IZ-Tagebuch: In Zeiten des Virus

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#152 Biosicherheit

In Deutschland sind jetzt Aufsätze, Interviews und Wortmeldungen des italienischen Philosophen Giorgio Agamben aus dem Jahr 2020 erschienen.

Während wir unter dem Eindruck alltäglicher Meldungen und Prognosen gebannt abwarten, wann wir wieder mit einer Normalität – in welcher Form auch immer – rechnen können, stellt der Philosoph grundsätzliche Fragen („An welchem Punkt stehen wir?“) und rückt das aktuelle Geschehen in einen historischen Kontext.

In den Monaten der Pandemie sieht er nicht weniger als die Ankündigung eines epochalen Umbruchs; eine Art Gesundheitsreligion fasse Fuß und der Ausnahmezustand sei das eigentliche „Dispositiv der großen Transformation“. Neben den Maximen des Sicherheitsstaates der letzten Jahre tritt die Idee der absoluten „Biosicherheit“ in die Arena.

Auch wenn ihm seine provokanten Anspielungen auf eine Gesundheitsdiktatur scharfe Kritik eingebracht hat, ist seine Mahnung, dass das Phänomen der sozialen Distanz eine dauerhafte Einrichtung mit fatalen politischen und ethischen Folgen sein könnte, nicht so leicht von der Hand zu weisen. Sein Punkt: Die Gesellschaft, die im ständigen Ausnahmezustand lebt, kann keine freie Gesellschaft sein. Und: Die Praxis der Notverordnungen hat die Exekutivgewalt schleichend an die Stelle der Legislativgewalt gestellt. „Was auf dem Spiel steht, ist nichts weniger als die Abschaffung des öffentlichen Raums in seiner Gesamtheit“, schreibt er.

Die Mission jeder Philosophie ist es, Widerspruch und Fragen anzuregen. Wie immer man dabei im Einzelnen zur Argumentation Agambens steht, bestärkt er seine Leser, skeptisch und aufmerksam zu bleiben. Zum Beispiel, indem er eine neue, überraschende Aufgabenstellung der Philosophie der Aufklärung definiert:

„Wie bereits vielfach im Laufe der Geschichte geschehen, müssen die Philosophen in Auseinandersetzung mit der Religion treten, die nun aber nicht mehr das Christentum ist, sondern die Wissenschaft beziehungsweise der Teil davon, der die Form einer Religion angenommen hat.“

Giorgio Agamben

#151 Diktatur

Unter dem Titel „Mehr Diktatur wagen“ stellt Thomas Brussig gestern eine Denkrichtung in der Süddeutschen Zeitung vor. Aus Sicht des Schriftstellers muss der Staat unbedingt – dies sei das Gebot der Stunde – dem Ausnahmezustand mit Ausnahmeregelungen begegnen. Erst nachdem das Virus gebannt ist, kann er dann zur alten, verfassungsgemäßen Normalität zurückkehren. Brussig verweist auf die Erfolge von totalitären Systemen in der Pandemiebekämpfung, die ohne den lästigen Grundrechtsschutz angeblich effizienter agieren.

Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Stephan Harbarth hält in der aktuellen Lage „Diktatur-Vorwürfe“ für absurd; erinnert aber dennoch an Grundsätze des parlamentarischen Systems. Gerade auch in der Ausnahmesituation ist der Staat an die Grundsätze der Verfassung gebunden. In der Rheinischen Post erinnert er zum Beispiel daran, dass „die wesentlichen Entscheidungen vom Parlament getroffen werden müssen.“ Seine Begründung: „Je wichtiger die betroffenen Rechtsgüter sind, desto stärker ist der Gesetzgeber zur Entscheidung berufen.“

Der Streit über die stärksten Grundrechtseinschränkungen seit Gründung der Bundesrepublik geht weiter. Professor Hinnerk Wißmann von der Universität Münster sieht laut der WELT-online gar eine folgenreiche Wendung im Rechtsverständnis der Politik am Horizont: „Nicht die Maßnahmen müssen sich rechtfertigen, der Begriff der ‘Vorsorge’ kehrt die Beweislast um. Doch Freiheit, die ihre Ungefährlichkeit beweisen muss, ist abgeschafft.“

#150 Mitte

Neben die Pandemiemüdigkeit tritt die allgemeine Verunsicherung: Wie könnte ein Leben mit dem Virus aussehen oder gibt es einen Mittelweg in der Krise?

