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Von der Leyen gerät wegen Vakzinen in die Schusslinie

Foto: Jens Rother, Adobe Stock

BERLIN/BRÜSSEL (GFP.com/iz). Wegen der Fehlleistungen bei der Beschaffung von Covid-19-Impfstoffen nimmt der Druck auf die EU-Kommission und auf ihre Präsidentin Ursula von der Leyen zu. Nicht nur seien die Vertragsverhandlungen erheblich verschleppt worden, kritisiert etwa von der Leyens Amtsvorgänger Jean-Claude Juncker. Besonders schwer wiege, dass die auf deutschen Druck eingeführten Exportkontrollen „den Eindruck“ vermittelten, „das Leiden anderer Menschen vor allem in ärmeren Ländern“ spiele keine Rolle für die EU.

Um auch bei einem etwaigen EU-Exportstopp Zugang zu Impfstoffen zu behalten, baut etwa Japan jetzt eine nationale Vakzinproduktion auf. Der Unmut wächst auch in den Nicht-EU-Staaten Südosteuropas. Man habe eigentlich „westliche Impfstoffe beschaffen“ wollen, heißt es etwa aus nordmazedonischen Regierungskreisen; da keinerlei Lieferungen in Aussicht seien, werde man nun aber russische oder chinesische Vakzine bestellen. Unter wachsendem Druck stehend, öffnet sich inzwischen selbst die Bundesregierung für Impfstoffe aus Russland und China, die sie bislang stets abqualifiziert hat.

Druck auf von der Leyen

In der EU nimmt der Druck auf die Kommission sowie ihre Präsidentin Ursula von der Leyen wegen der desaströsen Fehlleistungen bei der Beschaffung von Covid-19-Impfstoffen zu. Anfang der Woche hat sich von der Leyens Amtsvorgänger Jean-Claude Juncker mit massiver Kritik zu Wort gemeldet. Vor allem das Aushandeln der Verträge mit den Impfstoffherstellern sei „zu langsam“ vonstatten gegangen, urteilte Juncker; in der Tat geht darauf unter anderem die aktuelle Produktionsverzögerung bei AstraZeneca zurück.

Prinzipielle Einwände äußert Juncker, Träger mehrerer deutscher Verdienstorden und bisher nicht als bereitwilliger Kritiker deutscher Spitzenpolitiker bekannt, an den Ausfuhrkontrollen für Vakzine, die die EU vergangenes Wochenende eingeführt hat – auf Druck aus Berlin: Vor allem Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hatte gefordert, eine „Pflicht zur Genehmigung von Impfstoffexporten auf EU-Ebene“ festzulegen. Dies hat die Kommission unter von der Leyen nun erfüllt. Juncker sagte am Montag auf einer Online-Veranstaltung des Bundeslandes Baden-Württemberg, er sei „sehr stark dagegen“, dass die EU mit den Exportkontrollen „den Eindruck“ biete, „dass wir uns um uns selbst sorgen und dass das Leiden anderer Menschen vor allem in ärmeren Ländern und auf ärmeren Kontinenten uns nicht berührt“.

Exportkontrollen mit Folgen

Juncker erinnerte zudem daran, dass man bereits in der Vergangenheit „mit Exportrestriktionen keine guten Erfahrungen gesammelt“ habe.[5] Die Äußerung bezieht sich darauf, dass zu Beginn der Covid-19-Pandemie zunächst die Bundesregierung ein nationales Ausfuhrverbot für medizinische Schutzausrüstung verhängt hatte; dies hatte insbesondere in Italien, das damals am härtesten von der Pandemie getroffen wurde und Hilfe benötigte, für einen Schock gesorgt sowie das Ansehen der EU kollabieren lassen.

Zwar hatte Berlin nach kurzer Zeit eingelenkt und sein Ausfuhrverbot aufgehoben; doch hatte sich die Erfahrung, von der EU im Ernstfall im Stich gelassen zu werden, zu diesem Zeitpunkt in Italien längst festgesetzt. Da gleichzeitig Brüssel ein eigenes Ausfuhrverbot verhängte, wurden nun Proteste in den Nicht-EU-Staaten Südosteuropas, etwa in Serbien, laut, da sie nun ihrerseits von der Lieferung von Schutzausrüstung abgeschnitten wurden.

Junckers Warnung, neue Exportrestriktionen schadeten erneut, bestätigen sich bereits. So hat der ehemalige japanische Außen- und Verteidigungsminister Tarō Kōno, dem aktuell die Organisation der gleichfalls verspäteten japanischen Impfkampagne obliegt, darauf hingewiesen, dass Japans geplante Impfstoffkäufe in der EU durch deren neue Exportkontrollen verzögert zu werden drohen und sogar ganz gestoppt werden könnten. Tokio sichert sich durch den Aufbau einer nationalen Vakzinproduktion ab – mit einer Lizenz für den Impfstoff von AstraZeneca.

Im Stich gelassen

Offen zutage treten die Folgen der EU-Fehlleistungen bei der Impfstoffbeschaffung zur Zeit nicht zuletzt in Südosteuropa – vor allem in Serbien. Das Land hatte bereits im Frühjahr 2020, von der EU per Exportstopp abgewimmelt, in China Unterstützung bei der Beschaffung medizinischer Schutzausrüstung erbeten – und prompt umfangreiche Hilfe erhalten.

