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Wir brauchen feste Alltagsroutinen

Ausgabe 309

Pandemie
Foto: Yura Yarema, Adobe Stock

(iz). Ayşe Gerner ist Professional Coach, psychosoziale Beraterin und Psychologin in Ausbildung. Derzeitig ist sie in Köln und Düsseldorf in der Familien- und Eheberatung mit dem Schwerpunkt muslimische Familien tätig.

Wir sprachen mit ihr über die Auswirkungen der langanhaltenden Pandemie und des Lockdowns für Familien und Paare. Und wir wollten wissen, welche Tipps sie hat, um mit etwas Alltagsroutine und frischer Luft besser durch diese schwierige Zeit zu kommen.

Islamische Zeitung: Liebe Ayşe Gerner, Sie studieren unter anderem Psychologie und haben psychosoziale Beratung studiert. Momentan arbeiten Sie als Lebensberaterin in Düsseldorf und in Köln. Wollen Sie sich kurz vorstellen?

Ayşe Gerner: Mein Name ist Ayşe Gerner und bin aus Düsseldorf. Ich habe psychosoziale Beratung in der Migrationsarbeit studiert und arbeite seitdem in der Migrationsberatung, in der Familienberatung und auch in der Eheberatung. Momentan liegt mein Schwerpunkt auf Familien- und Eheberatung. 

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Islamische Zeitung: Seit März 2020 haben wir mit Pausen eine Art Lockdown, der einer ist und auch wieder nicht. Zu den Betroffenen gehören unter anderem Familien mit Kindern. Das hängt auch davon ob, ob die Elternteile im Homeoffice arbeiten oder nicht. Können Sie uns aus Ihren Erfahrungen beschreiben, wie sich das auf die Familien auswirkt?

Ayşe Gerner: Ja. Probleme haben in der Pandemie teils stark zugenommen. Erstaunt bin ich, dass sie gerade in Ehen so massiv geworden sind. Moment betreue ich zu ca. 90 Prozent Paare. Ich merke, dass sich die Situation, je länger dieser Lockdown dauert, auch innerhalb der Ehen sehr zugespitzt hat. Das hatte ich im muslimischen Umfeld ehrlicher gesagt in dem Maße nicht erwartet. Wir dürfen nicht außer Acht lassen, dass es auch in muslimischen Familien sehr viele Probleme gibt. Das betrifft auch Problemfelder wie Sucht und Alkohol, was wir auf den ersten Blick nicht ­bedenken würden. Die Leute, die unter Suchtproblemen leiden, haben es in der Krise noch viel schwerer.

Und sie haben kaum Anlaufstellen, wo sie Hilfe bekommen. Derzeit ist die psychosoziale Versorgung in Deutschland miserabel. Und das ist in der Pandemie noch viel schlimmer geworden. Kliniken sind überfüllt, die Psychotherapeuten sind komplett ausgebucht und haben bis zwei Jahre im Voraus keine Termine mehr. Also ich selber versuche, Leute aus muslimischen Kreisen zu vermitteln, die ganz starke Suchtprobleme haben. Und ich kriege sie kaum vermittelt. Es gibt nur noch Hardcore-Therapien, keine ambulanten und keine Psychotherapeuten, die sich um diese Menschen kümmern können. Das ist natürlich ein Riesen­problem für die Familien. Da hat sich die Situation enorm zugespitzt. 

Islamische Zeitung: Vor kurzem wurden in deutschen Zeitungen Kinderärzte beziehungsweise -psychiater zitiert, wonach mindestens ein Drittel aller Kinder und Jugendlichen negativ betroffen sein könnten. Ist das eine Zahl, die Sie nachvollziehen können?

Ayşe Gerner: Ich denke, die realen Zahlen sind höher und nur die Spitze des Eisbergs. Das heißt, in Hinblick auf diese starke Isolation entwickeln Kinder sehr viele Angststörungen. Diese Störungen und Ticks haben bei ihnen stark zugenommen. Und Eltern sind total überfordert und versuchen, Termine in Kliniken zu bekommen, und bemühen sich, das Problem in den Griff zu kriegen. Es ist klar, Kinder werden aus ihrem Alltag ­gerissen. Sie sind nicht mehr unter Freunden und entwickeln daraus resultierend Ängste.