„Epidemiologisch müssten wir sogar verschärfen, weil dritte Welle mit Turbo Virus droht“, erklärt der Gesundheitsexperte Lauterbach. Die Dauerpräsenz des Politikers in den Medien hat die Funktion, den Eindruck zu vermitteln, dass die aktuelle Regierungspolitik eher gemäßigt sei, da man ja durchaus auch, wie Lauterbach immer wieder andeutet, radikalere Reaktionsmuster ins Spiel bringen könnte.

Überhaupt hat sich das Blatt gewendet. Kritik an Regierungsmaßnahmen, die dem Vorgehen mangelnde Verhältnismäßigkeit vorwirft, wird durch Stimmen ersetzt (#NOCovid), die ihre unzureichende Schärfe anprangern. Im Ergebnis ergibt sich eine andere Definition der mittleren Position.

Die ungeklärte Wirklichkeit der mutierenden Viren, die theoretische Möglichkeit der Verschlimmerung der Lage, verschiebt auch schleichend einen anderen Grundsatz. An sich sind Grundrechtseinschränkungen nur so lange verhältnismäßig wie sie eben notwendig sind. Inzwischen genügt schon die Aussicht auf Mutationen (Vorsorge), um weitere Verlängerungen der staatlichen Maßnahmen zu rechtfertigen.

Die reine Möglichkeit steigender Infektionszahlen wiegt heute schwerer als die Wirklichkeit. Was heißt dieses Dilemma für die Zukunft?

#149 Weltstaat

In der FAZ veröffentlichen verschiedenen Regierungschefs – unter anderem Bundeskanzlerin Angela Merkel – einen Aufruf. „Wir glauben“, heißt es dort, „dass diese pandemische Krise eine Gelegenheit sein kann, durch effiziente Zusammenarbeit, Solidarität und Koordination wieder einen Konsens über eine internationale Ordnung zu erzielen – eine Ordnung, die auf Multilateralismus und Rechtsstaatlichkeit beruht“.

Der Traum einer neuen Ordnung, die im Rahmen einer internationalen Zusammenarbeit effizient die diversen Krisen unserer Zeit – also die Sicherheits-, Klima-, Finanz- und Coronakrise – beheben soll, erinnert an die alte Idee des Weltstaates. Das bisherige Problem: Nationalstaaten sind zu schwach, um internationale Krisen lösen zu können; zudem konkurrieren sie mit mächtigen Plattformen der digitalen Wirtschaft und mit Monopolen, die die Märkte beherrschen.

„Neue Ordnung“ verspricht hier eine Lösung, die rechtsstaatlich organisiert sein soll. Die neuen Objekte der Ideologie – seien es Sicherheit, Wohlstand der Gesundheit – erfordern unter anderem eine Neujustierung der persönlichen Freiheit. Paradoxerweise geht die bisherige Bewältigung aller Krisen immer mit Beschränkungen von Grundrechten einher. Ob und wie die neue Ordnung diesen Widerspruch lösen kann, bleibt genauso offen wie die Frage, ob die neue Ordnung im alten Sinne demokratisch sein wird.

Im Mittelpunkt der Strategie steht offensichtlich die Erfahrungen mit der Pandemie. „Wir betrachten eine breite Immunisierung als globales öffentliches Gut, das für alle verfügbar und erschwinglich sein muss.“ Die Politik sieht die Hoffnung hier in einer neuen Definition der Immunität, die das Ergebnis technischer Innovationen, insbesondere der Biotechnik, ist und die Schwächen der alten Immunsysteme beheben soll.

„Wir laden Führungspersönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Religion und anderen Bereichen ein, sich an diesem globalen Gedankenaustausch zu beteiligen“, schließt der Aufruf. Die neue Welt ist noch nicht ausformuliert. Spannend wird sein, wie sich das – soweit vorhanden – „Führungspersonal“ der Muslime zu diesen Fragen positioniert.

