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Was verbindet uns noch im Jahr 2020?

Ausgabe 307

In diesem Jahr verließen Verschwörungsmythen das Netz und manifestierten sich sichtbar für alle. (Foto: Jaz_Online, Shutterstock)

(iz). Ende 2016, nach der Wahl von Trump zum US-Präsidenten, erklärte der Verlag des Oxford-Wörterbuches „postfaktisch“ zum internationalen Wort des Jahres. Der Begriff wurde von den Herausgebern als Adjektiv definiert, das Umstände beschreibe, in denen objektive Fakten weniger einflussreich bei der Bildung der öffentlichen Meinung seien als Appelle an Emotionen und persönliche Überzeugungen. Alleine 2016 hätte sein Gebrauch um 2.000 ­Prozent zugenommen.

Es ist kein Zufall, dass sich das Postfaktische im letzten Jahr der Amtszeit Trumps zu einem weltweiten Phänomen ausgewachsen hat, das mehr als nur Thema für Sozial- und Sprachwissenschaftler ist. Es stellt die Grundlage ­infrage, auf denen unsere Gesellschaft basieren sollte. Ist „Wahrheit“ eine objektive, zugängliche Sache oder subjektive Gewissheit, die in den Wahn eines „Muts zur Wahrheit“ zu münden droht?

Dieses Phänomen ist nicht neu. Muslime warnte der bekannte Imam Al-Ghazali vor neun Jahrhunderten vor der Gefahr, dass der Denker (dessen Idee logisch scheint) meint, er befände sich im Besitz einer allgemeingültigen Wahrheit. 2018 schrieb die US-Literaturwissenschaftlerin Michiko Kakutani „Der Tod der Wahrheit“ über das Verschwinden einer verbindlichen Realität. „Objektivität – oder sogar die Idee, dass Menschen danach streben können, die beste verfügbare Wahrheit herauszufinden – ist seit Jahrzehnten in Ungnade gefallen“, findet sich im Anfang des Buches. Kakutani beruft sich auf einen Satz des US-Politikers und Soziologen Moynihan: „Jeder hat Anspruch auf seine eigene Meinung, aber nicht auf seine eigenen Tatsachen.“

Es wäre ein kapitaler Fehler, diese Lust am radikalen Subjektivismus ausschließlich einem mutmaßlich rechten Dunstkreis zuzuschreiben und damit abschieben zu wollen. Aktuelle Erhebungen aus den USA deuten an, dass sich diese verschwörungsmythische Neigung in allen politischen Lagern und in allen ethnischen Segmenten der Gesellschaft findet. Sie manifestiert sich ebenso bei Linken oder Menschen mit Migrationshintergrund. Dort beispielsweise in der Weige­rung zur Differenzierung. Die Kritikerin Helen Pluckrose geht in „Cynical Theories“ (2020) davon aus, dass Trump und sein Umfeld gelehrige Schüler der linken Postmoderne waren.

Was schafft Abhilfe? Vielleicht hilft ein Blick auf das Werk der jüdisch-deutschen Denkerin Hannah Arendt. In ihrer Reflexion zu „Common sense“ (auf Deutsch oft verkürzt „gesunder Menschenverstand“) sieht sie darin ein gemeinsames Teilen von Wahrheit. Wir brauchen die Fähigkeit, Bedeutung aus unseren Erfahrungen abzuleiten.