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Wir und die Gesellschaft – vom Zusammenspiel der Kulturen und Religionen

Ausgabe 349

gesellschaft
Foto: Омурали Тойчиев, Adobe Stock

Ohne einen Begriff von „deutschen Muslimen“, der sich nicht biologisch ableitet, wird es auf Dauer schwer sein, ein anerkannter Teil dieser Gesellschaft zu werden.

(iz). Es scheint manchmal, dass der Islam vielen unserer europäischen MitbürgerInnen unheimlich ist. Über eine Milliarde Muslime, in all ihrer Widersprüchlichkeit, die Beobachtung diverser Auslegungen, kulturellen Prägungen, Praktiken, bis hin – leider – zu ideologischen Ausformungen stehen dem Ideal der vollständigen Kontrolle und Integration entgegen.

Auch Muslime hadern mit einer Balance zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft

Die Aufgabe erinnert so weit an das vergebliche Bemühen, die Naturgewalten zu beherrschen. Aber auch Muslimen fällt es heute schwer, eine neue Balance zwischen ihrem persönlichen Schicksal, der Einbettung in religiöse Gemeinden und ihrer gesellschaftlichen Rolle umzusetzen.

Ein Beispiel ist das vergangene, gemeinschaftlich verrichtete Id-Gebet, das tausende Gläubige auf öffentlichen Plätzen und Straßen zusammengeführt hat, aber von Teilen der Mehrheitsgesellschaft als „Machtdemonstration“ missdeutet und oft mit Argwohn begleitet wurde.

Die Frage stellt sich, in welcher Form wir uns an der Suche nach einem „Wir“-Gefühl in Deutschland beteiligen. Nicht zuletzt sind es Begriffe, wie kollektive Identität, Identitätspolitik oder, unter diesem Aspekt, „Ethnizität“ an die sich Muslime gewöhnt haben, ohne sich daran zu erinnern, wie sie vor kurzer Zeit erst im Wortschatz unserer politischen Rede aufgetaucht sind.

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Die Gefahr, Anderen im Umgang mit ihnen, mit gleicher Ideologie zu begegnen, ist offensichtlich. Zudem verhindern die bestehenden ethnischen Trennlinien das inner-islamische Zusammengehörigkeitsgefühl. Ohne einen Begriff von „deutschen Muslimen“, der sich nicht biologisch ableitet, wird es auf Dauer schwer sein, ein anerkannter Teil dieser Gesellschaft zu werden.

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Foto: imago stock

Ausgangspunkt ist die Nähe zu den Ursprüngen

Ausgangspunkt für eine Neujustierung der Rolle von Muslimen in modernen Staaten ist neben der religiösen Praxis an sich, ihre Nähe zu den Ursprüngen. Die erste Gemeinschaft in Medina gilt als Vorbild für ein vom Islam geprägtes Leben. 

Jeder Bund zwischen Menschen entwickelt ein Eigeninteresse, welches sich an den alltäglichen Zielsetzungen der Lebensführung der Mitglieder bemisst, die entsprechend miteinander verflochten sind.

Dabei ist es klar, dass es in unserer Zeit längst faktische Grenzen der Vergemeinschaftung gibt. In modernen Staaten bilden soziale Akteure nur begrenzt autarke und selbstbestimmte „Gemeinschaften“. Es ist Muslimen praktisch nicht möglich, zu jedem Zeitpunkt in allen ihren Beziehungen gemeinsame Ziele zu verfolgen oder jegliche Handlungen als Gruppe durchzuführen.

Ohne eine Partizipation in den Institutionen des Staates ist die Community nicht lebensfähig; und verzichtet sie auf den Konsens mit den Grundwerten der Verfassung, bleibt sie langfristig ein Fremdkörper.

Foto: r.classen, Shutterstock

Der Unterschied stammt aus dem 19. Jahrhundert

Das Verständnis über den grundsätzlichen Unterschied zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft stammt von Ferdinand Tönnies. Der Soziologe entwickelte im 19. Jahrhundert den Ansatz, dass „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ den Gegenstand der „Soziologie“ ausmachen.

In der Theorie schließen sich die beiden Begriffe aus; in der empirischen Welt, dem Feld der angewandten Wissenschaft, erscheinen sie hingegen nach Tönnies immer gemischt. Genau hier liegt der Ansatz, das Zusammenspiel von Gemeinschaft und Gesellschaft aus muslimischer Sicht zu aktualisieren.

Die Herausforderungen für eine derartige Symbiose sind nicht neu. Das Spannungsverhältnis zwischen alternativen Entwürfen und der Mehrheit hat in Europa eine lange Geschichte.

In Ascona, im schweizerischen Tessin, entdeckt man beim Aufstieg auf den Monte Verità Spuren dieser Historie. Es ist die Zeit der Aussteiger. Hier – wie in vielen anderen Orten in Europa – hat sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine bunte Schar von Sinnsuchenden, Revolutionären, Künstlern und Vegetariern zusammen gefunden. Das Ziel der Suchenden war es, in einer von Krieg und Technik beherrschten Welt, das Leben zu reformieren und wieder näher an die Natur und die Sphäre göttlicher Weisheit zu rücken.

