Ukraine-Reportage: Der Schrecken ist nicht zu übersehen

Ausgabe 324

Foto: Ismahane Emma Karima Bessi

(iz). Krieg bedeutet immer Zerstörung. Er hinterlässt Narben, die über Generationen bleiben. Ich sitze in der Ecke einer Wartehalle des Grenzbahnhofs am Przemyśl. Die Stadt verbindet die Verkehrsstrecke nach Lwiw. Der Bahnhof ist voll mit Ukrainern, die entweder zurück in ihre Heimat wollen und welche die aus ihrer Heimat fliehen. Ich komme kurz in ein Gespräch mit einem 16-jährigen Mädchen, die mit ihren zwei kleinen Geschwistern auf dem Weg nach Warschau ist. Ihre achtjährige Schwester hilft ihrem knapp zwei Jahre alten Bruder beim Trinken. Dann schaue ich auf einen kleinen Jungen, der höchstens sechs Jahre alt ist. Seit Stunden hockt er auf einer Reisetasche und schaut versteinert in eine Richtung.

Der Schrecken in seinen Augen ist nicht zu übersehen. Hinter mir spielen lautlachend Kinder Fangen, während einige andere Kinder schlürfend an ihrer heißen Schokolade hängen. Der schmale Grad zwischen Krieg und Frieden kann nicht deutlicher zu spüren sein, wie hier an der Grenze zur Ukraine.

Das Thema „Deutschland und deren zögerliche militärische Hilfe bezüglich der Ukraine“ taucht immer wieder auf, vor allem dann, wenn ich mit den Leuten hier rede. „Militärisch ist Deutschland nicht gut aufgestellt. Außerdem sollten schwere Waffen auch nicht unterschätzt werden“, antworte ich. In Kyiv treffe ich auf einen 56-jährigen Amerikaner, der nicht bei Namen genannt werden möchte (R.), der darauf wartet an der Front in Mariupol stehen und kämpfen zu dürfen.

„So langsam rafft sich Deutschland auch auf und hilft der Ukraine mehr.“ Egal was, Deutschland wird das kriegstreibende Bild wohl immer haften bleiben. Es ist nicht zu leugnen, dass Deutschland den sowjetischen Völkern schlimme Sachen zugefügt hat, aber kann deshalb die jetzige Bevölkerung und Regierung dafür zu Verantwortung gezogen werden? Ich muss an die Worte meines Professors denken: „Jeder Mensch wird mit einem imaginären Rucksack geboren, in dem die Geschichte des Volkes gepackt ist. Jedes Geschehen ist ein Teil seiner Landesgeschichte. Und jeder der diesem angehört, muss sich für die Taten seines Volkes verantworten – auch wenn diese schon Generationen her ist.“

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Da ist was dran.

Auf meine Frage, wieso er für die Ukraine kämpfen möchte, antwortet R.: „Wir müssen den Krieg gewinnen und den Russen in den Ar*** treten.“

„Dir ist schon klar, dass die Wahrscheinlichkeit an der Front abgeknallt zu werden nicht gering ist?!“ Er zuckt mit den Schultern. „Was habe ich schon zu verlieren.“ „Dein Leben.“

Er schaut mich für einige Sekunden schweigend an. „Du hast dein Leben zu verlieren“, wiederhole ich meine Worte mit Nachdruck. „Das ist kein ‘Call of Duty‘ oder ‘Battlefield’.“

„Wir müssen den Krieg gewinnen.“

Die Präsenz des Ukraine-Russland-Konfliktes ist in fast jedem Winkel der Welt „spürbar“. Amerikaner, die sich aufgrund der Bilder, die über die Bildschirme flimmern, motiviert fühlen, Battlefield am eigenen Leib zu erleben.

Eine ukrainische Frau mittleren Alters und einer Sonnenbrille auf der Nase sitzt neben ihm und hält ein beschmiertes Schild mit der Aufschrift, ihrem Sohn fehlt ein Bein und wartet in Mariupol auf den Tod. Hinter den beiden ist ein noch größeres Tuch aufgespannt mit „World help us!“

In Kiew gilt eine nächtliche Ausgangssperre, die mich an meinem Ankunftstag nicht abgehalten hat, Kiew bei Nacht zu inspizieren. Auf meiner Erkundungstour werde ich an fast jeder Ecke vom Militär aufgehalten und muss mich ausweisen. Sie weisen mich auf die Ausgangssperre hin. Ich tue so, als hätte ich davon nichts gewusst, komme aber ins Gespräch mit einigen. Der Kontrast zwischen jungen und älteren Soldaten wird hier noch einmal ganz deutlich.

