Was zeigt uns das Werk von Ibn ­Khaldun? Von Abu Bakr Rieger

Ausgabe 229

(iz). Seit nunmehr einem Jahrzehnt versuchen wir als EMU die verschiedenen Facetten des Islam in Europa zu beleuchten. Zweifellos ist es gerade auch die Präsenz der europäischen Muslime, die deutlich macht, dass der Islam keinesfalls ein Phänomen der Fremde darstellt. Über Jahrhunderte hat der Islam tiefe Spuren in der Geschichte Europas hinterlassen. Hierzu gehört natürlich insbesondere das historische Erbe der Muslime Südost- und Osteuropas, Siziliens und Andalusiens. Man kann wohl mit Recht sagen, dass ohne das Studium der jahrhundertelangen Präsenz in Andalusien das Bild des Islam in Europa zutiefst unverstanden bleiben muss. Oh­ne klare Kenntnisse der Geschichte des Islam, wird es uns auch schwer fallen, den destruktiven Einfluss muslimischer Ideologen und Fanatiker auf das Erscheinungsbild der Muslime zurückzudrängen.

Genauso gilt es für ein tieferes Verstehen der islamischen Lebenspraxis, die großen Denker und Philosophen aus Ost und West und ihr Verhältnis zum Islam in Europa in Erinnerung zu rufen. Viele europäische Philosophen sahen im Phänomen der Einheit, für die der Islam ja steht, eine faszinierende Möglichkeit, das Denken und die Religion zu versöhnen. Im Februar 2013, um nur ein Beispiel zu nennen, hat unser NGO in Weimar, in einem Seminar über das Werk Johann Wolfgang von Goethes, diese facettenreiche Beziehung näher beleuchtet. Von Goethe selbst stammt ja auch der berühmte Satz: „Wenn Islam Gottergebenheit heißt, leben und sterben wir alle im Islam“.

Nachdem wir vor zwei Jahren über das Werk Rainer Maria Rilkes in Ronda nachgedacht haben, haben wir uns im Juni diesen Jahres vorgenommen, das Werk Ibn Khalduns in einen europäischen Kontext zu setzen. Der Historiker Arnold Toynbee sieht in ihm einen der „brillantesten und scharfsinnigsten Geister und einen der größten Historiker den die Menschheit je hervorbracht hat“.

Ibn Khaldun ist aber nicht nur Historiker, sondern auch ein bedeutender Rechtsgelehrter und überzeugter Verteidiger des Sufismus. Wie alle großen Persönlichkeiten und Denker der Vergangenheit, besticht das Werk Ibn Khalduns durch seine bemerkenswerte Aktualität. Ich möchte in aller Kürze versuchen, einige Leitgedanken Ibn Khalduns für die Deutung der Lage Europas, aber auch für die Situation der Muslime in Europa, hervor zu heben. Natürlich verführt die berühmte These Khalduns, die vom unaufhaltsamen Auf- und Abstieg aller Zivilisationen handelt, zunächst zu der Frage, wie es diesbezüglich um Europa steht. Wo steht also Europa heute?

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Pessimisten sprechen bereits vom Untergang der europäischen Kultur zugunsten einer entleerten Weltkultur. Sie befürchten Überfremdung und immer neue unlösbare Probleme der Immigration. Es ist von der Krise des Christentums die Rede oder gar von einem bevorstehenden Kampf „heimischer“ und „fremder“ Kulturen innerhalb der Grenzen Europas. Verstärkt wird der neue Pessimismus durch die prekäre ökonomische Lage, in der wir uns in den Jahren der Finanzkrise befinden. Gerade die europaweit praktizierte Inflationskultur, die beinahe zwanghaft immer größere Geldmengen in Umlauf bringt, gibt dem Denkenden tatsächlich Anlass für wachsende Sorgen. Tatsächlich sind, gerade aus der Sicht Ibn Khalduns, Luxus, Konsum und Schulden – wie wir in seinen Werken lernen – sichere Zeichen einer zerfallenden Zivilisation. Auch die rettende Idee ewigen Wachstums, die in Europa nach wie vor bestimmend ist, kann vor seiner ökonomischen Vernunft sicher nicht bestehen.

Ein bedenkliche Folge dieser geistigen Krise und der Zunahme des neuen Pessimismus in Europa kann man – ich erinnere nur an den Ausgang der Europawahlen 2014 – in dem Erstarken rechter und nationalistischer Parteiungen sehen, die mit dem Vorschlag antreten, den kulturellen Zerfall und den Identitätsverlust Europas mit einer Wiederbelebung nationaler Ideen aufzuhalten. Das Beispiel der faschistoiden „Front National” in Frankreich zeigt den Trend, den alten Antisemitismus durch eine neue Islamfeindlichkeit zu ersetzen und die Muslime gar als Fremde ohne eigene Bürgerrechte einzustufen.

