Zur deutschen Debatte um die Hagia Sophia

Ausgabe 302

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(iz). Was macht ein Schüler, dessen Philosophieunterricht unvorhergesehen ausfällt? Richtig, er setzt sich aus Langeweile in den Religionsunterricht seiner Mitschülerinnen und Mitschüler und schreibt dort die Klausur mit. So zumindest mein damals 17-jähriges Ich und das Engagement sollte nicht umsonst sein.

In der Klausur ging es um die Frage, ob der Moscheebau in Köln-Ehrenfeld legitim sei. Zum einen seien die Minarette mit 55 Metern zu hoch, zum anderen sei ja auch der Kölner Dom mit seinen 157 Metern bestens akzeptiert. Ich beklagte alsdann die Dop­pelmoral, die Ungleichheit der Religionen, die einseitige Kritik an muslimischen ­Bauplänen.

Die Religionslehrerin hatte die Klausur, ohne mit Lob zu sparen, meinem Philosophielehrer zugeschickt, doch dieser reagierte besonnener: Die Argumente seien ja richtig, aber ich sei der Debatte auf den Leim gegangen. Geht es noch um die Religion oder bloß um die Frage, wer den Größeren hat und haben darf?

Diese kluge Kritik ist mir nicht mehr aus dem Gedächtnis gegangen und es wird wohl langsam Zeit, sie wieder ­hervorzubringen.

In den letzten Wochen lamentiert das gesamte Spektrum der journalistischen Landschaft über Erdogans Pläne, die Hagia Sophia in eine Moschee umzudeuten. Ich würde gerne schreiben: Zurecht. Doch die Frage, ob die Kritik gerechtfertigt ist, ist deshalb nicht so leicht zu ­entscheiden, weil sich unterschiedliche ­Kritiken – gerechtfertigte und rassistische – vermengen.

Ein Beispiel: Am 13. Juli wird in der Meinungsrubrik der Süddeutschen Zeitung ein Artikel mit der Schlagzeile „567 Jahre zurück“ veröffentlicht. Gleich zu Beginn ist von einer „Kampfansage“ die Rede, Erdogan sage „dem Westen den Kampf an.“

Hieraus lassen sich gleich zwei Motive entnehmen. Aus der Überschrift lässt sich die Rückwärtsgewandtheit der türkischen Regierung ableiten, aus den einleitenden Sätzen ihre Gewaltbereitschaft.

Rückwärtsgewandt und gewalttätig seien also die Umdeutungsversuche Erdogans. Etwas weiter im Artikel spekuliert der Autor, ­Erdogan wolle „als neuer Führer der muslimischen Welt“ an das 15. Jahrhundert anknüpfen und vergleicht diese angeblichen Pläne mit denen der „Dschihadisten von al-Qaida und sogenanntem Islamischem Staat“.

Wer diese Zeilen liest, könnte meinen, ein Religionskrieg unter Recep Tayyip Erdogans Führung stünde bevor. Doch wer genau hinschaut, wird den latenten Rassismus nicht übersehen können.

Gewiss, Erdogan instrumentalisiert die Religion, um konservative Wählerstimmen zu mobilisieren; er übertönt mit einem symbolischen Akt die reale Wirtschafts- und Coronakrise; seine offensive Außenpolitik treibt einen nachwirkenden Keil in die Kurdenfrage; der Journalismus und die Justiz, zwei Grundpfeiler stabiler Demokratien, werden zusehends ausgehöhlt und diese Liste könnte problemlos so weiter geführt werden.

Doch diese Kritikpunkte tauchen in dem ­Artikel mit dem süffisant modernistischen Titel „567 Jahre zurück“ nur als Marginalien auf. Vornehmlich geht es um das von allen Muslimen und besonders von allen Türkeistämmigen in Deutschland bekannte Narrativ des (gewaltbereiten) Hinterwäldlers. Denn man muss sich fragen, worin die Kritik des Autors besteht, wenn es heißt: „Mit der Umwandlung der Hagia Sophia vom Museum in eine Moschee hat der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan eine Grenze überschritten. Er zwingt dem Land – und der Welt einen Richtungswandel auf“.

Durch die Umdeutung der Hagia Sophia in eine Moschee wird der Welt ein Richtungswandel aufgezwungen? Das klingt nicht nur nach Islamisierung des Abendlandes, das ist auch so gemeint. Die Logik des Arguments ist, dass dieses Bauwerk in ferner Vergangenheit – vor 567 Jahren bis 1935 – eine Moschee war, sie heute wieder in eine solche zu verwandeln hieße, diese Zeit heraufbeschwören zu wollen. Doch das wäre nicht sonderlich bedenkenswert, wenn es nicht eine islamische Vergangenheit, das heißt, eine gewaltbereite und rückständige Vergangenheit wäre, die da zurückzukehren droht.

Ein kluger Journalismus entlarvt die konservative und politisierende Religionsrhetorik von Erdogan, ohne auf sie reinzufallen. Erdogan gibt sich als Befreier der zwangssäkularisierten Muslime, ihm jedoch vorzuwerfen, er mobi­lisiere nun Hinterwäldler ­bestätigt bloß seinen Vorwurf der Zwangs­säkularisierung.

Statt also der von Erdogan initiierten Debatte auf den Leim zu gehen – wie es mein Philosophielehrer sagen würde – sollte das Gerede davon, wer den Größten und Besten hat, selbstsicher abgewinkt werden. Niemandem ist geholfen, wenn obsessive Jour­nalisten sogleich die „Kampfansage“ wittern und gleichsam mit heruntergelassener Hose zum Gegenangriff ausholen.