„Ist die Lösung auf Kriegsende mit der Teilung der Ukraine gewährleistet?“, frage ich einen Soldaten mit grau-melierten Haaren, die unter seiner Mütze hervortreten. Er schaut mich ernst an. „Das ist eine Frage, die nicht so leicht zu beantworten ist.“

Ein Soldat, den ich zwischen 18 und 23 Jahre schätze, antwortet auf genau dieselbe Frage: „Wenn es sein muss, werde ich dafür sterben. Eine Teilung der Ukraine kommt nicht in Frage. Blau-Gelb bis in den Tod und darüber hinaus.“

Was für ein Patriotismus. Wie unterschiedlich die Auffassung von Kriegsmentalität sein kann. Tatsächlich ist mir dieses Verhalten in vielen Ländern schon aufgefallen. Die blutjungen Soldaten besitzen die Mentalität des Militärs – verstehen sie aber nicht, während die Männer, die seit Jahrzehnten dem Militär dienen, die Mentalität des Militärs verstehen, aber nicht besitzen möchten.

Mein Reise führt mich weiter nach Butscha, eine Stadt die knapp 30 Kilometer von der ukrainischen Hauptstadt entfernt liegt. Am Kiewer Hauptbahnhof war es nicht einfach ein Taxi zu finden, das mich da hinfahren würde. Ein privates Taxi nahm mich dann doch mit. Bei  der Frage, wohin ich wolle, schaute mich der ältere bärig gebaute Mann an. Sein Kopf läuft rot an. „Weißt du, was da passiert ist?“

„Nicht wirklich, deshalb sollst du mich da hin fahren“; antworte ich.

„Hast du die Katastrophe nicht  in den Nachrichten gesehen?“

„Ja, eben nur das. Ich muss es selbst sehen.“

Wir handeln den Preis aus und sitze nun in einem uralten Ford-Kombi auf dem Weg in eine Stadt, die auf Geheiß Putins schlimm attackiert wurde.

„Mach viele Fotos und zeig sie den anderen“, sagt der Taxifahrer.

„Bist du hier schon gewesen?“, frage ich.

„Nein. Ich habe es nur im Fernsehen gesehen. Ich will hier aber wieder weg. Ich setze dich ab und fahre. Ich bleibe nicht.“

Ich nicke. „Das verstehe ich.“

Zerstörte, bombardierte Gebäude und Tankstellen türmen sich vor mir auf. Wohnhäuser die teils deutliche Spuren des Massakers in Butscha präsentieren.

Krieg war schon immer ein Mittel der Politik. Genau aus diesem Grund ist ein gut aufgestelltes Militär wichtig. Je besser ein Land militärisch aufgestellt ist, desto authentischer ist die Abschreckung, was bedeutet, dass mehr Menschenleben geschützt werden.

Ich sitze in einem Café direkt neben dem bestialischen Werk Putins. Ich frage dem Besitzer des Cafés, ob ich einen Kaffee bekomme. „Vielleicht in zehn Minuten oder in zwei Stunden. Der Strom ist wieder weg“, antwortet er mit einem Lächeln im Gesicht. „Dann warte ich so lange. Wenn du Kuchen hast, nehme ich den auch noch.“

Tatsächlich dauert es bis ich meinen Kaffee bekommen, aber er ist herrlich köstlich.

In den Stunden in Butscha treffe ich auf Journalisten, die gerade aus einem Presseauto steigen, die gemietet werden können. Sie bringen einen an die Stellen, die die größten Zerstörungen zeigen. Drei Journalisten steigen aus dem Auto, machen ein paar Fotos und wollen gerade wieder ins Auto steigen, als ich nach ihnen rufe. Ich möchte wissen, ob sie überhaupt wissen, was hier derzeit los ist in Butscha.

Eine britische Journalistin antwortet: „Krieg, Ist ja überall in den Medien zu sehen.“

„300 Meter von hier gibt es ein Café, dass auf die Unterstützung von jedem angewiesen ist. Trinken Sie bei dem mal einen Kaffee. Der kann euch einiges erzählen.“

„Keine Zeit“, antwortet der polnische Journalist. Und schon sind sie wieder weg in Richtung Kyiv, in der das Leben wieder anfängt aufzublühen.