Islamische Zeitung: Als Vater habe ich in den betroffenen Perioden – Gott sei Dank nicht so drastisch – auch einen Mangel an äußerer Stimulation, an sensomotorischen Reizen, an Bewegungen und anderem bei meinen Kindern gespürt. Gibt es Dinge, die Eltern hier ohne übergroßen Aufwand tun können, um diesen Mangel bei ihren Kleinsten zu kompensieren?

Ayşe Gerner: Ja. Die Problematik besteht darin, dass die Eltern gar nicht frei haben. Sie könnten das leicht tun, wenn die Phasen des Lockdowns so etwas wie verlängerte Schulferien wären. De facto ist es aber so, dass die Eltern massiv unter Druck stehen. Sie müssen ihr Arbeitspensum, wenn sie im Homeoffice sind, von zuhause aus erledigen, und sich zusätzlich um die Kinder kümmern. Je nachdem, wie viele Kinder eine Familie hat. Und da entsteht natürlich eine massive Drucksituation, da keine Ferienstimmung herrscht. Hätten die Kinder keine Aufgaben zu erledigen, hätten die Eltern frei, dann könnte man mit der Situation ganz anders umgehen.

Aber dieser Spagat führt dazu, dass man vor allem kleinere Kinder beaufsichtigen muss. Was macht man dann als ­Elternteil? Ich bin selber betroffen. Was machen wir, wenn wir arbeiten müssen? Man setzt sie vor einen Bildschirm und macht ihnen einen Film an. Und wohin führt dieser Bewegungsmangel? Der macht sich im Moment bemerkbar bei den Kindern. Wir reden hier nicht von einer Zeit von einem Monat oder so, ­sondern wir reden jetzt über eine Phase, die mit Unterbrechungen seit fast einem Jahr andauert. Es gibt unter Kindern ­einen starken Bewegungsmangel, da Sport kaum möglich ist. Die Kinder müssen zu Hause bleiben, weil die Eltern auch zu Hause sind. Sie haben eine ­Aufsichtspflicht, müssen aber gleichzeitig arbeiten.

Und dieser Spagat führt natürlich zu einem starken Mangel an Bewegung und an Kompensation. Zum Entgegenwirken empfehle ich Eltern Folgendes: Sie sollen ihr Arbeitspensum jetzt lockerer sehen, und dass sie diesen Druck nicht an sich heranlassen. Ja, sie müssen etwas erledigen. Aber Sie sollten eine klare Grenze für sich ziehen, was sie in dieser Pandemiezeit erledigen müssen. Und ich würde auf jeden Fall anraten, dass man die Kinder schnappt und ins Grüne geht. Und nicht nur die Kinder. Das rate ich auch kinderlosen Ehepaaren. Bloß nicht vor dem Fernseher einschlafen und sich sagen, man will sich nur häuslich aufhalten. Nach draußen zu gehen, ist die einzige Chance, nicht krank zu werden und eine Beziehung mit den Kindern und auch als Ehepaar vernünftig aufrecht erhalten zu können. Sich Ziele setzen. Heute fahre ich mit den Kindern Schlitten. Am nächsten Tag machen wir einen Wandertag. Wir packen uns richtig warm ein, ziehen die Wanderstiefel an und gehen raus. Das ist insbesondere für Depressionskranke sehr wichtig. Es ist bewiesen, dass die Serotoninausschüttung erst ab einer halben Stunde Bewegung einsetzt. Das heißt, man muss sich bewegen, bewegen, bewegen. Das ist das A und O, damit die Kinder eben nicht Bewegungsstörungen entwickeln. Auch sollten Kinder so wenig wie möglich davon mitbekommen, wie anormal die Lage für die Erwachsenen selbst ist. Und diese Normalität können wir ihnen nur mitgeben, wenn wir selbst so normal wie möglich „ticken“. Und nur so ist langfristig auch eine Ehe aufrechtzuerhalten. 

Islamische Zeitung: Jetzt arbeitet nur ein Teil der Berufstätigen derzeit von zuhause aus – da schwanken die ­Zahlen. Wie schätzen Sie denn die Lage der Familien ein, deren Eltern nicht im Homeoffice sind?

