, ,

Über die Grundzüge von Erziehung in der Geschichte des Islam

Ausgabe 310

grammatik
Foto: Madrassa Wazzania, Larache/Norwich

(iz). Der vielleicht beste Weg, den allgemeinen Begriff „Erziehung“ zu definieren, besteht darin, die Beziehung zwischen den unverzichtbaren Grundlagen aufzuzeigen, die die Bildung in jeder Kultur aus­machen: Lehrer, Schüler und das Ziel beziehungsweise die Philosophie der vermittelten Erziehung. Der Begriff der „islamischen Erziehung“ wird manchmal fehlgedeutet, wenn er von einem westlichen Standpunkt aus betrachtet wird.

Oft versteht man darunter ein verbundenes System, das vom religiösen Establishment unterhalten wurde. Darüber ­hinaus wird dieses Missverständnis noch weiter durch den falschen Eindruck ­verstärkt, wonach diese Art von Bildung nur der Unterweisung in „religiösen“ Wissenschaften dient und nicht für ­Wissenschaften gedacht sei, die keinen offenbarten Charakter haben. Es lässt sich begründen, dass dies nicht der Fall in muslimischen Kulturen war.

Bildung war frei

Bei allen Beispielen während der Frühphasen der muslimischen Kulturen gab es offensichtlich eine Beziehung zwischen Schüler, Lehrer und Bildungsphilosophie. Das Erlernen von Ethik, Moral und ­Aneignung von Wissen (ob religiös oder nicht) waren private und unsystematische Aktivitäten. Selbst wenn sie existierte, ­erteilte keine pädagogische Autorität Qualifikationen. Außerdem stand Bildung nicht unter staatlicher Kontrolle. Es ist erstaunlich, dass im Vergleich zur heutigen Zeit die Regierung im klas­sischen Kalifat der Bevölkerung bisher nie gekannte Freiheiten gewährte.

Illustriert wird dies im Zitat von ­Tamara Sonn (Islam, A Brief History): „Außer der Erhebung von Steuern mischte die Regierung sich nicht in den gesellschaftlichen Alltag ein. Die Leute wurden geboren, gebildet, heirateten. Sie bestritten ihren Lebensunterhalt und vermachten ihr Vermögen. Sie beteiligten sich am Handel und anderen Arten der Wirtschaft. Alles ohne Einmischung ­seitens der Zentralregierung. Beinahe der gesamte Alltag bewegte sich im Bereich des islamischen Rechts. Es wurde von Rechtsgelehrten formuliert und ver­waltet, die mehrheitlich unabhängig von der Zentralregierung agierten.“

Tarbija in Medina

Die Muslime blieben in Mekka vom Beginn der Offenbarung bis zur Auswanderung nach Medina. Die dortige Lage erlaubte es dem Gesandten Allahs, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, noch nicht, Bildungseinrichtungen zu schaffen oder öffentliche Lernzirkel zu betreiben. In Medina entstand das erste muslimische Gemeinwesen. Hier wurden die Parameter der sozialen Strukturen des Islam offenbart.

Zunächst wurde die Bildung auf der Veranda der Prophetenmoschee (As-Suffa) erteilt, und später in den Moscheen Medinas. Dort gab es Lehrzirkel, die den Einwohnern zur Verfügung standen. Aus dem Modell entwickelten sich alle pädagogischen Einrichtungen der ­islamischen Kultur. Während der unterschiedlichen Perioden der islamischen Geschichte entstanden Grundschulen, die Kuttab und Maktab genannt wurden. Sie bestanden getrennt voneinander und waren mehrheitlich unabhängig vom Staat. Der Historiker Makdisi wies darauf hin, dass sie eine solch ausgezeichnete Bildung während der Periode des Islam vermittelten, dass viele Schüler weiterführende Studien in den Wissenschaften des Adab und des Rechts aufnahmen beziehungsweise als Lehrlinge in die Verwaltung gingen.

