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Hanau heute

Ausgabe 302

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Die Stadt Hanau am Main – Heimatort der Gebrüder Grimm – 30 Kilometer östlich von Frankfurt am Main gelegen; sie schrieb auf einem dunklen Hintergrund mit einer leuchtenden Kerze auf ihrer Homepage: „19.02.2020. Die Opfer ­waren keine Fremden!“ Von Dr. Homayun Alam

(iz). Dieser Satz allein ist zunächst beruhigend, aber auch zu hinterfragen. Im Anschluss an diesen Satz stellt sich die grundlegende Frage, was überhaupt mit dem Begriff des „Wir“ gemeint ist? Die Opfer des rechtsterroristischen Anschlags wurden kaltblütig als die ,,Anderen“ durch den Täter Tobias R. in Hanau – seinem alleinigen Hanau – ermordet. Die visionäre, bisweilen idealistische Vorstellung des Täters von Volk und Heimat konnte nur ausgrenzen. Da er nicht an seiner idealen Gesellschaft selbst inklusiv partizipierte, suchte er sich in Frankfurt eine Nische: einen Schützenverein.

Hanau heute
In der geographischen Nachbarschaft Hanaus kann man ein großes Angebot an Freizeitaktivitäten, beruflichen Orientierungen und die sichtbare ethnische, nationale und sprachliche Supervielfalt vorfinden. Tragisch wird es, wenn jemand wie der Täter sich der Realität verschließt, ausgelöst durch eine mittlerweile festgestellte psychische Erkrankung. So war der Täter ein kaltblütiger Mörder, aber sein zwar medizinisch diagnostizierter Narzissmus darf über seine systematische Tat keineswegs entpolitisieren.

Im Februar 2020 saßen Hanauer, unter anderem aus der Türkei, Bosnien, Afghanistan und Rumänien stammend, in zum Beispiel Cafés, Bars und Restaurants zusammen, die in dieser Stadt am Main ihre Heimat hatten. Mit Wanderungsbewegungen bringen Menschen gewöhnlich ihre alltägliche Teilkultur mit, die sich meistens in Versatzstücken nur umsetzen lässt.

Im Falle der jungen Opfer aus Hanau saßen diese in einem Shisha-Café. In diesem Milieu wurden sie von dem Täter vermutlich schon zuvor beobachtet, somit ihr Sozialverhalten in dessen Pamphlet von 24 Seiten als minderwertig vorverurteilt. Durch sein politisches Tatmotiv bleibt seine Handlung dennoch als rechtsterroristisch einzuordnen. Wichtig ist die traurige Tatsache – an dieser Stelle erwähnenswert – dass der Täter seinen späteren unschuldigen Opfern wahrscheinlich niemals auffiel, und umgekehrt genauso.

Ortswechsel heute
Der AfD Frankfurt am Main sind Milieus mit Shisha-Angeboten seit ihrem Einzug ins Stadtparlament ein populistisches Dorn im Auge. So wollte die AfD alle Shisha-Cafés im letzten Jahr (2019) verbieten. Ein erneuter AfD-Versuch wurde am Tag nach den Hanauer Anschlägen unternommen, um die scheinbare Gunst der Stunde für sich auszunutzen, das heißt, einen entsprechenden Antrag im Frankfurter Stadtparlament einzubringen. Frankfurt ist die internationalste Stadt der Republik: Würde in der Stadt Anne Franks, Goethes, Schopenhauers und Adornos ein solcher Antrag gegen Orte, von Postmigranten und Migranten gelingen, hätte es wahrscheinlich in allen anderen Städten Aussicht auf Erfolg. Solche Szenarien sind tatsächliche Ausschlussmechanismen von monokulturell sozialisiert Handelnden, keine Erfindungen von Dritter.

Der Alltag im Rhein-Main-Gebiet, v.a. in Frankfurt, Offenbach, Darmstadt, Wiesbaden, Mainz und Hanau ist stark durch Postmigranten und Postmigration geprägt: Das neue „Wir“ ist sicht- , fühl- und hörbar, was man allein durch einen Blick, dem Aussehen der Menschen, ­Geschäfte, Berufe und Sprachen in diesen Orten feststellen kann. Egal in welche dieser erwähnten Städte man sich begibt, so wird man von morgens bis abends auf zum Beispiel das kulinarische Angebot – aber nicht nur das – von ­Marokkanern, Kurden, Türken, Pakistanern, Iranern, Arabern, Südeuropäern, Ostafrikanern und Osteuropäern ­stoßen.

Vom Rhein bis an den Main und ­dazwischen weisen Postmigranten im gesamtdeutschen Kontext einen hohen ­Bildungsgrad auf. In allen akademischen Berufszweigen findet man an den Universitäten, Hochschulen und Instituten Menschen mit internationaler Biografie, hiesiger Sozialisation, mehrsprachige Kompetenz und natürlich eine mitt­lerweile glokalisierte (global und lokal) Verbundenheit.

Demnach hat sich das altbekannte Szenario eines als ausländisch wahrgenommenen Arbeitnehmers, trotz hiesiger Sozialisation, in den letzten drei Dekaden geändert: Heute sind viele Postmigranten Arbeitgeber, verfügen über Entscheidungsbefugnis und -kompetenz. Ohne diese Menschen wäre gerade das urbane alltägliche Leben ärmer, höchstwahrscheinlich verschlossener, sogar manchmal auch trostloser.