Brüssel reagierte darauf mit dem Vorwurf, Beijing betreibe verwerfliche „Maskendiplomatie“, und es forderte später – nach der Wiederaufnahme eigener Hilfslieferungen nach Südosteuropa – von den dortigen Staaten offizielle Dankbarkeitsbekundungen ein: In der Abschlusserklärung nach dem EU-Westbalkangipfel vom 6. Mai 2020 hieß es, „Unterstützung und Kooperation“ der EU gingen „weit über das hinaus“, „was der Region jeder andere Partner zur Verfügung“ stelle; das verdiene „öffentliche Anerkennung“.

In Zeiten der Not

Dass es sich dabei um keine Marginalie handelt, zeigen Reaktionen auch aus den anderen Nicht-EU-Staaten Südosteuropas. Bisher hat außer Serbien lediglich Albanien ein kleines Impfkontingent von 10.000 BioNTech/Pfizer-Dosen aus der EU erhalten, Bosnien-Herzegowina, Nordmazedonien und Montenegro dagegen noch gar nichts. „Wir wollten westliche Impfstoffe beschaffen, um zu zeigen, wo wir als Land hingehören, und hatten ursprünglich die Möglichkeit ausgeschlossen, mit den Russen und den Chinesen zu verhandeln“, wird jetzt ein Regierungsmitarbeiter aus Nordmazedonien zitiert. Das lasse sich nun aber angesichts der Unklarheit, wann und ob überhaupt mit Impfstofflieferungen zu rechnen sei, nicht mehr aufrechterhalten – auch wenn jetzt „jemand sagen“ könne, „dass in Zeiten der Not China und Russland helfen, während die westlichen Regierungen scheitern“.

„Der Schaden, den sie [die EU, d. Red.] sich selbst antun, ist unglaublich“, urteilt ein Experte des Berliner Think-Tanks European Stability Initiative (ESI). Inzwischen ist mit Ungarn ein erstes EU-Mitglied dazu übergegangen, chinesische und russische Impfstoffe zu bestellen. Beide sind mittlerweile auf nationaler Ebene zugelassen; am Dienstag ist nun eine erste Lieferung Sputnik V (40.000 Dosen) in Budapest eingetroffen. Zudem hat Ungarns Regierung fünf Millionen Impfdosen bei Sinopharm bestellt.

Sputnik V

Mit Blick auf den anhaltenden Impfstoffmangel sehen sich Berlin und Brüssel dabei inzwischen nicht mehr in der Lage, die Nutzung russischer und chinesischer Vakzine in größerem Umfang zu unterbinden. Im üblichen Gefühl westlicher Überlegenheit hatten Politik und Medien in der EU nichtwestliche Impfstoffe bislang pauschal abqualifiziert und sie mit einer Negativkampagne überzogen. Fast ein Schock war es für viele, als die renommierte Fachzeitschrift The Lancet am Dienstag berichtete, die Schutzquote von Sputnik V liege bei bemerkenswerten 91,6 Prozent.

Mit Blick darauf, dass die anhaltende Verschleppung der Impfkampagnen in der EU nicht nur für wachsende Unruhe in der Bevölkerung sorgt, sondern wegen der weiter notwendigen Lockdowns auch Milliardenschäden für die Wirtschaft verursacht, hatte Bundesgesundheitsminister Spahn bereits Ende Januar Offenheit für chinesische und russische Impfstoffe angedeutet.

Jetzt hat auch Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärt, in der EU sei jedes Vakzin „herzlich willkommen“. Berichten zufolge will EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen einer künftigen Nutzung von Vakzinen aus Russland und China ebenfalls nicht im Wege stehen. Moskau hat die Zulassung für Sputnik V in der EU inzwischen beantragt. Die Produktion des Vakzins bei IDT Biologika in Dessau (Sachsen-Anhalt) ist im Gespräch.

Profit vor Leben

Trotz ihres Versagens bei der Impfstoffbeschaffung hält die EU nach wie vor an einem Grundsatz fest: daran, dass sie die Freigabe der Impfstoffpatente – dies sogar für die Dauer der Pandemie – verweigert. Eine Patentfreigabe würde es ermöglichen, sämtliche Produktionskapazitäten weltweit zu nutzen, um die Bevölkerung nicht nur der reichen, sondern auch der ärmeren Länder möglichst bald impfen zu können.

Mit ihrer Weigerung verzögert die EU die globale Erholung von der Pandemie, sichert allerdings den Pharmakonzernen satte Profite. Pfizer etwa hat soeben mitgeteilt, man rechne mit einem Umsatzwachstum allein durch den Covid-19-Impfstoff um 15 Milliarden US-Dollar in diesem Jahr. Die Gewinnmarge vor Steuern schätzt der Konzern, der sich den Bruttogewinn gleichberechtigt mit BioNTech teilen will, auf 30 Prozent: Die Pandemie ist für die beiden Unternehmen demnach Milliarden wert.

Dass es auch anders geht, zeigt AstraZeneca: Der britisch-schwedische Konzern produziert und vertreibt seinen Impfstoff auf Insistieren der Universität Oxford, die ihn entwickelt hat, laut eigener Aussage zum Herstellungspreis, jedenfalls bis zum Ende der Pandemie (das AstraZeneca freilich selbst definiert). Die Folge: Eine Impfdosis kostet bei BioNTech/Pfizer (Deutschland/USA) gut 12, bei AstraZeneca (Hauptsitz: Cambridge) hingegen 1,78 Euro.