#148 Gipfel

Die Regie des sogenannten Impfgipfels gleicht einer Talkshow: Möglichst viele Teilnehmer garantieren keine Vertiefung der Problematik, sondern einen berechenbaren Verlauf im Dickicht der Meinungen und Perspektiven. Für die Politik gilt es das Schlimmste zu verhindern: Der Eindruck, sie hätte die Kontrolle über das Geschehen verloren oder gar direkte Mitschuld an den steigenden Opferzahlen.

Auch wenn Gesundheitsminister Spahn in der BILD-Zeitung nicht interviewt, sondern der Schlagzeile nach sogar „verhört“ wurde, die Idee der persönlichen Verantwortung weist der Politiker professionell zurück.

Es bleibt Staunen. Das Boulevardblatt denkt inzwischen sogar Eingriffe an, die, wie im Kommunismus direkt in die Rechte von Wirtschaftsunternehmen eingreifen würden: „Die deutsche Pharma-Industrie muss gezwungen werden, endlich genug Impfstoff für alle Deutschen zu garantieren: Notfalls mit Zwangsproduktion, angeordneten Kooperationen zwischen Konkurrenten.“

Fakt ist: Von der Idee einer objektiven und eindeutigen Wissenschaft, die die Politik leiten soll, ist wenig übrig. Stattdessen kündigt sich der Wahlkampf und die endgültige Politisierung vn Pandemie-Bekämpfung an.

Die Bevölkerung muss sich dabei zwischen größtmöglicher Sicherheit oder größtmöglicher Freiheit entscheiden. Die neue Strategie, jede Mutation des Virus künftig als eine neue unbekannte Bedrohung zu definieren, zeigt, dass letztere mehr denn je bedroht ist.

#147 Alte Menschen

Das Narrativ von der Sorge der Politik um die Alten im Land hat bis heute empfindliche Rückschläge hinnehmen müssen. Nach wie vor ist es nicht gelungen, Alters- und Pflegeheime effektiv gegen das Virus abzuschotten.

Abgesehen vom medizinischen Personal und Menschen, die in Pflegeheimen versorgt werden, sind es die über 80-Jährigen, die zuerst geimpft werden sollen. Eine Altersgruppe, die laut Statistischem Bundesamt in Deutschland rund 5,4 Millionen Menschen umfasst.

Natürlich hat dieser Personenkreis – Menschen, die in weiten Teilen weder einen Computer haben, noch Erfahrung im Umgang mit Online-Buchungen – Schwierigkeiten, entsprechende Termine zu bekommen.

Aus der Ferne verfolge ich die Bemühungen von älteren, oft einsamen und verängstigten Menschen in Baden-Württemberg, einen begehrten Termin zu bekommen. Das Verfahren ist gelinde gesagt kafkaesk. Teilweise bemühen sich Angehörige wochenlang – teilweise vergeblich –, in ein Call-Center vorzustoßen. Entsprechende Online-Angebote funktionieren nicht, oder die Seiten reagieren nicht auf Rückfragen.

Ein Trauerspiel und Beispiel für ignorante Politik.

#146 Positives

Das Positive: Die bundesweite Ausgangssperre und damit einer der weitreichendsten Eingriffe in die Grundrechte ist das letzte Mittel und zurzeit vom Tisch. Und: Der Föderalismus funktioniert. Zum Glück wird in Berlin um die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen gerungen und teilweise gestritten.

Die Frage: Konstruiert das Bundeskanzleramt den Eindruck der Alternativlosigkeit ihrer Strategie? Inzwischen fällt dieser Umstand den Leitmedien auf. „Eingeladen sind fast nur Experten, die den Regierungskurs stützen“, schreibt Lydia Rosenfelder auf SPIEGEL-Online.

Seit dem Beginn der Krise wiederholt sich der Vorwurf, dass die Regierung nicht einmal symbolisch alternative Meinungen anhört. Hierher passt auch die passive Rolle des Parlaments, deren Debatten von der Diskussion und dem Meinungspluralismus leben.

