Köln/Kassel (GFP.com) Neue Recherchen zu den Mordanschlägen des NSU belasten einen Mitarbeiter und einen V-Mann zweier deutscher Geheimdienstbehörden schwer. Wie aktuelle Berichte bestätigen, steht ein langjähriger führender Aktivist der Kölner Neonaziszene im dringenden Verdacht, im Dezember 2000 einen Sprengsatz in einem Kölner Lebensmittelgeschäft platziert zu haben. Der Anschlag zählt zur Verbrechensserie des NSU. Der Neonazi-Aktivist ist vom Verfassungsschutz des Landes Nordrhein-Westfalen als „geheimer Mitarbeiter“ geführt worden und hatte womöglich noch im Jahr 2009 zum NSU-Führungstrio Kontakt.
Neue Verdachtsmomente werden auch gegen den hessischen Verfassungsschutzbeamten Andreas Temme bekannt. Demnach sind Schmauchspuren, die auf seinen Handschuhen gefunden wurden, einer Munitionsart zuzuordnen, die selten genutzt wird, aber bei den NSU-Morden verwendet wurde. Temme ist schon zuvor in Verdacht geraten, in den NSU-Mord in Kassel involviert gewesen zu sein, da er genau zur Tatzeit den Tatort verließ, das Mordopfer Halit Yozgat aber weder lebend noch tot gesehen haben will, was aufgrund der Verhältnisse am Tatort unmöglich zu sein scheint. Ermittlungen gegen ihn sind vom damaligen Innenminister und heutigen Ministerpräsidenten des Bundeslandes Hessen, Volker Bouffier, systematisch verhindert worden.
Affinität zu Waffen
Aktuellen Berichten zufolge ist einer der NSU-Anschläge mutmaßlich von einem „geheimen Mitarbeiter“ des nordrhein-westfälischen Landesamtes für Verfassungsschutz begangen worden. Dabei handelt es sich um den Sprengstoffanschlag in der Kölner Innenstadt vom Winter 2000/01, der zur Verbrechensserie des NSU zählt. Der Täter hatte am 21. oder 22. Dezember 2000 einen Sprengsatz im Lebensmittelgeschäft von Djavad M. in Köln abgestellt; die Bombe explodierte am 19. Januar 2001 und verletzte Djavads 19-jährige Tochter Mashia M. lebensgefährlich. Die Tat wurde nie aufgeklärt; ermittelt wurde vor allem im Milieu der Organisierten Kriminalität, bis das Bekennervideo des NSU zumindest die Neonazi-Täterschaft klarstellte.
Wie nun berichtet wird, liegen seit über drei Jahren konkrete Verdachtsmomente gegen einen Neonazi aus Köln vor, ohne dass dieser bisher belangt wurde. Demnach erhielt das Bundeskriminalamt, als es im Februar 2012 dem NRW-Verfassungsschutz ein Phantombild des Täters zwecks Überprüfung übermittelte, die Antwort, das Bild weise erkennbar „Ähnlichkeiten“ mit dem Kölner Neonazi Johann Helfer auf. Dieser werde seit dem Jahr 1989 als „geheimer Mitarbeiter“ des Verfassungsschutzes geführt, bestätigte die damalige Leiterin des NRW-Verfassungsschutzes, Mathilde Koller, in einem als „geheime Verschlusssache“ eingestuften Schreiben an das Bundeskriminalamt; er zeige außerdem „eine gewisse Affinität zu Waffen und Wehrübungen“. Anhaltspunkte für eine Tatbeteiligung bestünden allerdings nicht. Die Behörden unterließen weitere Schritte.
//1// Wehrsport und Sprengstoff
Johann Helfer ist Beobachtern der NRW-Neonaziszene schon lange bekannt. Im 2008 aufgelösten „Kampfbund Deutscher Sozialisten“ (KDS) sowie in der Kölner Neonazi-„Kameradschaft Walter Spangenberg“ betätigte er sich im unmittelbaren Umfeld des Nachwuchsführers Axel Reitz (Spitzname: „Hitler von Köln“), auf den ihn der NRW-Verfassungsschutz offenbar gezielt ansetzte. Helfer habe gelegentlich Neonazi-„Aufmärsche sowie Gegenproteste mit seiner Videokamera“ gefilmt, heißt es auf dem Rechercheportal „Lotta“ – eine Aktivität, die wegen Helfers Arbeit für den Verfassungsschutz besondere Aufmerksamkeit verdient.
Ungeklärt ist, ob er auch ein Jahrestreffen der „Kameradschaft Walter Spangenberg“ vom November 2009 in Erftstadt bei Köln dokumentiert hat, bei dem, wie ein Beteiligter bereits Ende 2011 berichtete, das bekannte NSU-Trio (Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos, Beate Zschäpe) von Reitz persönlich in den Veranstaltungsraum geleitet worden sein soll. Helfer hat Berichten zufolge an dem Treffen teilgenommen.
Trotz seiner Vergangenheit in der extremen Rechten ist er einst bei der Bundeswehr zum Scharfschützen ausgebildet und später, wie es heißt, „vom Verfassungsschutz gezielt auf den Reservistenverband der Scharfschützen angesetzt“ worden. Er hat, wie er selbst erklärt, einst einer Wehrsportgruppe angehört und ist 1985 verurteilt worden – wegen eines Verstoßes gegen das Sprengstoffgesetz.
