Thema Säkularismus: Die jetzigen Verhältnisse betonen die Defizite des heutigen Diskurses

Ausgabe 220

(iz). Im Laufe der konfliktreichen Minderheitengeschichte Europas haben sich zwei Ideen als wesentlich für den inneren Frieden der nationalen Ge­sellschaften erwiesen: der Gedanke der Toleranz und jener der Pluralität. Zeitgleich und beide Ansätze ergänzend entwickelten sich die Begriffe und Konzepte der Menschenrechte und der Demokratie. Während sich in West-und Mitteleuropa durch die vier Ansätze die Gesellschaften entwickelten, welche die schulischen Curricula beziehungsweise die Erwachsenenbildung heute unterrich­ten, um so die Fortdauer der Gewinne der Leidensgeschichte Europas abzusichern, zeigten sich bei der Übertragung dieses Modells auf andere Gesellschaften deren innere Wiedersprüche, die die Diskurse bisher nur am Rande thematisierten.

So steht das Konzept der Toleranz in Spannung zu den gelebten Vorurteilen in den Gesellschaften und der von Emmanuel Lévinas beschriebenen Herausforderung durch den Anderen. So gelang es nicht, die Herausbildung der Islamophobie zu verhindern oder ihren Anstieg einzugrenzen. Das gleiche gilt für die Idee der Pluralität. Dabei geht es nicht um die Pluralität von Speisekarten oder Musik, in diesen Bereichen wird die Plurali­tät als angenehm erlebt, hingegen wirkt die Wertevielfalt der zugewanderten Minderheiten auf zahlreiche Menschen (zer)störend. Sie fürchten um die eine Nation, eine Gesellschaft verbindende Elemente. So akzeptiert man zwar wider­willig eine Moschee, aber ihr Bau muss sich an kulturelle Vorgaben halten. So darf sie keinen weithin sichtbaren Turm haben und der Gebetsruf muss auf die Innenräume beschränkt sein.

Die gesellschaftliche Praxis beider Konzepte setzt der Toleranz ebenso wie der Pluralität Grenzen, die ursprünglich in keiner der beiden Ideen mitgedacht worden waren; zudem werden sie in ­anderen Gesellschaften beziehungsweise in den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen höchst verschieden definiert. Für den historisch geschulten Beobachter ist am gegenwärtigen Diskurs bemerkenswert, dass Pluralität allein im Zusammenhang mit der Zuwanderung von Menschen von jenseits der nationalen Grenzen verstan­den wird. Das heißt, die eigene Vielfalt, wie sie für viele in irritierender Weise durch die Flüchtlingsströme nach 1945 erlebbar geworden war, wird nicht als Pluralität angesehen. Weder die sorbischen noch die alemannischen Bräuche werden als Ausdrücke deutscher Pluralität betrachtet. Dies gilt auch für die große Zahl der verschiedensten Riten der Kirchen oder christlichen Gemeinschaften.

Ebenso wenig fällt der Blick auf den Zusammenhang von Menschenrechten und gesellschaftlicher Vielfalt, welche die Pluralität mittragen. Diese sichern nicht nur jedem Individuum, Bürger, Staatsbürger eine eigene Würde, sondern ebenso das Recht auf Selbstentfaltung, in dem er oder sie ihr Verständnis von Religiosität lebt, ihre Bildungsmöglichkeiten ausschöpft und ihr politisches Engagement frei gestaltet usw. Dies kann einerseits zu purem Hedonismus führen oder zum sozialen Dienst und andererseits zu völligem Desinteresse an gemein­schaftlichen Fragen. So scheint für viele Mitbürger das Gemeinwohl (arab. Maslaha) für sie selbst irrelevant zu sein. Charakteristisch ist die Frage: „Wozu soll ich zur Kommunalwahl gehen?“ Welches Ausmaß solcher Enthaltsamkeit verträgt eine Gemeinschaft? Und wie reagiert sie darauf, dass eine Minderheit damit argumentiert, sie trüge zum Gemeinwohl bei?

In der gegenwärtigen Diskussionen thematisiert man allein jene Pluralität, die durch die „Fremden“ verursacht wurde: der hinduistische Inder, die muslimi­sche Indonesierin, der syrisch-orthodoxe Palästinenser oder neuerdings der Tschetschene sind die Anderen. Sie bleiben es auch in der dritten Generation, die, so die landläufige Meinung, die gemeinsame Leitkultur gefährden. Allein an der Wahlurne gilt der Grundsatz der Gleichheit.

Jene, die dort durch die Parteien zur Wahl gestellt werden, repräsentieren nicht die Pluralität, denn die wenigen „Anderen“, die als Kandidaten auf den Listen stehen, wurden meist aus wahltak­tischen Gründen nominiert. Es geht um die Wählerstimmen der Minderheit(en). Die hier vorgeschlagene Lösung heißt: Partizipation. Mit ihr lässt sich sogleich fragen, wo wer partizipieren kann, darf oder sogar sollte? Wer wählt einen marokkanischstämmigen Gewerkschafter? Wo gibt es den indischstämmigen Vorsitzenden eines Kommunalrats? Eine türkischstämmige Ministerin wie in Niedersachsen ist kein Nachweis für die Partizipation einer Minderheit, sondern ein Aushängeschild für die sie ­nominierende Partei.

Der Demokratie werden durch die Mehrheit dort Grenzen gesetzt, wo ­diese Mehrheit ihre eigenen Verständnisse berührt oder gar gefährdet sieht. In den Momenten ist sie durchaus bereit, dass gegen ihre eigenen historisch gewachsenen Friedensmodelle verstoßen wird, wie einst in Algerien oder gegenwärtig in Ägypten, was bis in die Wortwahl der sonst neutral berichtenden ­Nachrichten zu bemerken ist.

In abgeschwächter Weise gilt dies auch für Europa. Die Mehrheit sucht sich die Repräsentanten der Anderen aus, die den eigenen Vorstellungen entsprechen oder soweit wie möglich nahe kommen. Die Verantwortlichen dafür kümmern sich nicht um die Konsequenzen ihres Verhaltens und überlassen den von ihnen Ausgewählten sich um die Beiseite geschobenen zu kümmern. Die Durchsetzung der eigenen Hausordnung gehört der Vorrang. Die Spannungen zwischen den Konzepten der Toleranz und Pluralität sowie zwischen Menschenrechten und Demokratie bedürfen der klärenden Diskussionen, um den Minderheiten eine sichere Zukunft zu eröffnen. Dies ist keine Aufgabe der Intellektuellen von Mehr- und Minderheiten, vielmehr eine gesellschaftliche Herausforderung aller. Die Korrektur der Verstöße gegen die Grundsätze durch die Justiz hilft auf Dauer hier nicht weiter, sondern betont geradezu die Defizite des gegenwärtigen Diskurses.