#145 Begehren

Impfstoff ist eine Mangelware und das neue Objekt des Begehrens, denn es verspricht die Rückkehr zu einer neuen Normalität. Schon heute erscheint am Horizont ein weiterer Spaltpilz für die Gesellschaft und die Pointe der aktuellen Biopolitik. Bislang war die Haltung der Bundesregierung, keine Sonderbehandlung für Menschen mit Corona-Impfung zu erwägen. Als erster Minister weicht Außenminister Maas davon ab: Geimpfte sollten früher als andere in Restaurants oder Kinos dürfen.

De facto fordert der SPD-Politiker die Impfpflicht durch die Hintertür. Die ersehnte Rückkehr in das öffentliche Leben wird durch legale Zugangsbeschränkungen der Privatwirtschaft erschwert. Die weitere Folge: Die Unterscheidung zwischen Geimpften und Nicht-Geimpften muss eines Tages streng überwacht werden, entweder durch einen Impfausweis oder, technisch effizienter, durch andere Methoden der Hightech Markierung.

#144 Demokratie

„Normalzustand wie vor Corona wird es auf absehbare Zeit nicht geben“, kündigt der bayrische Ministerpräsident Söder in der Welt am Sonntag an. So langsam müssen sich die BürgerInnen fragen, ob die gewohnten demokratischen Gepflogenheiten im Zeitalter der Biopolitik weiterhin haltbar sein werden. Sollte die Bevölkerung eines Tages gar der (heute noch) verwegenen These zustimmen, dass weniger Demokratie schlicht gesünder ist?

Die grenzenlose Welt der Bakterien und Viren wird Nachschub liefern, kurzum, erleben wir künftig jedes Jahr Krisen, die die dauerhafte Einschränkung von Bürgerrechten ermöglichen werden? Nebenbei eröffnet der Politiker eine 2. Front: die Gefahr einer „Corona-RAF“. Damit verknüpft der CSU-Vorsitzende endgültig Sicherheits- und Gesundheitspolitik mit dem ideologischen Ziel, völlige Sicherheit und allgemeine Gesundheit zu gewähren. Beide Ziele beschreiben im Grunde eine Unmöglichkeit: ein Planet ohne Terroristen und ohne Viren. Das kann dauern.

Die Lösung – in Anbetracht der Klimakrise, die uns ebenso fundamental bedroht, liefert – Söder gleich mit: „Es wird eine Vernunftpolitik geben.“ Genau genommen eine partiell angewandte Vernunft, ist doch neben der Wissenschaft und der Impfung der zweite strategische Ansatz zur Lösung der aktuellen Krise eine extreme Verschuldung, deren Nachhaltigkeit kaum noch rational zu begründen ist.

Politik soll nach der Vision Söders künftig der Wissenschaft folgen, die eindeutige, möglichst alternativlose und überzeugende Weisungsvorgaben gibt. Wer künftig Parteien seine Stimmen gibt, sollte sich informieren, welche Wissenschaftler mitgewählt werden. Die Entscheidung, welcher wissenschaftliche Ansatz gewählt und welchen Wissenschaftlern gefolgt wird, bleibt eine politische (und meist ökonomisch beeinflusste) Option. Ein Paradox.

Auch interessant: Die Frage nach der Verantwortung der Politik für ihre Entscheidungen, beantwortet der Politiker in der Welt am Sonntag eher vage: „Wir sollten nach vorne schauen. Hinterher ist man immer schlauer.“

#143 Brief

Nach Monaten von Ausnahmeregelungen, Horrormeldungen und medialem Dauerbeschuss: „Wegen der massiven Versorgungsengpässe mit Impfstoffen gegen das Coronavirus hat das Bundesgesundheitsministerium von Jens Spahn die Pharma-Lobby schriftlich um Hilfe gebeten.“ Großartig!