Lehre in der Moschee

Für eine weiterführende Lehre mussten die meisten weite Strecken zu den verschiedenen Gelehrten zurücklegen. Damals war die Unterscheidung zwischen primärer und sekundärer Bildung sehr klar, wobei die Moschee das Hauptzentrum für letztere war. Moscheen wurden als Hochschulen benutzt, um Erwachsene in Islam und Literatur zu unterweisen. Unter den ‘Umaijaden entstanden zwei Arten von Moscheen: Al-Masdschid, die Nachbarschaftsmoschee für die fünf ­täglichen Gebete, und Al-Dschami’, die Hauptmoschee für das Freitagsgebet. Ihr Lehrplan wuchs, sodass in ihnen alle ­offenbarten Wissenschaften und Literatur gelehrt wurden.

Bei den ‘Abbasiden wurde die Mehrheit beider Moscheetypen für Lehrzirkel ­genutzt. Es ist hier interessant anzumerken, dass sich die lateinische Wurzel für Universität auch als „Gemeinschaft der Lehrer und Gelehrten“ übersetzen lässt. Nach Ansicht Hugh Goddards ist die Universität des Westens eine islamische Erfindung und zwar in dem Sinne, dass der Islam als erste Kultur eine Lehr­einrichtung hervorbrachte, die sich auf verschiedene Fakultäten ausdehnte.

Historisch befand sich die erste Einrichtung zur höheren Bildung in einem spezifischen Gebäude in der Dschami’ Al-Qairawijjun von Fez. Sie wurde 899 von der tunesischen Adligen Fatima Al-Fihri gestiftet. Ihr folgte 969 die Al-Azhar im fatimidischen Ägypten. Sie wurde zur vollwertigen Madrassa, als Ägypten an Sultan Salah Ad-Din Al-Ajjubi überging. Erst während der Frühperiode der seldschukischen Herrschaft in Bagdad wurde die erste unabhängige Madrassa vom Minister Nizam Al-Mulk (gest. 1092) gegründet, die Nizamijja. Danach beschleunigte sich der Bau von Madrassen in der muslimischen Welt. Diese Einrichtungen zur höheren Bildung entwickelten sich bis zum Ende der osmanischen Periode.

Es ist wichtig zu erkennen, dass sich das islamische Erziehungssystem über vierzehn Jahrhunderte entwickelte, wobei sich Lehrstätten im Laufe der Zeit entwickelten. Mit anderen Worten: islamische Bildung war das Produkt von 1.400 Jahren Kultur, die von Arabien, über Spanien, bis nach Indien und Indonesien reichte. Sie ist singulär in ihrem qur’anischen Weltbild und kann doch nicht als ein einziges Konzept verstanden werden, sondern ist ein Phänomen mit vielen Aspekten – alle beeinflusst durch intellektuelle, soziale und politische Kräfte von Geografie und Zeit.

Die Grundlagen der Wissensvermittlung (Ta’lim) und Bildung in der Dichtung und den sozialen Umgangsformen (Ta’dib) wurden detailreich innerhalb der wachsenden Literatur zur Erziehung behandelt. Tarbija jedoch muss wesentlich gründlicher betrachtet werden, da diesem Konzept bisher nicht die ihm gebührende Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Der Prophet war ein Modell für Ta’lim und Ta’dib. Was die erste Gemeinschaft der Muslime heraushebt, ist die Tatsache, dass die Stadt und ihre Leute durch die Gegenwart des Gesandten Allahs genährt und geformt wurden sowie Verständnis und Charakter erhielten.

