
Ein Essay von Y.K. Gürsoy über eine notwendige Bedingung für eine gelungene Erziehung von Kindern.
(iz). In vielen Familien spielt sich eine alltägliche Szene ab: Der Vater sitzt erschöpft im Wohnzimmer, das Smartphone in der Hand, während im Hintergrund der Fernseher läuft. Plötzlich ruft er seiner Tochter zu, sie möge doch bitte die Hausaufgaben erledigen, das Handy weglegen und ein Buch zur Hand nehmen.
Ein zwölfjähriges Kind könnte in diesem Moment irritiert reagieren und sich fragen, warum der Vater entspannen darf, während es selbst lesen soll. Ist der Widerspruch in dieser Aufforderung nicht offensichtlich?
Was bedeuten Eltern am Handy für Erziehung?
Lassen Sie uns diese Szene kurz anhalten und mithilfe des Kommunikationsmodells von Schulz von Thun genauer betrachten: Der Vater sendet mit seiner Aufforderung vier verschiedene Botschaften. Erstens drückt er sein Anliegen aus: „Du sollst deine Hausaufgaben machen oder lesen.“ Zweitens offenbart er etwas über seinen eigenen Zustand: „Ich bin erschöpft, mache mir aber Sorgen um deine Zukunft.“ Drittens zeigt er seine Gefühle: „Ich liebe dich, kann mich momentan jedoch nicht um dich kümmern.“ Viertens verdeutlicht er seine Erwartungen: „Beschäftige dich sinnvoll und erfülle deine Pflichten.“
Nach dieser kurzen Analyse sollten wir die Wirksamkeit der väterlichen Aussage (arab. Islah) hinterfragen und Wege finden, wie Eltern authentischer und glaubwürdiger Erscheinen können. Die Bedeutung von Glaubwürdigkeit und die Wirksamkeit des Appells werden auch im Qur’an, in der Sure Baqara, Vers 44, thematisiert
Dort wird den Nachfahren Jakobs folgender Rat gegeben: „Wollt ihr den Menschen Aufrichtigkeit (gute Taten) gebieten und euch selbst vergessen, wo ihr doch das Buch lest! Habt ihr denn keinen Verstand?“ Dieser Vers fordert dazu auf, zunächst selbst vorbildlich zu handeln, bevor man andere belehrt.
Das Gleichnis vom Sklaven und dem Gelehrten
Ein Qur’ankommentator ergänzt hierzu eine passende Parabel: Ein Sklave, beeindruckt von der Verehrung seines Herrn für einen weisen Gelehrten, bittet diesen um seine Freilassung. Der Gelehrte stimmt zu. Es vergeht jedoch eine Weile.
So kommt der Sklave noch einmal zu dem Gelehrten und erinnert ihn: „Sie haben es wohl vergessen. Sie wollten doch zu meinem Herrn, ihren Schüler, gehen und um meine Freiheit bitten.“ Wieder willigt er ein. Nach einigen Tagen bittet der Weise seinen Schüler mit einfachen Worten: „Würdest du bitte deinen Sklaven in die Freiheit entlassen, mein lieber Sohn?“ Auf der Stelle gibt sein Schüler dem Sklaven die Freiheit. Wenig später kommt der Sklave zum Weisen und fragt erstaunt: „Mein Herr, warum haben sie so lange gebraucht, um einer Bitte nachzukommen?“
Der Weise antwortet, auch er habe einen Sklaven gehabt. Als Besitzer eines eigenen Sklaven würde er sich als einer von denen sehen, die anderen Aufrichtigkeit (gute Taten) gebieten und sich selbst vergessen. Davor habe er Ehrfurcht gehabt. So habe er sich zunächst auf ein Leben ohne Sklaven eingestellt, seine Geschäfte erledigt und zuerst seinem eigenen Sklaven die Freiheit gegeben und erst dann seinen Schüler darum gebeten.
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Wie der Prophet mit Kindern umging
Diese Parabel spiegelt sich in der Erziehungsmethode des Propheten Muhammed, Friede sei mit ihm, wider, die uns aus seinem Umgang mit seinen Kindern, Enkelkindern und anderen Menschen in seiner Umgebung bekannt ist.
Kehren wir zurück zum erziehenden Vater: Seine Worte werden nur dann wirkungsvoll sein, wenn er seiner Tochter vorlebt, wie man seine Zeit sinnvoll nutzt. Damit sind nicht nur die abendliche Lektüre, das gemeinsame Gebet oder andere vorzügliche Taten gemeint.
Dazu gehört auch die Gestaltung der Freizeit, das achtsame Fernsehen, das bewusste Surfen im Internet oder auch das Anschauen eines bewegenden Films.
Stellen wir uns nun das überarbeitete Szenario vor: Der Vater legt sein Smartphone beiseite, wendet sich seinem Kind zu und bietet seine Unterstützung bei den Hausaufgaben an.
Indem er aktiv teilnimmt und nicht nur Anweisungen gibt, handelt er glaubwürdig. Allmählich (inscha’Allah) wird das Kind auf diese Weise den väterlichen Appell annehmen und umsetzen.
Der Autor ist Mitglied der Fachgruppe Lehrkräfte des Netzwerk muslimischer Akademiker (nma-hamburg.de).