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„Vielleicht verändert sich unser Leben sogar"

Foto: deepspace, Shutterstock

(iz). Eben kündigte die Bundesregierung an, sie will wegen der Corona-Krise verbotene Gottesdienste und Gebetsversammlungen wieder möglich machen. Richtmaß dafür sei aber, dass den entsprechenden rechtlichen Regeln Folge geleistet werde. Ob und in welchem Maße auch das muslimische Gemeinschaftsleben unter diese Lockerung fällt, ist bisher bundesweit unklar. Obwohl mehrfach von einer Öffnung der Moscheen Anfang Mai gesprochen wurde, scheint diese vor Ende des Ramadans eher unwahrscheinlich. Hierzu sprachen wir mit dem Manager, Ingenieur und Vorsitzenden der Deutschen Muslimischen Gemeinschaft (DMG), Khallad Swaid. Wir wollten von ihm wissen, wir die Gemeinden mit der neuen Lage umgehen, wie sehr sich auf das Virtuelle ausweichen lasse und was der Ramadan bringt.
Islamische Zeitung Seit geraumer Zeit gelten strenge Auflagen für das öffentliche Leben wie Einschränkungen oder Verboten nicht-wesentlicher Zusammenkünfte. Wie sahen die Erfahrungen Ihrer Mitgliedsgemeinden mit dem Ausnahmezustand bisher aus?
Khallad Swaid: Die Situation ist für alle Gemeinden völlig neu, wenn sie sich auch von Stadt zu Stadt etwas unterscheiden mag. Mit der Schließung von Moscheen entfallen den Gemeinden aber nicht nur bloße Gebetsstätten oder spirituelle Rückzugsorte, sondern auch soziale Treffpunkte für Groß und Klein.
Unsere Gemeinden hatten Gott sei Dank etwas Vorlaufzeit, da wir nicht erst auf die strengen Auflagen gewartet haben, sondern in Verantwortungsbewusstsein schon am 3. März dazu aufgerufen haben, größere Aktivitäten – einschließlich des Freitagsgebets – auszusetzen. Andere Organisationen der muslimischen Religionsgemeinschaft in Deutschland haben es zeitnah ähnlich umgesetzt. Damit sind wir Muslime dem Anspruch unserer Religion, das Leben als höchstes Gut zu schützen und zu wahren, gerecht geworden.
Die muslimische Glaubensgemeinschaft hat ein hohes Maß an Verantwortung bewiesen, zur Reduzierung der Infektionsgefahr beizutragen. Unsere Hoffnung als DMG ist es, dass beim Wiederanlauf eine Abstimmung zwischen den muslimischen Organisationen stattfindet und dass wir auch in Zukunft gemeinsam unserer Verantwortung gerecht werden.


Es ist an dieser Stelle wichtig zu erwähnen, dass eine komplette Schließung der Moschee und auch die Aussetzung des Freitagsgebet, zusätzlich zum spirituellen Verlust für die einzelnen Moscheen existenzgefährdend sein kann. Die meisten Moscheen in Deutschland stehen vor großen finanziellen Herausforderungen. Dennoch ist es wichtig, diesen Faktor nicht zur Basis der Öffnung werden zu lassen.
Wir müssen nach der Entscheidung suchen, die der Wahrung der Schöpfung und damit den Werten unserer Religion am nächsten kommt. Vielleicht führt die Corona-Erfahrung zu einem Umdenken und die Zakat wird künftig auch an die hiesige Moschee und islamischen Einrichtungen gegeben. Fatwas, die dies für zulässig erklären, gibt es schon länger. Es wäre auf jeden Fall in diesen Zeiten mehr als angebracht.
Islamische Zeitung: Verschiedene Vereine und Gemeinschaften haben seit Beginn der Sperren online-Angebote für ihre Mitglieder u.a. entwickelt. Ist das bei den Mitgliedsgemeinden der DMG ähnlich?
Khallad Swaid: Wir erleben eine reichhaltige Dynamik, bei der unterschiedliche Formate in verschiedenen Sprachen angeboten werden. Wir freuen uns über den hohen Grad an Initiative und Engagement in unseren Gemeinden, Online-Alternativen aufzustellen, um den Menschen ihre Isolation zu erleichtern. Bei der Jugend, die vorher schon eine Affinität zu Social Media besaß und ihr Programm in deutscher Sprache auch größtenteils online zur Verfügung stellte, war dieser Schritt quasi ein Selbstläufer. Die Intensivierung dieser Angebote hat deutschlandweit dazu geführt, dass wir neue interessante junge Gesichter und Talente entdecken konnten.
