre. Der Islam ist kein Nomos, der alle Lebensbereiche politisiert.

Es ist fraglich, ob die Taliban der Praxis des Einholens guten Rates folgen und in einen ernsten Dialog mit anderen Religionsgemeinschaften eintreten. Einen Versuch wäre es wert. Die Hoffnung, dass sie selbst einen Veränderungsdruck wahrnehmen, sollte angesichts der faktischen Lage in Kabul zuletzt sterben. Die Idee, ein mittelalterlich anmutendes Fantasieland der Religion einzurichten, ist zum Scheitern verdammt. Man wird sehen, ob Andeutungen ihrer Führung, einen gemäßigteren Kurs einzuschlagen, sich bewahrheiten sollten. Dieser Wandel wäre sicher der einzige Weg, dass die Isolation der Taliban in der Welt ein Ende erfährt. Ansonsten wird man nur ein weiteres, drastisches Beispiel für das Scheitern von ideologisierten Muslimen im 21. Jahrhunderts beobachten. 

Der Gedanke der Einbindung von europäischen BürgerInnen muslimischen Glaubens in die westliche Außenpolitik scheint im Moment utopisch zu sein. Im Westen werden religiös gebildete Menschen zu schnell in das Lager der „Islamisten“ abgeschoben. Deswegen fehlt es an politischer Kreativität, die diversen Stimmen der Zivilgesellschaft Europas in eine konstruktive, realpolitisch geprägte Strategie stärker einzubinden. Bisher gab es derartige Kooperationen nur auf dem Schlachtfeld. Hier allein waren zumindest die Amerikaner kreativ, sogar mit ausgewiesenen Radikalen aller Länder zusammenzuarbeiten.

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Den Afghanen geht das Bargeld aus

Kabul (dpa/iz). Nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan geht den Menschen zunehmend das Bargeld aus. Einwohner Kabuls berichteten der Deutschen Presse-Agentur, die Geldautomaten in der Stadt seien praktisch leer. Banken und auch der Geldwechslermarkt seien seit einer Woche geschlossen. „Alle in der Stadt beschweren sich mittlerweile, dass sie kein Geld abheben können“, sagte ein Bewohner.

Ein Mann sagte dem lokalen TV-Sender ToloNews, seine Bank habe zudem eine Obergrenze für Abhebungen eingeführt. Wenn denn ein Geldautomat doch noch befüllt sei, könne man nur 10.000 Afghani (rund 100 Euro) abheben. Viele drücke die Sorge, dass sie angesichts der aktuellen Krise überhaupt nicht mehr an ihr Geld kommen.

Auf der Facebook-Seite des Finanzministeriums hieß es in der Nacht zu Sonntag, die Zentralbank, private Banken und andere Finanzinstutionen nähmen bald wieder ihren Betrieb auf. Gleichzeitig wurde das „technische Personal“ des Ministeriums aufgerufen, zur Arbeit zurückzukehren.

Andere Ministeriumsmitarbeiter sollten eine Entscheidung der Finanzkommission der Taliban abwarten. Es hieß zudem, alle zivilen Staatsangestellten würden ab dem Beginn der „neuen islamischen Regierung“ wieder wie früher bezahlt werden.