„Wahrheit und Freiheit in Denken und Handeln sollten künftig als teuerster Leitstern ihr Leben begleiten“, beginnt Ida Hofman ihren Bericht über die Gründung der Kolonie. Die Atmosphäre mit dem Blick auf den Lago Maggiore ist einmalig: Zu besichtigen ist der Park mit den Lichthütten, die traditionelle Teestube, die Freilichtbäder und ein von den „Sonnenleuten“ angelegter Tennisplatz.

Der Versuch, eine nachhaltige Gemeinschaft auf Grundlage diverser Entwürfe, die zwischen fernöstlicher Religion, Naturliebe, Kunst und Philosophie angesiedelt waren, zu gründen, scheiterte.

1925 übernimmt der deutsche Bankier und Kunstsammler, Eduard von Heydt, die Anlage. Er lässt ein Kongresszentrum im Bauhaus-Stil bauen. Immer mehr Touristen kommen auf den „Berg der Wahrheit“ und träumen über neue Ideen der Entfaltung. Bis heute diskutieren Philosophen und Künstler die Möglichkeit, unsere technologisch geprägten Gesellschaften, mit der Sehnsucht nach sozialer Nähe zu versöhnen.

Hermann Hesse: Einen Kern in uns bewahren

Ein berühmter Gast auf dem Berg war der deutsche Schriftsteller Hermann Hesse. Mit der Bewegung sympathisiert er, ohne aber den institutionellen Charakter der Lebensreformer je ernst zu nehmen. Später wird der Nobelpreisträger im nahegelegenen Montagnola sein eigentliches Domizil und ersehntes Exil finden.

Im Jahr 1948 hatte Hesse erklärt, was das Schicksal des Menschen aus seiner Sicht entscheiden wird: „Wir wollen womöglich einen Kern in uns bewahren, ein eigenes Schwergewicht, das uns daran hindert, mit in die sinnlose zentrifugale Schwingung gerissen zu werden, die immer unheimlicher wird und fern aller Politik sich in Tempo, Hetze und Unrast äußert.“

Wer sich für das Verhältnis von Individualität, Gemeinschaft und Gesellschaft interessiert, findet in der Gedankenwelt des Außenseiters einigen Stoff. In seinem letzten Werk, dem Glasperlenspiel, entwirft der Schriftsteller, unter dem Eindruck des 2. Weltkrieges, eine Vision einer pädagogischen Provinz mit dem fiktiven Namen Kastalien.

Das Buch dreht sich um ein zentrales Leitmotiv: „Das Glasperlenspiel ist ein Spiel mit sämtlichen Inhalten und Werten unserer Kultur, es spielt mit ihnen, wie etwa in den Blütezeiten der Künste ein Maler mit seiner Palette gespielt haben mag.“ 

Die Leser werden an einen respektvollen Umgang mit den geistigen Phänomenen erinnert, sei es das Christentum oder Judentum, bis hin zu fernöstlichen Weisheitslehren, die seit Jahrhunderten in der Gesellschaft wirken. Wichtige Teile dieser Bildung, mit ihrem interdisziplinären Ansatz, sind neben den Geisteswissenschaften ebenso die Mathematik und die Musik.

Die Lebensgeschichte von Josef Knecht, der zum Meister des Spiels wird, zeigt, dass das harmonische Zusammenspiel von Kulturen, Wissenschaften und Religionen keine Utopie sein muss.

Eine der Maximen des Protagonisten lautet dabei wie folgt: „Wir sollen nicht aus der Vita Aktiva in die Vita Kontemplativa fliehen, noch umgekehrt, sondern zwischen beiden wechselnd unterwegs sein, in beiden zu Hause sein, an beiden teilhaben.“ 

Knecht unterwirft sich den Regeln und Hierarchien der fiktiven Ordensprovinz Kastanien. Aber seine Einordnung in eine Gemeinschaft sei – so Hesse – nicht das Zeichen eines Mangels an Persönlichkeit, sondern eines Plus an Individualität.

Elf Jahre lang schrieb Hesse an seinem letzten großen Werk. Über die Reaktionen war er eher enttäuscht, insbesondere bemängelte er, dass das „Glasperlenspiel“ langsam zum Inbegriff für ein weltfremdes Leben im Elfenbeinturm wurde. Der Nobelpreisträger sah darin – wie sein Biograf Alois Prinz berichtet – ein grobes Missverständnis.

Der Schriftsteller wusste durchaus, dass der Glasperlenspieler der Weltgeschichte angehört und von politischen Änderungen beeinträchtigt wird. Neben dem Aufruf zu einem gesellschaftlichen und sozialen Engagement ist das Ideal einer ganzheitlichen, dem Menschen dienenden Wissenschaft und das Bewusstsein, dass das freie Spiel zwischen den geistigen Kräften von Ideologen aller Couleur gefährdet wird, nach wie vor aktuell.

