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„Unsere eigene Heimat“: Warum sich Achim „Waseem“ Seger bei Die Urbane engagiert

Foto: A.W. Seger

(iz). Am 26. September sind die wahlberechtigten Bundesbürger:innen zur Stimmabgabe für den neuen Bundestag aufgerufen. Neben den sechs, derzeit im Parlament vertretenen Parteien treten Dutzende weitere zur Wahl an. Eine von ihnen ist Die Urbane. Eine HipHop Partei. Sie sieht sich als „antikoloniale und machtkritische“ Partei und Bewegung für Minderheiten, deren globale Anliegen durch die Kultur des HipHop symbolisiert wird.

Über sie sprachen wir mit dem Aktivisten, Künstler und Veranstalter Achim „Waseem“ Seger. Ihm liegt insbesondere der interreligiöse Austausch am Herzen. Bei der neuen Partei ist für Kunst & Kultur verantwortlich. Für ihn ist das Engagement bei Die Urbane der „logische Schritt“ aus seinem bisherigen Aktivismus.

Islamische Zeitung: Du bist im Vorstand verantwortlich für Kunst & Kultur in der Partei Die Urbane, die zum zweiten Mal bei der Bundestagswahl antritt. Was begeistert Dich an dem Projekt? Die Chancen auf einen Einzug in den Bundestag sind ja nun nicht so groß…

Achim „Waseem“ Seger: Für mich persönlich war mein Engagement bei Die Urbane. Eine HipHop Partei der nächste logische und auch vom Gefühl stimmige Schritt. Ich hatte als politischer Künstler und Aktivist bisher keine politische Heimat, keine Partei, die ich mit voller Überzeugung wählen könnte. So geht es vielen anderen Menschen auch.

Also haben wir uns entschieden, unsere politische Heimat selbst mitzugestalten. Bei Die Urbane bauen wir unsere eigene Heimat gemeinsam auf, nicht nur politisch. Wir sind Menschen aus verschiedenen Communities, Schwarze Menschen, People of Color, weiße Menschen, muslimische Menschen, queere Menschen und wir verfolgen einen intersektionalen Ansatz. Wir möchten uns mit unseren Rassismus-, Diskriminierungs- und Privilegien-Erfahrungen selbst und gegenseitig empowern. 

Und wir haben alle dasselbe Ziel: Endlich auch auf politischer Ebene sichtbar, hörbar und sogar wählbar zu sein. Es geht uns dabei nicht nur um den Einzug in den Bundestag, was natürlich schön und wichtig wäre, aber das Wichtigste ist, unsere Communities zu stärken und eigene Strukturen aufzubauen. Das passiert gerade mit großer Begeisterung.

Islamische Zeitung: Geht es euch vorrangig um Parteiarbeit, oder steht der Bewegungscharakter im Vordergrund?

Achim „Waseem“ Seger: Für mich steht ganz klar die Bewegung im Vordergrund. HipHop ist ja nicht nur Politik. Und Politik ist nicht nur Parteiarbeit. Ich glaube, es geht den wenigsten bei uns um reine Parteiarbeit, viele sind schon in anderen Initiativen, Projekten, Communities oder als Künstler*innen aktiv, aber wir brauchen eben dringend auch politische Repräsentation in einer Parteistruktur. Diese Ebene dürfen wir einfach nicht mehr vergessen.

Wenn wir die Forderungen aus den Bewegungen, von der Straße, aus den Communities nicht auch selbst auf politischer Ebene vertreten, treten unsere Forderungen nach der Wahl wieder in den Hintergrund. Das darf nicht mehr passieren. Black Lives Matter, Friday’s for Future oder die Rettung der Kunst und Kulturszene. Wir brauchen Menschen aus diesen Bewegungen in der Politik, denn diese Themen haben keine große Lobby.

Islamische Zeitung: Einen Blick auf den Vorstand über eure Website (die-urbane.de) zeigt junge Menschen, die alle auf die eine oder andere Weise einen migrantischen Hintergrund haben. Seid ihr eine reine Klientelpartei?

Achim „Waseem“ Seger: Unsere Klientel sind machtkritische, Rassismus-sensibilisierte Menschen. Rassismus oder Sexismus sind strukturelle und institutionelle Probleme, die eben auch strukturelle und institutionelle Lösungen brauchen. Wenn du das auch so siehst, bist du bei uns richtig. Wir haben uns als einzige Partei Deutschlands interne machtkritische Quoten gesetzt.

Unsere Positionen dürfen nur von maximal 50 Prozent cis-männlichen und von maximal 50 Prozent weißen Menschen besetzt werden. So wollen wir männliche und weiße Dominanz in unseren Strukturen möglichst verhindern. Und diese Quoten spiegeln sich dann auch sichtbar im Vorstand wieder. Es gibt aber natürlich auch Platz für männliche oder weiße Personen in unserer Partei und auf allen Positionen, nur eben nach machtkritischen Quoten.

Islamische Zeitung: In eurer Präambel schreibt ihr „Die Urbanisierung bestimmt den Zeitgeist“ und, dass ihr den Begriff „urban“ als eine Metapher begreift. Seit Jahrzehnten ist auch durch die Globalisierung ein Graben in Europa zwischen vermeintlich fortschrittlichen „urbanen“ Milieus und angeblich rückschrittlichen sozialen Segmenten in den Regionen der Globalisierungsverlierer entstanden. Trägt euer Ansatz nicht zur Vertiefung bestehender Gräben bei?