Ayşe Gerner: Nicht alle sind gleich ­betroffen von der Problematik. Es gibt auch Alleinerziehende. Es gibt auch viele, ­deren Aufgaben so systemrelevant sind, dass sie keinen einzigen Tag von zu Hause arbeiten können. Für die Kinder sieht es fast normaler aus, da ihnen die Notfallbetreuung ein gewisses Maß an normalem Rhythmus gibt. Das ist fast besser in dieser Pandemiezeit. Auch die Leute, die zuhause bleiben, sollten so weit wie möglich einen geregelten Tagesablauf etab­lieren. Die Kinder sollten um eine ­bestimmte Zeit ins Bett und zu einer ­festen Zeit aufstehen, damit sie ein Stück weit Normalität erleben. Das ist nicht nur für Kinder wichtig, sondern ebenso für Erwachsene. Ich denke, wir müssen auch über Menschen reden, die psychi­sche Störungen oder Depressionen haben. Für sie ist ein geregelter Rhythmus immens wichtig, um nicht in diese Spirale der depressiven Zustände zu geraten. Es braucht eine feste Tagestruktur: Frühstücken, Aufstehen, Anziehen. Gerade ­Kleidung kann ein wichtiges Gefühl von Alltag vermitteln. 

Islamische Zeitung: Was bedeutet die Pandemie für eine Beziehung, wenn man sich jetzt die ganze Zeit sieht?

Ayşe Gerner: Es ist eine sehr komplexe Situation. Vor der Pandemie hatte man lauter Paare, die zu einem kommen und sagen: Wir haben kaum Zeit füreinander. Jetzt sieht die Lage ganz anders aus. Jetzt kommen dieselben Paare und meinen, sie könnten nicht mehr, weil sie sich viel zu viel sehen.

Das Problem ist: Wir sehnen uns eigentlich nach mehr Zeit mit dem Partner. Diese Situation von Berufstätigkeit mit Kindern ist eine ernstzunehmende Herausforderung. Wir haben dieses System der Nichtbegegnung mit unserem Partner so stark etabliert in ­unserem Leben, dass wir mit der Situation, unsere Partner ­ständig zu sehen, auch nicht umgehen können. Wir könnten relaxen und uns ein bisschen näherkommen.

Nein. Es ist nicht so, weil wir mit der Situation schlichtweg überfordert sind und nicht umgehen können. Auf einmal merken wir Facetten unseres Partners, die wir nie wahrgenommen haben, weil wir uns so wenig gesehen haben. Und manchmal ist das tatsächlich ein Segen. Für eine längerfristige Beziehung kann es ein Segen sein, wenn man sich weniger sieht. Dann freut man sich aufeinander und versucht, eine qualitativ hochwertige Zeit zu verbringen. Und das geht natürlich in der Pandemie stark verloren. 

Darüber hinaus befinden wir uns in einer massiven Stressbelastung. Es sind eben keine Ferien. Man muss funktionieren. Man hat wenig Ausweichmöglichkeiten. Frauen können auch nicht flüchten, wie sie früher mal Zeit mit Freundinnen verbracht haben und rausgegangen sind. Jetzt ist man fixiert aufeinander und muss halt zusehen, dass man diese Zeit irgendwie so nutzt, ohne sich dabei komplett auf die Nerven zu gehen. Und da kann ich halt nur sagen: wieder das Wort Struktur. Was mache ich mit meinem Partner, meiner Partnerin? Wie verbringe ich den heutigen Tag? Verbringe ich den Monat, ohne dabei ein Tagesziel abzustecken? Wie sieht der Tag heute aus? Heute dieses Ziel, morgen jenes Ziel, dann das andere, sodass man auch mit dem Partner was anderes macht, anstatt sich nur anzugucken. Man sollte sich darauf freuen, wenn die Kinder ins Bett gehen, dass man sich und dem Partner einen Tee machen und den Abend schön gestalten kann. Eine schöne Atmosphäre schaffen, schönes Licht, schönes Ambiente und sich bewusst für einen schönen Abend entscheiden. Das tun, worauf beide Lust haben, aber sich positiv darauf einzustellen. Gespräche können dann auch in die Tiefe gehen. Kann ich meine Gefühle äußern? Was können wir in unserer Ehe verbessern? Eine tiefe ­Konversation mit dem Partner zu erleben, macht die Paare sehr glücklich. 

