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Die Theorie des Partisanen holt die Taliban ein

Foto: John Smith 2021, Shutterstock

(iz). Die Bücher des, wegen seiner Nähe zum Nationalsozialismus verfemten, Staatsrechtlers Carl Schmitt behandeln Kernfragen moderner Ordnungsmodelle. So werden Werke wie „Nomos der Erde“, „Der Begriff des Politischen“ oder „Theorie des Partisanen“ weiterhin zitiert, wenn es um die Einordnung geopolitischer Ereignisse geht. In der letztern Schrift (1962 publiziert) drehte sich sein Denken um die weltpolitische Bedeutung des Partisanen.

In seiner Abhandlung beschreibt der Jurist das alte Paradox, das verhältnismäßig kleine Partisanengruppen unter Ausnutzung der Verhältnisse am Boden große Mengen regulärer Truppen binden. Der Fall Afghanistan sowie Sieg der Taliban zeigen, dass dieses Phänomen immer noch Aktualität beansprucht. In seiner Theorie sind es vier Kriterien, welche die spezifischen Eigenschaften jener Kämpfer aufzeigen: Irregularität, gesteigerte Mobilität, Intensität des politischen Engagements und ihr tellurischer Charakter.

Ihre Partisanentaktik erklärt den schockierenden Erfolg der Taliban. Wobei ihre religiösen (man sagt „mittelalterlich“ geprägten) Überzeugungen die Intensität ihres Kampfes begleiten, wenn auch nicht vollständig erklären können. Bereits ihre Ausrüstung und Umgang mit Kriegsmaterial der neuesten Generation, ihre Fähigkeit zum totalen Krieg und ihr Wille zur Macht ohne Rücksicht auf Verluste zeigen, dass sie Kinder der Moderne sind. Jetzt wird sich zeigen, ob sie zu einer Formensprache finden, die so etwas wie Realpolitik ermöglicht.

Nach Jahrzehnten trostloser Auseinandersetzungen muss der Frieden für alle Beteiligten das primäre Ziel sein. Am Rande könnte der Westen einige seiner eigenen Widersprüche auflösen. Die Irregularität des Taliban-Kampfes hat die Amerikaner zu einer Strategie der Luftschläge und Drohnenkriege verführt und mündete zu Recht in die Debatte, ob diese Mittel – man denke nur an zivile Opfer – vertretbar sind. Auf dem Boden war die westliche Koalition nie in der Lage, das Land nachhaltig zu befrieden.

Jetzt wird sich erweisen, ob es den Taliban gelingt, ihren Status als kämpfende Kriminelle zu überwinden und Ordnungsmacht zu werden. Bisher waren sie nur ein „Unwert“ im westlichen Wertesystem. China und Russland sind hier zu Zugeständnissen bereit. Vermutlich ebenso die Amerikaner, die sie mit ihren Geheimverhandlungen faktisch aufgewertet hatten.

Es gibt eine Passage in „Theorie des Partisanen“, die zumindest aus weltpolitischer Sicht ein wenig Hoffnung auf ein gutes Ende in der Region stiftet. Nach Schmitt hat der Partisan einen wirklichen, aber keinen absoluten Feind. Für ihn folgte daraus eine andere Grenze der Feindschaft aus dem tellurischen Charakter des Irregulären, der ein Stück Erde verteidige, zu dem er eine autochthone Beziehung habe. Nur weil dieser absolute Begriff der Gegnerschaft den ehemaligen Kämpfern fehle, sei überhaupt ein Friedensabkommen im Bereich des Möglichen.