An dieser Stelle möchten wir unseren Imamen Respekt und Dank aussprechen, die diese angespannte Situation mit unermüdlichem Einsatz und Adaptionsfähigkeit meistern. Imame haben ihre Beiträge über ihr normales Pensum hinaus in Selbstorganisation in die virtuelle Welt transferiert. Auf europäischer Ebene hat der European Council for Fatwa and Research in mehrtätigen Sitzungen renommierter Gelehrter Empfehlungen und Fatawa zur Beantwortung dringlicher Fragen im Kontext dieser Krise erarbeitet. Wir in Deutschland haben mit unseren Gelehrten einige dieser Fragen vorher behandelt und konnten so auch auf dieser Ebene einen essenziellen Beitrag für das Ergebnis leisten. Formate von Podcasts, Blogs, Unterrichte, Webinare, Web-Konferenzen bis hin zu Koran-Homeschooling sind neue Angebote, die der muslimischen Glaubensgemeinschaft nun weitreichend zur Verfügung stehen. Lokale Grenzen sind dadurch aufgehoben, trotz der Isolation scheinen wir ein Stück weit enger zusammenzuwachsen.
Aktuell laufen sogar im Rahmen unseres Bildungsreferats in Koordination mit dem Council of European Muslims gemeinsame Programme und Angebote grenzübergreifend in Europa statt. Manche Teilnehmerzahlen bei den Online-Angeboten wären vor Ort in den Moscheen nicht umsetzbar gewesen. Die Coronakrise hat gewissermaßen auch den Digitalisierungsprozess innerhalb der muslimischen Glaubensgemeinschaft stark beschleunigt. Langfristig können und sollten diese neuen Formate die klassische Arbeit in den Moscheen ergänzen; ersetzen können sie diese aus unserer Sicht aber nicht. Persönliche Nähe und Wärme lässt sich nämlich nicht gänzlich über das Internet übertragen.
Als Muslime haben wir eine lange Tradition in der Weitergabe von Wissen und Werten, die auf Interaktion zwischen Schüler und Lehrer aufbaut. Auch die Rolle des Imams lässt sich nicht auf das einfache online Vortragen von Inhalten reduzieren. Unsere Imame – und diesen Anspruch haben wir auch gegenüber unseren Mitgliedern – sind engagierte Akteure in unseren Gemeinden.
Ein Großteil der Arbeit von Moscheen und Imamen, die für das Funktionieren der Gemeinschaft wichtig sind, lässt sich nicht ohne Weiteres in die schillernde Welt der Insta-Eindrücke verlagern. Man denke dabei an Trauerfeiern, Eheschließungen und Scheidungen, Beratung bei Familien- und Lebenskrisen, Beerdigungen etc. Prediger, die ausschließlich online wirken und aufgrund ihrer rhetorischen Stärke Anklang finden, könnten diesem bedeutenden Teil ihrer Verantwortung nicht gerecht werden.
Islamische Zeitung: Machen Sie im Ramadan besondere Angebote?
Khallad Swaid: Der Ramadan stellt eine besondere Herausforderung und Chance zugleich dar. Einerseits werden wir auf die gewohnte Gemeinschaftlichkeit des Fastenmonats verzichten müssen. Andererseits gibt uns das die Gelegenheit, tiefer in uns zu gehen und die spirituelle Beziehung zu Allah auf ganz andere Art wiederzubeleben. Wir werden unsere Online-Programme intensivieren. Die DMG möchte den Musliminnen und Muslimen Hilfen mitgeben, wie sie ihre Zeit im Ramadan gestalten können.
Die Coronapandemie ist letztlich ein von Gott gewolltes Schicksal, dem wir uns in aller Demut beugen müssen. Wir haben kurz nach Schließung der Moschee die Kampagne „Macht eure Häuser zu Gebetsstätten“ gestartet, angelehnt an einen Vers aus dem Koran (10:87). Der Fokus auf die nähere Familie ist eine Chance, die wir nutzen sollten. Es ist auch eine Gelegenheit, mehr Zeit mit unseren Kindern und Familien zu verbringen, als wir sonst gewohnt sind. Neben dem Homeschooling haben viele Eltern Ideen entwickelt.
Für den Ramadan setzen wir einige dieser Ideen nun online um, damit eine größere Anzahl Eltern und Kinder von ihnen profitieren können. Wir wissen auch, dass der Gesandte Gottes, Friede und Segen auf ihm, das Tarawwih-Gebet im Ramadan in der Regel zuhause verrichtet hat. Dem sollten wir folgen und das Gebet gemeinsam mit unseren Familien verrichten. Dabei können auch mal die Jüngeren vorbeten. Und wer nicht so viel Koran auswendig kann, der kann den Mushaf in die Hand nehmen und während des Gebetes daraus lesen.