#142 Impfung

Eine Seniorin schreibt Geschichte: In Halberstadt in Sachsen-Anhalt wurden gestern die 101 Jahre alte Edith Kwoizalla gegen das Virus geimpft. Nüchtern betrachtet erscheint die flächendeckende Impfung als einzige Chance, wieder so etwas wie einen Normalzustand zu erreichen.

Bedenken und Skepsis gegen die Impfstrategie werden an den Rand gedrängt, entsprechende Stimmen sind verpönt oder diskreditiert. Aus Chronistenpflicht notiert man das Versprechen der Regierung, keine Impfpflicht einzuführen, auch keinen Zwang durch die Hintertür zuzulassen und BürgerInnen je nach Status nicht unterschiedlich zu behandeln (Seehofer).

Gesundheitsminister Spahn erklärt gleichzeitig das Motto der Kampagne. Es ist einfach gehalten: „Wer mitmacht, rettet Leben.“ Aus Sicht des Ministers war es nie so einfach, ein Held zu werden: Abstand halten, nichts tun und einen „Piekser“ zulassen!

Zugegebenermaßen ist das ein verführerisches Angebot. Allerdings bleibt die dazugehörende Logik, bestimmte moralische oder politische Qualitäten aus einer Bereitschaft zur Impfung abzuleiten, eher fragwürdig.

#141 Jahresrückblick

Nach einem Corona-Jahr mit vielen schlechten Nachrichten sehnt man sich naturgemäß nach positiven Bewertungen. Auf SPIEGEL-Online bietet heute Henrik Müller, Professor für wirtschaftspolitischen Journalismus an der TU Dortmund, eine in Optimismus getauchte Zukunftsvision an.

Für Müller hat die Pandemie eine andere Qualität ins Spiel gebracht: Die aktuelle Unsicherheit wurzelt nicht wie gewohnt im politischen oder ökonomischen Feld, schreibt er, sondern sie kommt aus der Natur.

Die Wendung zum Besseren sieht Müller nunmehr in der erfolgreichen Mobilisierung gegen die Störung aus der Welt der Biologie, denn „die Moderne lässt sich verstehen als Großprojekt gegen die Unsicherheit“.

Die Vision der Beherrschung der an sich unwirtlichen Natur wird in Deutschland üblicherweise eher skeptisch gesehen, man verknüpft es gerne seit Goethes Zeiten mit der Gestalt des „Faustischen“ und mit der Sorge um Kollateralschäden.

Für Müller zeigt sich die Wendung zum Besseren in drei Phänomenen: Expertenmüdigkeit und Technikskepsis sind verflogen, der Staat als „Akteur der letzten Zuflucht“ ist zurück im Spiel und Corona dämmt den Populismus ein.

Diese drei Thesen Müllers könnte man, wenn man skeptisch gestimmt ist, selbstverständlich recht anders formulieren:

Wissenschaftsgläubigkeit ersetzt Religion. Der autoritäre Staat als Garant des Überlebens findet Zustimmung und uniforme Meinungsbilder setzen sich durch. Und: Eine gigantische Geldproduktion, zur Abfederung der ökonomischen Folgen der Krise wird inzwischen als Teil eines natürlichen und rationalen Wirtschaftens angesehen.

#140 Medizin

In Zeiten der Pandemie ist das Vertrauen in die Expertisen von Ärzten und Wissenschaftlern von einiger Bedeutung. Zunächst paradox wirkt die Feststellung des SPD-Gesundheitsexperten Lauterbach: „Es überrascht mich, dass die Impfbereitschaft beim medizinischen Personal nicht deutlich höher ist und es eine so große Zurückhaltung gibt“, sagte der Politiker der Funke Mediengruppe.

Vielleicht äußert sich hier nur ein menschliches Dilemma. Bei aller Vollkommenheit neuer medizinischer Innovationen – vom operierenden Roboter bis zum gläsernen Patienten – bleibt ein altes Unbehagen: Gerade, wenn man nah am Geschehen ist, erfährt man eine Ambivalenz, erlebt Widersprüche und neue Abgründe, die die Wunderwelt neuer Technologien trotz allem unbestreitbaren Fortschritt regelmäßig mit sich bringt.