Deutschland heute
Der Anteil von Menschen mit Migrationsgeschichte an der Gesamtbevölkerung im Bundesgebiet beträgt in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts mittlerweile 25 Prozent, was mit knapp 22 Mio. Migrationsbevölkerung gleichzusetzen ist. Menschen, die entweder selbst oder deren Eltern aus anderen Ländern stammen: Ihnen, ihre Daseinsberechtigung abzusprechen, führt letztendlich zur Spaltung der Gesellschaft. Diese Brüche innerhalb einer Gesellschaft können schwerwiegende Folgen für Menschen, wie insbesondere den Täter aus Hanau, mit sich bringen. Denn in all seinen Schwächen kanalisiert sich die vorgeschaltete Kollektivierung der eigenen ­Lebenswelt, die jedoch insgeheim subjektiv als zu gering geschätzt empfunden wird, hin zu einer Einsamkeit in der ­On- und Offlinewelt. Erst in der virtuellen Spielwiese wird die einstige Geringschätzung der wirklich stattfindenden Lebenswelt in ein heroisches Selbstbild, da auch kollektiv verstandene Identität mit und für Gleichgesinnte, verstanden.

Wie kann ein gemeinsames „Wir“ entstehen? Ist der Täter überhaupt berechtigt gewesen, für das Deutschland jetzt und die heutige deutsche Bevölkerung zu sprechen? Hat er sich so einsam gefühlt, dass er Allmachtsfantasien gegen einen nicht existierenden Feind entwickelte?

In Deutschland gibt es gewiss viele städtische und regionale Unterschiede, die eine Bereicherung für den Ruf des Landes sind. Im Rhein-Main-Gebiet lebt man tatsächlich im Miteinander, nicht jedoch im Nebeneinander. Wer sich allein auf die Straßen, Gassen, Fußgängerzonen am Main und auch am Rhein und in die urbanen Vierteln begibt, bemerkt die transkulturelle Vielfalt. Aus der erwähnten Region stammen viele bedeutende gestrige migrantische und heutige postmigrantische Künstler, Schriftsteller, Sänger, Wissenschaftler, Unternehmer und Politiker. Daher zählt das Rhein-Main-Gebiet historisch an erster Stelle zur deutschen Drehscheibe der Migration.

Wer hier fremd ist, muss beantwortet werden. Der Begriff des Fremden wird in der Sache der hiesigen Migration grundsätzlich vielfach verwendet, somit ist dieser selbst stets als solches zweckentfremdet. Es ist sinnlos mit obsoleter Rhetorik diejenigen, wie bereits erwähnt, zwischen Fremden (Subjekte), fremd (Habitat) und Fremdheit (Lebenswelt) als die Anderen (Ausländer) zu entwerten. Wie im Falle Hanaus, ist es offensichtlich, dass der Täter seine Mitmenschen als Objekte eigener sozialer und privater Unzulänglichkeiten an einen imaginären Rand zu drängen versuchte. Ersichtlich ist auch hier seine berechnende Subjektsucht als Mörder.

Probleme heute
Genauso spielt der Prozess der Gentrifizierung, sprich soziale Verdrängung, in bundesdeutschen Städten bei der Bewohnung des öffentlichen Raumes eine erhebliche Rolle. Durch Verteuerung von Immobilien mit dem Zweck der Verdrängung, von z.B. Familien und Paaren, sollen nicht nur junge Menschen ein schon existierendes Viertel als ein für sie scheinbar verwandeltes Milieu neu besetzen. Dabei wird der vermeintliche Anstrich von dynamischem Jungsein, was oftmals eine Nivellierung bedeutet, mit einer erzwungenen bis aufgesetzten trendbewussten Alltagskultur suggeriert. Ob aus vielen Motiven benachteiligte Migranten und Postmigranten, ebenso finanziell abgehängte Deutsche, sie alle streben nach einem angenehmen beziehungsweise bezahlbaren Wohnraum. Immobilienhaie und sonstige Investoren haben diese aus losen Stücken entstandene Alltagskultur zwischen deutschen Einheimischen, postpubertären Erwachsenen und natürlich mittlerweile nativen Postmigranten ­weitestgehend in einem einseitigen, aber gelungenen Versuch, gegeneinander ­ausgespielt: ökonomisiert.

Das „Wir“ ist die Summe aller Menschen, unabhängig von Alter, Hautfarbe, Nationalität, Religion, Geschlecht und anderen individuellen Merkmalen. In jeder Beziehung braucht der Mensch einen anderen Menschen zum Zuhören, Verstehen und Reden. Darüber hinaus konnte sich der einzelne Mensch in seiner eigenen Menschheitsgeschichte durch bestimmte Gründe von seiner sozialen Flora und Fauna entbinden. Wenn er es tat, war sein Leben öde, bisweilen einsam, und letzten Endes betäubter als zuvor.

Jetzt heute
Deutschland ist die Heimat derer, welche es sich zur Heimat machen – und bereits gemacht haben. Im Rhein-Main-Gebiet sind dank der fortwährenden Migrationsbewegungen Teile der Welt durch die Messe, die Börse, den Handel, dem Handwerk, dem Denken und auch die Flucht seit Jahrhunderten vertreten. Bezogen auf ein Shisha-Café als täglich frequentierter Ausgeh-Ort, in der Jugendliche und ebenso Erwachsene die derzeitige Massenkultur des Genres zum Beispiel Deutschrap konsumieren, sind diese Orte unter anderem als die neuzeitliche „Verortung der Kultur“ zu bewerten. Dabei deuten und zeugen doch gerade z.B. die Sprachen, Kleidungsstile und Hautfarbe dieser Menschen, wofür Hanau im Rhein-Main-Gebiet und in Deutschland im Jahre 2020 stehen: Einem „Wir“ in Supervielfalt.