Achim „Waseem“ Seger: Also erstmal ist HipHop ja eine urbane Kultur. Und mittlerweile ist HipHop auch eine globale Kultur. HipHop wird auf der ganzen Welt konsumiert und praktiziert, egal ob in städtischen oder ländlichen Gegenden. Das zeigt ja schon, wie sehr die Welt zusammen gewachsen ist. Durch HipHop, aber natürlich vor allem durch das Internet und die Globalisierung. HipHop war und ist die Kultur der Unterdrückten, der vermeintlichen Verlierer.

Aber HipHop hat die Kraft und das Potential, diese Gräben zu schließen. Durch Information, durch Empowerment, durch Repräsentation. HipHop ist unter dem Kontext von Kolonialismus und Versklavung entstanden und auch der heutige Neo-Kolonialismus trägt zur Vertiefung dieser Gräben bei. Darum solidarisieren wir uns ganz speziell mit den abgehängten, unterrepräsentierten Menschen und wollen zeigen, dass wir jetzt auch Teil der globalen „urbanen“ Gesellschaft sind.

Islamische Zeitung: Die meisten der in Deutschland lebenden MuslimInnen hat einen wie auch immer gearteten Migrationshintergrund, dürfte sich also durch viele Aspekte von Parteiprogramm und Bewegung angesprochen fühlen. Allerdings bleibt der Aspekt Religionspolitik und Islamdebatte bei euch ausgespart. Was habt ihr religiösen Menschen wie ihnen anzubieten?

Achim „Waseem“ Seger: Wir gehen mit unserer Partei und unserem Programm sehr stark und sehr explizit auf das Thema Rassismus ein. Dabei prägt uns vor allem ein intersektionaler Blick auf die Themen Rassismus und Diskriminierung. Eine Schwarze muslimische Frau erlebt zum Beispiel verschiedene Formen des Rassismus und der Diskriminierung. Anti-Schwarzer Rassismus, anti-muslimischer Rassismus und Sexismus. Und es finden sich auch entsprechende Forderungen bei uns. Wir fordern z.B. die Aufhebung des Neutralitätsgesetzes und die staatliche Anerkennung der islamischen Verbände als Religionsgemeinschaften.

Aber ich finde, das Wichtigste ist eigentlich, dass Menschen die sich sonst nicht repräsentiert sehen, bei uns am Programm mitarbeiten können, ja sogar sollen. Bei Die Urbane. werden muslimische und auch jüdische Perspektiven von Anfang an mitgedacht. Hier können muslimische, jüdische und migrantisierte Menschen ihre Perspektiven und Forderungen selbst erarbeiten und einbringen. Das ist auch ein Prozess der Politisierung, der gar nicht ohne die entsprechenden Communities funktioniert. Hier gibt es noch viel Arbeit zu machen.

Islamische Zeitung: Warum sollte man Die Urbane wählen?

Achim „Waseem“ Seger: Also als aller erstes: Lies! Lies dir das Programm durch. Das ist vielleicht viel verlangt, aber es lohnt sich. Ich selbst habe dabei so vieles gelernt: Da stehen wirklich interessante neue Perspektiven und Ansätze drin. Wenn du dann von den Inhalten überzeugt bist, dann wähle du. (Die Urbane.)

Wenn du heute demokratische Repräsentation forderst, unsere Themen auch nach der Wahl weiter bearbeitet sehen willst und du dir einen langfristigen Wandel in der Politik wünscht, dann ist jetzt der Moment die Weichen zu stellen. Progressiver politischer Wandel funktioniert nur mit Druck „von unten“, von der Straße, aus den Bewegungen heraus. Und dafür braucht es dringend eine Professionalisierung der Community-Arbeit.

Ehrenamt alleine reicht schon lange nicht mehr, wir brauchen endlich mehr Kapazitäten, um uns intensiv mit den Ursachen der globalen Probleme auseinanderzusetzen, nicht nur mit den Symptomen. Wenn wir z.B. Klimagerechtigkeit fordern oder Fluchtursachen „vor Ort lösen“ wollen, müssen wir hier anfangen, bei uns. Nicht-eurozentrische, nicht-weiß dominierte Perspektiven sind in der deutschen Politik aber so gut wie nicht vertreten. Genau das wäre für uns aber repräsentative Demokratie, wenn von Rassismus und Diskriminierung betroffene Menschen endlich auch ihre Perspektive einbringen. Wir sind ein Movement aus verschiedenen Communities von viel zu vielen von Rassismus und Diskriminierung betroffenen Menschen.

Wenn wir jetzt zumindest die 0,5-Prozent-Hürde erreichen, haben wir für die nächsten Jahre die so wichtige Parteienfinanzierung und können unsere Community-Arbeit fortsetzen und unsere Strukturen weiter ausbauen. Diese Wahl ist also perspektivisch Weg-entscheidend für sehr viele Menschen, die sich nicht repräsentiert sehen.

Keine der großen Parteien – und auch keine andere kleine – hat eine dekolonisierte Perspektive auf die deutsche Politik. Und keine der regierenden Parteien wird diese Arbeit für uns machen. Darum geht es nur so: Aktivist*innen aus verschiedenen Communities, die sich für eine intersektionale Politik einsetzen. Das ist genau die progressive Politik, die wir jetzt so dringend brauchen. Und jetzt können uns 36 Millionen Wähler*innen wählen!

Aber vor allem sollt ihr euch selbst einbringen. Es wird ja schon oft gefordert, dass wir bei unseren Themen endlich mit am Tisch sitzen dürfen. Die Urbane ist aber ein ganz neuer Tisch, den wir gemeinsam aufbauen und decken.