Die Botschaft ist klar: Der spielerische Umgang mit den Kulturen und Ideologie schließen sich aus. Für Muslime liegt hier die künftige Herausforderung, das heißt, die Aufgabe an der notwendigen Neuauflage dieses Spiels aktiv und verstehend teilzunehmen.

Foto: Maria Lupan, Unsplash

Bedeutung von Architektur für das soziale Leben

Neben den geistigen Voraussetzungen für einen fruchtbaren Austausch zwischen alternativen Gemeinschaften und der Gesellschaft wurde Anfang des 20. Jahrhunderts die Bedeutung der Architektur für das soziale Leben entdeckt. Die Idee, Kunst und Technik, Handwerk und Wohnen in einer solidarischen Gesellschaft zu verknüpfen, gehört zu den Gründungsgedanken des Weimarer Bauhauses.

Die Visionäre entwarfen zunächst Modelle für die Modernisierung des klassischen Einfamilienhauses, planten aber bereits größere Anlagen, mit Gemeinschaftsgebäuden und sozialen Einrichtungen. Der Bedarf an Wohnraum, im Zusammenspiel mit innovativen Bautechniken führten zu einer Revolution des Wohnungsbaus.

In „Sphären III“ erzählt der Philosoph Peter Sloterdijk die Entwicklung einer modernen Philosophie der Architektur. Am Beispiel des Architekten Le Corbusier und seiner Idee der „Wohnmaschine“ wird die Auflösung der traditionellen Allianz von Eigenheim und Sesshaftigkeit deutlich. In den zwanziger Jahren schreibt er: „Man muss das Haus wie eine Maschine oder ein Werkzeug zum Wohnen betrachten … ein Haus wie ein Auto konzipiert und eingerichtet wie ein Auto oder eine Schiffskabine.“

Die neuen großen Wohnblöcke, die bald auf der ganzen Welt entstehen, gleichen sich und sind nur lose an ihr historisches Umfeld angeknüpft. 

Das Ergebnis ist aus menschlicher Sicht eher ernüchternd: Die Siedlungen schaffen ein soziales Niemandsland, von Individuen bewohnt, die sich kaum gegenseitig kennen. Die Suche nach Alternativen dauert bis heute an. Schon in der Bauhaus-Zeit wird parallel mit kleinen mobilen Häusern, Wohnwagen, Containern und Zelthäusern experimentiert, die sich an alte Wohnformen der Nomadenvölker anlehnen.

Sloterdijk formuliert diese Grundidee wie folgt: „Das mobile Haus definiert sich als wandernde architektonische Monade, die ihrem Einwohner darin kongenial geworden ist, dass das Haus wie der Besitzer sich auf Freiheit der Kontextwahl berufen.“

Und heute? Den eigenen sozialen Kontext frei zu bestimmen, hier liegt das Problem, wird immer mehr zur ökonomischen Frage. Fakt ist, ein Eigenheim zu bauen oder nur eine Wohnung zu halten, verschlingen beachtliche Ressourcen und die Finanzierung wird schnell zum einzigen Lebensinhalt. In den Großstädten werden etwa 29 Prozent des Einkommens für Mieten aufgebracht.

Hinzukommt der Mangel an Wohnraum; ein Phänomen, das längst ein Politikum ist. Die Lage am Wohnungsmarkt ist angespannt, viele Berufstätige ziehen um – durchaus nicht freiwillig – und sind auf der verzweifelten Suche nach möglichst billigen Wohnungen.

Die Vision, der sozialen Gemeinschaft einen architektonischen Ausdruck zu geben, ist heute kaum umzusetzen; gleichzeitig werden Depressionen und das Gefühl der Einsamkeit zu einer gesellschaftlichen Realität. Hierher gehört das Problem, dass Moschee-Anlagen, die das Stadtviertel beleben sollen, aber keinen Platz für soziale Aktivitäten und Raum für das Einladen der Nachbarschaft bieten, die Ideologisierung und Isolierung der Gläubigen fördert.

Eine Neuauflage des Glasperlenspiels braucht nicht nur eine geistige Idee, sondern den entsprechenden öffentlichen Raum. Die Lage in unseren Großstädten ist ernst. Pessimisten befürchten eine Verödung der Innenstädte, den Streit zwischen Bevölkerungsgruppen und eine wachsende Dynamik der sozialen Unterschiede.

In seinem neuen Buch „Der Geist der Hoffnung“ schreibt der Philosoph Byung-Chul Han: „Im Gegensatz zum positiven Denken wendet sich die Hoffnung von den Negativitäten des Lebens nicht ab. (…) Außerdem vereinzelt sie die Menschen nicht, sondern verbindet und versöhnt sie. Das Subjekt der Hoffnung ist ein Wir.“

Es wird die entscheidende Frage sein, ob es uns gelingt, mit der Mehrheitsgesellschaft in einen konstruktiven Austausch einzutreten und ob die politischen Verhältnisse der muslimischen Gemeinschaft einen würdevollen Platz in der Mitte der Gesellschaft erlauben.