Im Gegensatz zur Pragmatik der Taliban zeigt sich der Terrorismus der IS-Terroristen klarer. Das sind Gruppen, die ebenso irregulär kämpfen, aber keine vergleichbaren politischen Motivationen kennen, sondern ihren religiös verklärten Nihilismus global verbreiten. Der Vernichtungswille dieser Verbrecher ist seiner Natur gemäß absolut, ihr Ziel ist das Chaos, während die Taliban – zumindest rhetorisch – in Kabul so etwas wie eine Ordnung im Rahmen eines lokalen Rechtssystems etablieren. Mit der Trennung von Ordnung und Ortung definierte Schmitt im „Nomos der Erde“ den eigentlichen Wesenszug von Nihilismus. Frei von dieser nihilistischen Seite waren auch die Amerikaner nicht. Man denke nur an die geheimen Lager und rechtsfreien Zonen in der Region sowie in Guantanamo.

Bei aller Vorsicht angesichts der tatsächlichen Ambitionen der Taliban streben sie zumindest bisher kein weltumspannendes Machtsystem unter ihrer Führung an. Es wäre sogar denkbar, dass ironischerweise ausgerechnet die neuen Machthaber in Kabul am internationalen Kampf gegen den Terrorismus teilnehmen könnten. Wenn auch nur, um ihre lokale Macht abzusichern. Zumindest in dieser Hinsicht und aus dem Sicherheitsinteresse Europas heraus betrachtet, wäre dies ein Fortschritt und eine Eindämmung in der Produktion neuer Terroristen.

Ihre Ankündigung, ein „Emirat“ auf Grundlage einer souveränen Nation zu formen, steht zunächst für die Hoffnung, die eigene Irregularität zu verlassen. Sie wären nicht die ersten Kämpfer in der Weltgeschichte, denen die Verwandlung zu Politikern gelingt. Dabei werden sie die Geister, die sie riefen, nicht loslassen. Schon jetzt bilden sich am Hindukusch neue Partisanengruppen gegen ihre Macht. Da jeder Partisan meist mit Hilfe Dritter handelt, wird man hier genau hinsehen müssen, wer diesen Terror von Außen unterstützt.

Bald werden die Talibantruppen offizielle Uniformen anziehen müssen, um von anderen Partisanen unterscheidbar zu werden. Zweifellos werden sie nicht mehr im Schutz der Berge und der Dunkelheit operieren. Ihre Taten im Rahmen einer Regierungsverantwortung werden durch die Macht der sozialen Medien transparent sein. Ihre Souveränität wird eingeschränkt sein. Sie beherrschen nicht den Luftraum. Vermutlich bleiben sie auf den Zugang zu internationalen Finanzsystemen angewiesen, ohne den heute kein Staat zu herrschen vermag. Bisher verfügen die Afghanen nicht einmal über die Ressourcen ihrer Nationalbank, deren Geld in den Vereinigten Staaten lagert.

Man muss allerdings befürchten, dass durch den US-Abzug aus der Region sowie der Ankündigung, mit der Welt in Frieden leben zu wollen, ein Vakuum entsteht, das mit intensiven Freund-Feind-Definitionen in der afghanischen Innenpolitik besetzt wird. Bisher war die politische Dynamik alleine von Feindbildern geprägt. Bleibt dies so, wäre ein Bürgerkrieg keine Überraschung. Der Umgang mit Minderheiten, Frauen und ethnischen Gruppen wird eine Friedensfähigkeit beweisen. 

Der eigene Anspruch, eine „islamische“ Ordnung zu sein, wird ebenso auf dem Prüfstand stehen. Bisher hat kein religiös geprägter Staat der Welt diese Forderung im Feld von Ökonomie und Wirtschaftsrecht umgesetzt. Durchaus möglich, dass die Taliban – wie an anderen Stellen gesehen – alle ökonomischen und sozialen Einrichtungen moderner Staaten nur mit dem Adjektiv „islamisch“ ergänzen und ihre religiöse Seite sich ausschließlich in einem rigiden Kontroll- und Moralsystem über die eigene verarmte Bevölkerung zeigt. Sicher ist nur: Frieden wird sich nicht ohne Gerechtigkeit einstellen.