Islamische Zeitung: Wie sehr sollten Menschen, die sowieso schon in Heimarbeit viel Zeit vor dem Bildschirm ­verbringen, ihre restliche Zeit vor einem Monitor oder Gerät wie dem Handy einschränken beziehungsweise kontrollieren?

Ayşe Gerner: Ich würde noch nicht einmal von reduzieren sprechen. Das, was wir im normalen Tagesablauf von Corona beibehalten, reicht schon völlig aus. Wenn wir vorher 2-3 Stunden Bildschirmzeit hatten und jetzt sechs Stunden vor ihm verbringen, stellt sich die Frage, ob eine Verringerung nicht nötig wird. Eine drastische Verringerung ist unter den jetzigen Bedingungen unrealistisch, weil viele Menschen auch vorher schon viel Zeit an Bildschirmen, Tablets oder Smartphones verbracht haben. Wenn wir das einigermaßen im Gleichgewicht ­halten können, dass es nicht so massiv zunimmt, haben wir schon eine Menge gewonnen.

Und was man zurzeit mit Kindern sagen kann: Gesellschaftsspiele und alles auspacken, was da ist. Es muss nicht der Bildschirm sein. Man kann auch miteinander spielen. Man kann ein Quiz mit ihnen machen. Oder auch Dinge, die ihren Intellekt fördern. Und ja, das kostet Zeit. Das ist mühsam. Das ist mir klar. Aber nur so kann hochwertige Zeit mit Kindern entstehen. Man kann auch ein gemeinsames Kochen etablieren oder ­zusammen backen. Ich denke bei vielen läuft es realistisch darauf hinaus, auch weil sie einfach kaputt sind von dem ­ganzen Tagesablauf.

Islamische Zeitung: Vieles wird daheim unterscheidungslos. Wie wichtig ist es dabei, Trennungen zu machen und beispielsweise die Bildschirme aus dem Schlafzimmer zu verbannen?

Ayşe Gerner: Also, es ist wirklich sehr zu empfehlen. Wenn wir wieder zur Heimarbeit zurückkehren wollen, dann ist es ganz wichtig, dass diesem ein erkennbarer, eingrenzbarer Bereich zugewiesen wird. Es mag nicht in jedem Haushalt mit Kindern den Luxus geben, dass man einen eigenen Schreibtisch hat. Wichtig ist, klar zu machen: Hier arbeite ich und erst wenn ich diesen Laptop zuklappe, dann ist dieser Bereich aufgehoben. Man kann eine Trennung zwischen Arbeit und dem anderen Leben herstellen. Man kann auch experimentieren und beispielsweise eine spanische Wand aufstellen oder Vorhänge spannen. Man kann versuchen, einen Arbeitsbereich für sich zu definieren, auch wenn es keine Tür gibt, die sich hinter einem schließen lässt. Das gibt einem eine klare Struktur. 

Wenn ich diesen Bereich verlasse, kann ich mich den anderen im Haushalt widmen. Und dazu gehört, Tablet und Handy möglichst fern vom Bett zu halten. Wenn ich einen Bildschirm mit mir herumschleppe, beeinflusst das auch meinen Schlaf. Und gerade in der Pandemie leiden viele Menschen an Schlafstörungen. Wir können dem entgegenwirken, wenn wir die Bildschirme nach Möglichkeit aus dem Schlafzimmer fernhalten. Es braucht gewissermaßen einen Sicherheitsabstand zwischen der Bildschirmzeit und dem Einschlafen. Bei ganz vielen ist der Schlaf-Wach-Rhythmus gestört. Man gibt sich Zeit bis zwei Uhr morgens, weil man morgens nicht aus dem Haus muss. Umso schlechter klappt es dann mit dem Aufstehen und Arbeiten. So entwickelt sich das Ganze zu einer Spirale und dem muss man mit Disziplin entgegenwirken. Da kann man sich auch partnerschaftlich mit dem Ehepartner versuchen, sich ­gegenseitig Hilfestellung zu geben. 

Islamische Zeitung: Wir bedanken uns für das Interview und für die praktischen Tipps. Und wünschen allen, dass wir das beherzigen und umsetzen können, solange wir noch mehr oder weniger im Lockdown sind.