Wir stehen alle vor der Herausforderung, uns entscheiden zu müssen, wie wir als Gemeinschaften im Laufe des Ramadans mit dieser Krise umgehen. Es ist uns allen bewusst, dass wir lange nicht wieder zum alltäglichen und gewohnten Ablauf der Moscheen zurückkehren können. Vielleicht verändert sich unser Leben sogar durch die neue Situation in einigen Bereichen nachhaltig. Moscheen sind in jedem Fall für die seelische und mentale Gesundheit vieler Gläubige sehr wichtig. Natürlich müssen wir als Religionsgemeinschaft in der Einschränkung von Grundrechten stets wachsam sein und politische Entscheidungen kritisch hinterfragen.
Aus diesem Grund begrüßen wir die Ankündigung der Politik, mit den Religionsgemeinschaften in einen Austausch zur „Normalisierung“ der Gottesdienste zu treten. Wir sind uns des Umstands bewusst, dass aufgrund der Pandemie größere Versammlungen von Menschen mit einem hohen Risiko verbunden sind. Im Ramadan wurde bisher in unseren Moscheen zum Teil täglich gemeinsam das Fasten gebrochen und Tarawwih gebetet. Heißt das neue „normal“, wir begrenzen die Anzahl der Moscheebesucher? Wer entscheidet dann, wer in der 27. Nacht des Ramadans, in der die Moscheen traditionell sehr hohe Besucherzahlen verzeichnen, in die Moschee darf?
Die Gelehrten unserer Fatwa-Räte sagen zum Gemeinschaftsgebet, welches eine Sunna Muakada (starke Sunna) ist, dass es nur in der Form gebetet werden kann, wie unser geliebter Prophet Muhammad, Friede und Segen auf ihm, es uns beigebracht hat: nämlich in einer Reihe, nah beieinander, in der sich Körperkontakt nicht vermeiden lässt. Dies würde aus Sicht des Infektionsschutzes eine hohe Ansteckungsmöglichkeit mit sich bringen. Deswegen lautet ihre Fatwa, während der Coronapandemie alle Gemeinschaftsgebete gegeben falls zuhause, jedoch nicht in der Moschee zu verrichten, da der Schutz des Lebens in jedem Fall höher zu werten ist, als die Umsetzung einer Sunna. In jedem Fall stehen wir vor schwierigen Fragestellungen und ich bete zu Allah, dass er uns rechtleitet, die richtigen Entscheidungen zu treffen.
Islamische Zeitung: Wie sehen die Reaktionen und das religiöse an der Basis aus? Gibt es hierzu schon Erkenntnisse?
Khallad Swaid: Die Besucherinnen und Besucher der Gemeinden wünschen sich natürlich eine schnelle Rückkehr zur Normalität. Ihre Empfindungen sind nicht anders als die der anderen Menschen auch; sie sind besorgt um die Gesundheit ihrer Liebsten oder um ihre Arbeitsplätze. Leider sind in unseren Gemeinden auch schon Krankheits- und Todesfälle bekannt geworden, die auf Covid-19 zurückzuführen sind. Dabei hat es Junge und Alte getroffen. Möge Allah ihrer Seelen gnädig sein. Auch wenn dies nur ein kleiner Trost ist, so hat uns der Prophet Muhammad, Friede und Segen sei auf ihm, berichtet, dass jemand, der im Gebiet einer Seuche zuhause verharrt, bei Allah die Stufe eines Schahid erhält. Das gilt insbesondere für diejenigen, die in dieser Zeit sterben und zu Allah zurückkehren. Möge Allah sie als Schahid bei sich annehmen.
Dass es aktuell keine klare Richtung gibt, da alle weltweit vor etwas völlig Neuem stehen, erzeugt bei uns, wie auch in der gesamten Gesellschaft, eine Verunsicherung. Als Muslime suchen wir in solchen Zeiten Trost und Zuflucht bei unserem Herrn und in unseren Gebeten.
Neben den materiellen Hilfsmitteln wie der Medizin etc. hat uns Allah spirituelle Hilfsmittel wie das Bittgebet (Dua) und vor allem das Spenden (Sadaqa) an die Hand gegeben, um Schlechtes und Krankheiten abzuwenden. Wir sollten uns gegenseitig dazu anspornen, diese Hilfsmittel noch besser zu nutzen.
Es ist aber auch besonders wichtig, dass wir all jenen Menschen, die im Gesundheitswesen oder anderen sogenannten „systemrelevanten Berufen“ tätig sind, in unseren Gemeinden die nötige Wertschätzung entgegenbringen.