Marcel Proust beschrieb schon in seiner Suche nach der verlorenen Zeit (ein epochaler Roman, der am Ende des 19. Jahrhundert spielt) auf vielen Seiten das andauernde Drama über medizinischen Fortschritt, Krankheit und Tod. Proust schildert den menschlichen Kampf gegen die Krankheit – irgendwo zwischen Hoffen und Bangen, zwischen Irrtum und Wahrheit angesiedelt – wie folgt:

„Denn da die Medizin ein Kompendium aufeinanderfolgender und einander widersprechender Irrtümer der Ärzte ist, hat man, wenn man die vorzüglichsten unter ihnen an sein Krankenbett ruft, beste Aussicht, eine Wahrheit um Hilfe anzugehen, die wenige Jahre darauf als falsch erkannt sein wird. An die Medizin zu glauben wäre also der größte Wahnwitz, wofern es nicht ein noch größerer wäre, nicht an sie zu glauben, denn aus dieser Häufung von Irrtümern sind auf lange Sicht ein paar Wahrheiten hervorgegangen.“

#139 Autoritäre Maßnahmen

Steigende Opferzahlen und drohende Überlastung der Gesundheitssysteme sind eine Katastrophe. Auch für die Politik: Augenscheinlich verbreitet sich in der politischen Klasse die Furcht vor künftigen Debatten über die Verantwortung für das Geschehen. Es bleibt naturgemäß nur die Flucht nach vorne, ein Überbietungswettbewerb neuer „autoritärer“ Maßnahmen.

Rhetorisch wird das Narrativ der verantwortungslosen Bürger wichtig, die sich – trotz der flächendeckend klaglosen Akzeptanz gegenüber den schwerwiegendsten Grundrechtseingriffen der Nachkriegszeit – angeblich nicht an die Regeln halten. Die simple Gleichung, nur wer immer härtere Maßnahmen stützt, verhält sich moralisch einwandfrei, steigert sich zu einer ethischen ebenso fragwürdigen, Maxime.

Es bleiben Restzweifel, welche Maßnahme effektiv oder einfach nur Aktionismus ist. Nur noch zaghaft wird inzwischen die systemische Frage gestellt, wie weitreichend ein Gesundheitsschutz in einem demokratischen System sein kann. Das bleibt eine Herausforderung, da niemand sagen kann, wie lange die Krise dauern wird und wann Covid-20 vor der Tür steht.

#138 Gefangene der Zeit

Unter dem Titel „Gefangene der Zeit“ präsentiert der Historiker Christopher Clark Aufsätze zu den Themen Religion, politische Macht und das Bewusstsein der Zeit. 

In seinem Vorwort beschäftigt sich Clark auch mit der Pandemie und ihren Folgen. Wir erleben die große Entschleunigung aller Abläufe und der Umkehr der inneren Logik der Moderne. In diesen Tagen sind die hoffnungsvollen Spekulationen, dass uns die Pandemie einen achtsamen Umgang mit der Natur lehrt, eventuell zu einem neuen sozialen Band führen könnte, von den alarmierenden Zahlen steigender Opferzahlen verdrängt worden.

Mit anderen Historikern hat er sich über vergangene Katastrophen im Gesundheitsbereich ausgetauscht. Auch heute greifen wir, auch wenn der Impfstoff gegen das Virus wohl gefunden wurde, auf Methoden zurück, die bereits mittelalterliche und frühzeitliche Städte anwandten: Quarantäne, Lockdown, Abstand, Masken und die Schließung öffentlicher Einrichtungen.

Im frühzeitlichen Venedig und Florenz, berichtet Clark, wurde zunächst die Angst bereits als Gefahr angesehen, weil man glaubte, sie erhöhe die Ansteckungsgefahr. Die Behörden versuchten zunächst ,der Bevölkerung die Lage ruhig und einfühlsam zu erklären. Später setzte man aber auf härtere Maßnahmen und Abschreckung. Die Behörden hatten junge Florentiner bei einer Party erwischt.

Der Historiker wundert sich darüber, wie wenig Spuren die furchtbaren Begegnungen mit tödlichen Krankheitserregern im öffentlichen Gedächtnis hinterlassen hatten. 