Geheimer Mitarbeiter
Der Verdacht, Johann Helfer könne der Täter des Kölner Sprengstoffanschlags sein, ist bereits im vergangenen Jahr öffentlich geäußert worden. Im Juni 2014 wiesen zwei Nebenklage-Anwältinnen im NSU-Prozess auf die Ähnlichkeit zwischen ihm und dem Attentäter-Phantombild hin. Sie monierten, die Ermittlungsbehörden hätten Djavad M. und seiner zweiten Tochter Mahshid M. zur Identifizierung lediglich verschwommene, unbrauchbare Fotos vorgelegt; entsprechend habe die Identifizierung scheitern müssen.
Bis heute ist der Kölner Neonazi offenbar nicht einmal in der Sache verhört worden, obwohl Djavad und Mahshid M. ihn inzwischen auf einem im Internet kursierenden Foto erkannt zu haben meinen. Träfe der Verdacht zu, dann liefe seit Jahren ein von einem deutschen Geheimdienst als „geheimer Mitarbeiter“ geführter Neonazi-Terrorist mit Wissen der Behörden frei herum, obwohl die Vorwürfe gegen ihn seit einem Jahr sogar öffentlich bekannt sind. Darüber hinaus wäre klar, dass der NSU größer war als das altbekannte Trio – und dass nicht alle seine Verbrechen von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos begangen wurden. Die Frage nach möglichen weiteren Tätern wäre dringlicher denn je.
Täterwissen
Neue Erkenntnisse liefert auch ein aktueller Bericht über die Umstände des NSU-Mords an Halit Yozgat am 6. April 2006 in Kassel. Die Erkenntnisse betreffen Andreas Temme, einen Mitarbeiter des hessischen Landesamts für Verfassungsschutz, der für seine extrem rechte Gesinnung bekannt war. Temme hatte sich an jenem 6. April 2006 genau zur Tatzeit in dem Kasseler Internet-Café aufgehalten, in dem Yozgat unmittelbar nach 17 Uhr erschossen wurde. Beim Verlassen des Internet-Cafés will er Yozgat nicht gesehen haben, obwohl dieser entweder am Tresen gesessen oder sterbend daneben gelegen haben muss; den dumpfen Knall, den die anderen Zeugen wahrnahmen und im Nachhinein als Schuss identifizierten, will der erfahrene Schütze nicht gehört haben.
Erst kürzlich wurde bekannt, dass Temme bereits wenige Tage nach dem Mord im Gespräch mit einer Kollegin erwähnte, die Tat sei mit derselben Waffe begangen worden wie eine bundesweite Mordserie. Bei der Mordserie handelte es sich, wie man heute weiß, um den Terror des NSU. Weil die Kasseler Tatwaffe damals weder öffentlich noch behördenintern bekannt war, stufen Experten Temmes Wissen über sie als „Täterwissen“ ein.
//2// Schmauchspuren
Ein Bericht, der vor einigen Tagen in der Chemnitzer Tageszeitung „Freie Presse“ erschienen ist, fügt weitere gravierende Verdachtsmomente hinzu. Er befasst sich mit Schmauchspuren an Handschuhen von Temme, die die hessische Polizei – sie stufte den Verfassungsschützer zu Beginn als Verdächtigen ein – bei einer Durchsuchung im Haus seiner Eltern fand.
Das Bundeskriminalamt stufte den Beweiswert der Schmauchspuren als gering ein, weil Temme Sportschütze sei; den Resultaten einer genaueren Untersuchung gingen die Behörden nicht nach. Dabei ergab die Analyse der Schmauchspuren, wie die „Freie Presse“ jetzt schreibt, dass sie eine höchst „unübliche chemische Zusammensetzung“ aufwiesen und typisch für die Munition der tschechischen Firma „Sellier und Bellot“ seien. Diese Munition wird in Temmes Schützenverein Hegelsberg-Vellmar nicht genutzt; „der Hersteller ist mir gar nicht bekannt“, bestätigt der Vereinsvorsitzende gegenüber der „Freien Presse“. Verwendet worden ist die Munition von „Sellier und Bellot“ allerdings bei den Morden des NSU.
Parallelen
In diesem Zusammenhang gewinnt, wie die „Freie Presse“ weiter schreibt, die Aussage eines zur Tatzeit im hinteren Raum des Internet-Cafés anwesenden Zeugen neue Bedeutung. Der Zeuge hat stets bekräftigt, er habe den Schuss, mit dem Yozgat ermordet wurde, gehört, als Temme soeben das Internet-Surfen beendet und den hinteren Raum verlassen habe – vorbei an Halit Yozgats Tresen im vorderen Raum. Temme habe eine Plastiktüte mit sich getragen, in der „etwas Schweres“ gewesen sein müsse – sie habe sich nach unten in die Länge gezogen. Temme hat erklärt, keine Plastiktüte dabeigehabt zu haben. „Relevanz hat die Frage“, resümiert die „Freie Presse“, weil die Morde des NSU alle „mit einer schallgedämmten Pistole ausgeführt wurden, die zusätzlich von einer Tüte umhüllt war“: „Mutmaßlich versuchten die Täter so, Patronenhülsen aufzufangen, um diese nicht am Tatort zurückzulassen.“
Verschwimmende Grenzen
Der NSU-Skandal hat bereits zahlreiche Beispiele ans Tageslicht gebracht, wie staatliche Stellen durch passive Begünstigung und aktive Förderung den Aufbau gewalttätiger Neonazi-Strukturen unterstützten – und wie bezahlte Agenten („V-Männer“) diese Strukturen durchsetzten. Die aktuellen Erkenntnisse zu den Fällen Temme und Helfer belegen erneut, wie die Grenzen zwischen Aktivitäten der Behörden und neonazistischer Gewalt dabei verschwimmen – mit katastrophalen Folgen.
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