Begriffe der Erziehung

Werfen wir einen Blick auf die drei wichtigsten Begriffe im Arabischen: Die Mehrheit der Gelehrten ist sich einig, dass sie die Bedeutung von Bildung im islamischen Sinne ausdrücken. Zwei von ihnen entstammen dem Qur’an und das dritte den Hadithen. Das erste Wort, ­Tarbija, was „Förderung von Wachstum“ bedeutet, leitet sich aus dem Qur’an ab. Seine Wurzel ist Rabba, was so viel wie „Zuwachs“ und „Wachstum“ meint. Im Qur’an sagt Allah: „Und senke für sie aus Barmherzigkeit den Flügel der Demut und sag: ‘Mein Herr, erbarme Dich ihrer, wie sie mich aufgezogen haben, als ich klein war.’“ (Sure 17, Al-Isra’, 24)

Imam Baidawi beschrieb Tarbija als die schrittweise Entfaltung einer Person, die bis zum Abschluss gebracht wird. Das ähnelt der Art und Weise, wie der Herr der Welten Seine Schöpfung formt. Der erste Terminus verweist darauf, dass ­islamische Bildung existiert, um eine Person zu bilden; nicht nur in ihrer Jugend, sondern das ganze Leben hindurch.

Die zweite Definition im Qur’an ist Ta’lim. Sie leitet sich aus der Wurzel ‘Ilm ab, was „Wissen“ bedeutet. Es wurde innerhalb des Qur’an benutzt: „Der (das Schreiben) mit dem Schreibrohr gelehrt hat, den Menschen gelehrt hat, was er nicht wusste.“ (Sure 96, Al-’Alaq, 5) Das Wort meint spezifisch die Weitergabe von ­Wissen.

Die letzte Definition, Ta’dib kommt aus einem Hadith des Propheten Muhammad, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben: „Mein Herr bildete mich und machte dann meine Bildung zur ausgezeichnetsten.“ Die Wurzel von Ta’dib ist Adab, was in seiner weiteren Bedeutung als gutes Verhalten und Ethik verstanden wird. Zusätzlich meint es auch „Literatur“ oder „die literarischen und philologischen Wissenschaften“.

Wir wissen, dass diese spezifischen Begriffe unter den Leuten zur Zeit des Propheten, Allahs Heil und Segen auf ihm, nicht allgemein gebräuchlich waren. Sie wurden später aus dem Qur’an und der Sunna abgeleitet. Dies gilt aber auch für viele Begriffe, die wir heute in den islamischen Wissenschaften benutzen. Sie bestanden zwar schon, während der Gesandte Allahs lebte, aber die Terminologie zu ihrer Beschreibung wurde erst später geprägt. Daher können wir sagen, dass Ta’lim, Ta’dib und Tarbija in der Handlung und der Praxis Medinas während der Zeit des Propheten verkörpert wurden, aber nicht als schriftliche Bildungstheorie artikuliert waren.

Die Aussagen des Propheten Muhammad enthalten unzählige Sätze über Wissen, Aufwachsen und ideelle Bereicherung. Er forderte die einzelnen dazu auf, sich selbst zu bilden, als er sagte: „Die Suche nach Wissen ist Pflicht für jeden Muslim.“ Und bei einer anderen Gelegen­heit überlieferte Abu Darda vom ­Gesandten Allahs: „Die Gelehrten sind die Erben der Propheten. Und die Prophe­ten hinterlassen weder Dinar noch Dirham. Sie vermachen nur Wissen. Und wer es aufnimmt, ergreift einen reichhaltigen Anteil.“

Andere prophetische Aussagen erwähnen Erziehung gezielt im Zusammenhang mit Moral und Verhalten. So erwähnte ‘Abdallah ibn ‘Amr, dass der Gesandte Allahs niemals auf beleidigende Art und Weise sprach, noch absichtlich etwas Böses äußerte. Er überlieferte, dass er sagte: „Derjenige unter euch, der mir am liebsten ist, ist derjenige mit dem ­besten Charakter und Verhalten.“