„Historiker und allgemein Menschen sind geradezu süchtig nach menschlicher Urheberschaft, sie lieben Geschichten in denen Menschen einen Wandel bewirken oder auf ihn reagieren“, schreibt Clark. Das Phänomen der Pandemie, als Teil der menschlichen Kontrolle entzogenen Natur- oder Schöpfungsgeschichte, entzieht sich diesem gewohnten Erklärungsmodell.

Die Menschen neigten früher dazu, entweder eine himmlische Urheberschaft oder eine menschliche Urheberschaft hervorzuheben. Der aktuelle Erfolg von Verschwörungstheorien, die „kollektive Idiotie“, setzt heute diese Neigung fort.

#137 Pfizer

Während sich der öffentliche Zorn auf irre Verschwörungstheoretiker richtet, herrscht an der Börse die gewohnte Rationalität. So berichtet die ARD am 13.11.2020:

„Pfizer-Chef Albert Bourla hatte am vergangenen Montag, dem Tag der Bekanntmachung der vorläufigen Studienergebnisse zur Wirksamkeit des Impfstoffs, Unternehmensanteile im Wert von knapp 5,6 Millionen Dollar (rund 4,7 Millionen Euro) verkauft, wie aus an die US-Börsenaufsicht SEC übermittelten Dokumenten hervorgeht.“

Gestern hat die Pfizer die in den brav berichtenden Medien angekündigten Auslieferungsziele, wie eine Sprecherin dem Wall Street Journal mitteilte, bei seinem Corona-Impfstoff in diesem Jahr nach eigenen Angaben unter anderem wegen Verzögerungen beim Ausbau der Lieferkette halbieren müssen. Die Pfizer-Aktie lag daraufhin kurz vor Handelsschluss an der Wall Street knapp 2,4 Prozent im Minus.

#136 Normalität

Sobald ein Impfstoff verfügbar ist, will die australische Airline Quantas von Reisenden eine Impfung verlangen. „Ich glaube, das wird eine normale Sache sein, nach Gesprächen mit meinen Kollegen von anderen Airlines zu urteilen“, teilt Qantas-Chef, Alan Joyce, in einem Interview mit.

#136 Kontrolle

Ein mikroskopisch kleines Virus hat mit Blick auf die Weltwirtschaft, die großen staatlichen Mächte mit all ihrem Militär und ihrer Technologie, die große Illusion zum Platzen gebracht, dass die fortgeschrittensten menschlichen Gesellschaften die Natur kontrollieren könnten. Das Gegenteil ist der Fall.

Joschka Fischer, FOCUS online

#134 Illusion

Wir sollten uns keinen Illusionen hingeben.

Die Pandemie ist ein herber Einschnitt in unsere gesellschaftliche Realität. Es lohnt sich, frühzeitig mit der sogenannten neuen Normalität auseinanderzusetzen, statt sich in der Dramaturgie von Statistiken von Tag zu Tag durch das Geschehen führen zu lassen. Die WELT denkt das Szenario mit einer passenden Überschrift an: „Impfausweise können eine Rolle beim Einlass spielen.“

Die Pflicht zur Impfung muss nicht eingeführt werden, weil unter anderem die Privatwirtschaft eine Realität schafft, die ein Leben ohne Impfausweis de facto unmöglich machen könnte. Es sei denn, man will auf den Besuch von Veranstaltungen, den Einstieg in das Flugzeug oder die Teilnahme am Konzert verzichten. Die neue Biopolitik wird sichtbar unterscheiden – zwischen Menschen, die eine Gefahr darstellen, und denen, die gefährdet sind.

Bei diesem Thema sind die Mehrheitsverhältnisse schon absehbar. Ein großer Teil der Bevölkerung würde vermutlich auch diese neue Normalität mittragen. Der Staat muss in diesem Fall diese Wirklichkeit nicht erzwingen, sondern die Gesellschaft ruft selbst nach ihr.

Die Rückkehr zur alten Normalität scheint nicht wahrscheinlich.