Das Motto der neuen Nationalisten ist eher simpel: „Wir sind Europäer, weil sie es nicht sind!“. Der neuen „rechten“ oder „nationalen“ Bewegung fällt es deutlich leichter, den Feind, den Gegner zu definieren, als etwa den positiven Inhalt einer neuen europäischen Kultur. Sie haben keine erneuerte Kultur anzubieten. Infam ist auch der Versuch, sogar in Europa geborene Muslime nicht als Europäer und als natürliche Träger allgemeiner Bürgerrechte zu sehen. Auch ökonomisch hat der neue rechte Populismus, nebenbei erwähnt, kein Konzept, wie eine neue „Nationalökonomie“ unter den globalen Bedingungen der Finanzmärkte bestehen kann.

Diese Bewegung nutzt auch – ob wir Muslime wollen oder nicht – immer öfter der wachsenden negativen Haltung vieler Europäer gegenüber dem Islam. In Deutschland sind, nach einer Untersuchung der Universität Leipzig, inzwischen 56% der Bevölkerung gegen eine weitere Zuwanderung aus der islamischen Welt. Zwar geht die Plage des Antisemitismus auch in Deutschland zurück, allerdings auf Kosten neuer Feindbilder, insbesondere einer wachsenden Ablehnung gegenüber dem Islam. Wir als Muslime müssen uns dabei Sorgen machen, dass islamfeindliche Positionen auch in der Mitte der Gesellschaft zu finden sind. Der ehemalige deutsche Bundespräsident Wulff, der nach 598 Tagen von seinem Amt zurücktreten musste, hat gerade in seinen Erinnerungen berichtet, wie sehr sein Bekenntnis „der Islam sei Teil Deutschlands” ihm Feindschaft und Gegnerschaft eingebracht hat.

Wir Muslime müssen also jetzt mit dafür Sorge tragen, dass sich in Europa ein neuer Optimismus durchsetzt. Wenden wir uns also nun der Anderen, der optimistischen Sichtweise zu.

Tatsächlich ist die Frage, wie Europa mit dem Islam umgeht, für den Charakter des künftigen Europa von entscheidender Bedeutung. Natürlich sind gerade wir, die europäischen Muslime, in unserer Heimat gefragt, an dieser Debatte aktiv teilzunehmen. Als Muslime, von Natur aus den Mittelweg suchend, wenden wir uns gleichermaßen gegen Modelle des provinziellen Nationalismus oder eines weltstaatlichen Zentralismus. Enorm wichtig ist für uns dagegen der soziale Zusammenhalt der gesamten Bevölkerung auf lokaler Ebene. Auch hier finden wir bei Ibn Khaldun einen weiteren Schlüsselgedanken: Assabiyya.

Der Begriff entzieht sich zunächst – wie so oft, wenn wir die eigenständige Terminologie des Islam benutzen – einer eindeutigen Übersetzung in eine europäische Sprache. Es handelt sich hier um die Benennung des sozialen Bindegliedes, den gemeinsamen Nenner zwischen den Menschen, der ihrer aktuellen politischen Natur und ihrem Status entspricht. Dieses setzt dabei immer eine freie Entscheidung voraus, welche ökonomischen, politischen, sozialen oder kulturellen Elementen gemeinsames Handeln ermöglichen soll. Ibn Khaldun wendet sich mit diesem Begriff gegen einen reinen Individualismus, der nach seiner Auffassung nicht der politischen und sozialen Natur des Menschen entspricht.

Nach Ibn Khaldun ist die höchste Form von Asabiyya die „religiös“ motivierte. Sie geht über das provinzielle Stammesdenken hinaus. Aus islamischer Sicht hat diese höchste Form der Assabiyya nichts mit Nationalismus oder der Dominanz einer bestimmten Kultur zu tun. Natürlich kann ich Spanier, Engländer oder Deutscher und gleichzeitig Muslim sein. Bedauerlicherweise entsteht heute in Europa ein falscher Eindruck, da sie noch immer viele antiquierte Organisationen auf Grundlage ethnischer Abgrenzung und Ghettoisierung konstituieren.

Wir definieren dagegen europäische Muslime, die als Europäer die europäischen Sprachen sprechen und ihren sozialen, ökonomischen und kulturellen Beitrag leisten wollen. Ein wichtiges Bindeglied für unsere Gemeinschaften ist dabei die korrekte Erhebung der Zakat und nicht etwa die Herkunft oder ethnische Kategorien.

Klar ist, nur wenn wir die Beiträge des Islam für das soziale und ökonomische Leben öffentlich machen, können wir in Europa eine positive und selbstbestimmte Rolle spielen. Noch immer sehen viele Europäer nicht den zivilisatorischen Beitrag des Islam, der sich aber in der Forderung nach dem freien Markt, dem globalen fairen Handel, dem Wirtschaftsrecht oder den Stiftungen zeigt. Und – dies zeigt sich auch in dem Denken Ibn Khalduns – das islamische Denken setzt die europäische Suche nach der Einheit des Daseins und dem Verstehen der Lebensvorgänge fort. Hier, bei der Bestimmung der eigentlichen konstruktiven Thematik des Islam, hat die European Muslim Union eine zweifellos wichtige Rolle. In Sevilla wurde dabei deutlich, was der Begriff „Assabiyya” für uns europäische Muslime heute positiv ausmacht.