Im sozialen Modell des Propheten, möge Allah ihn segnen und Frieden ­geben, finden sich vielfältige Beispiele, welche die Wichtigkeit spiritueller, geistiger und körperlicher Aspekte des Lebens unterstreichen. Der Bedeutung der Annahme von Höflichkeit und Verhalten wird durch unzählige Bücher belegt, die von Gelehrten in der ganzen islamischen Geschichte hindurch geschrieben wurden. Sie behandeln Themen wie die korrekte Höflichkeit gegenüber Allah, den Propheten, sich selbst, den Eltern, Kindern, Geschwistern und der Gemeinschaft. Diese Schujukh beleuchteten angemessenes Verhalten bei Sauberkeit, Essen, Versammlungen, dem Reisen, sogar dem Schlafen und so weiter. Der Gesandte Allahs, Heil und Segen auf ihm, lehrte seine Gefährten das gemeinsame Essen: „Wenn ihr euch gemeinsam zu eurer Nahrung sammelt und Allahs Namen anruft, dann werdet ihr darin gesegnet sein.“ Und von ihm, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, wurde durch ‘Umar ibn Abi Salama überliefert: „Komm her, mein Sohn, erwähne Allahs Namen, iss mit deiner rechten Hand und nimm von dem, was in deiner Nähe ist.“

Die Mehrheit solcher Aussprüche wurde in den Hadith-Werken unter Kapiteln wie „Kitab Al-’Ilm (Buch des Wissens)“ oder „Kitab Al-Adab (Buch des Adab)“ aufgezeichnet. Das spiegelt die intime und wichtige Verbindung zwischen Charakter, gutem Verhalten, Höflichkeit und Wissen wider. Der Prophet, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, fokussierte sich nicht auf eine spezifische oder strukturalistische Weise auf Ta’lim und Ta’dib. Vielmehr könnte man sagen, dass Kenntnis dieser Wissenschaften im allgemeinen Sinne unter dem größeren Begriff „Din“ weitergegeben wurde.

Dieses, noch unkategorisierte Wissen deckte viele Themen wie Qur’an, Hadith, Recht, Anbetung und Spiritualität ab. Sie bildeten die Grundlage für die gesamte muslimische Zivilisation und wurden formal in einem Halbkreis gelehrt, der als „Halaqa“ bezeichnet wurde. Der Name leitete sich davon, dass Lehrer gegen eine Wand oder eine Säule gelehnt saßen. Um ihn oder sie herum saßen dann die Schüler in einem Halbkreis. Dieser Zirkel war nach Rangstufen aufgebaut, sodass fortgeschrittenere Schüler nahe bei ihren Lehrern saßen. Diese einzigartige Bildungserfahrung war eine dauerhafte Erscheinung in der gesamten isla­mischen Erziehungsgeschichte; egal, ob in Moscheen, Maktabs oder Madrassen.

Schrittweise zur Reifung

Tarbija beinhaltet auch die Bedeutung einer Erziehung, die etwas schrittweise zur Vervollkommnung, Perfektion oder Reife führt. Das ist genau das, was innerhalb Medinas während der Lebenszeit des Propheten, möge Allah ihn segnen und Frieden geben, geschah. Da Leben und Bildung der Muslime in Mekka durch die Verfolgungen stark eingeschränkt blieben, begann die ursprüngliche Phase von Bildung und Wachstum der gesamten Gemeinschaft an dem Ort, der später zu Recht als die Stadt des ­Propheten bezeichnet wurde.

Der Wechsel dieser rudimentären arabischen Gesellschaft in eine, die vom niedergeschriebenen göttlichen Recht regiert wird, dauerte weniger als 23 Jahre. Das in sich belegt schon alleine die transformierende Wirkung der prophetischen Tarbija, insbesondere in den ersten zehn Jahren von Medina. Obwohl der Erfolg von Ta’lim und Ta’dib in den verschie­denen Phasen der islamischen Geschichte gut sichtbar ist, muss die Tarbija, die der Gesandte Allahs, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, der ersten Gemeinschaft vermittelte, als das Fundament der gesamten Bildung im Islam betrachtet werden.