#133 Krawall

Das neue Infektionsschutzgesetz ist keine Kleinigkeit; immerhin soll das Gesetz die massivsten Eingriffe in substantielle Grundrechte der Nachkriegsgeschichte legitimieren. Idealerweise sollte sich die Bevölkerung möglichst objektiv mit rational vorgetragener Skepsis gegenüber dem Vorhaben beschäftigen. Der FDP-Vorsitzende Lindner formuliert solche streitbaren Einwände im Spiegel-Interview wie folgt:

„Der Vorschlag der Großen Koalition ist nämlich unverändert ein Blankoscheck. Es ist nicht klar definiert, welche Freiheitseinschränkungen in welcher Lage angemessen sind. Der Handlungsspielraum der Regierung beim Eingriff in Grundrechte ist also zu groß.“

Überlagert wird die Debatte von Protesten diverser Gruppen, die teilweise aus der Hexenküche der Ideologien stammen: Rechte, Verschwörungstheoretiker und Wirrköpfe. Völlig abwegige Vergleiche einiger Sprecher, die Bezüge zur Zeit des Nationalsozialismus knüpfen, kommen hinzu.

Diese Akteure haben nebenbei die Funktion, Bilder zu liefern, die die Trennlinien zwischen rationaler Skepsis, Gewalt und irrationalen Verschwörungstheorien aufzulösen drohen. Neben der Angst gegenüber der Folgen der Pandemie tritt die Furcht vor den Ideologien. Im Ergebnis erscheint so eine Dialektik in Form von zwei Polen, die sich unversöhnlich gegenüberstehen: wissenschaftliche, demokratische Rationalität gegen gewalttätige, undemokratische Irrationalität.

In diesem Sinne präsentiert sich die Politik auf Grundlage der Wissenschaft als einzig mögliche, objektive Bezugsgröße. Hier kommt wieder die rationale Skepsis ins Spiel: Wer bestimmt die Wissenschaft? Was ist ihr Verhältnis zum ökonomischen und politischen Interesse? Wer ist Koch und wer ist Kellner?

#132 Biopolitik

Juli Zeh stellt sich in ihren Büchern wie in ihrem 2009 erschienenen Roman Corpus Delicti unter anderem aktuellen Fragen: Wann wird der Begriff der „Gesundheitsdiktatur“ von der Polemik zur Zustandsbeschreibung?

Im Juli hat sie in einem fiktiven Interview weitere Hintergründe zu dem Thema aufgezeigt. Die Schriftstellerin sorgt sich um die Auswüchse künftiger Biopolitik, die sich zunehmend um die Unterscheidung von Kranken und Gesunden dreht. Quellen ihres Denkens sind neben dem Philosophen Giorgio Agamben (Homo Sacer) der Klassiker Zauberberg von Thomas Mann.

Sie zitiert unter anderem aus der Einführung in den Zauberberg von Thomas Mann. Der Schriftsteller beschreibt darin die Einsichten Hans Castorps, der begreifen musste, dass „alle höhere Gesundheit durch die tiefen Erfahrungen von Krankheit und Tod hindurchgegangen sein muss (…)“.

Zeh wendet sich gegen Denksysteme die, einen spezifischen Wert absolut setzen und – zum Beispiel „totale Gesundheit“ – erreichen wollen.

Das Leben, erinnert Zeh, kennt bis zum Tod keinen Stillstand und keine Symmetrie. „Jedes politisches Programm, jede Methode, die das verkennt, trägt das Potenzial zur Eskalation in Richtung totalitärer Strukturen in sich. Denn wer das Unerreichbare anstrebt, wird es immer verbissener, immer radikaler, immer verachtender anstreben, je weiter er auf seinem Weg gekommen ist.“

#131 Skepsis

Die Unterscheidung zwischen rationaler Skepsis und irrationalen Verschwörungstheorien bleibt ein wichtiger Faktor im Rahmen der Einschätzung staatlicher Maßnahmen in der Pandemie-Bekämpfung. Unterscheidet man das nicht, entsteht so eine Schnittmenge, die alle Skeptiker unter einem Stichwort wie „Covidioten“ zusammenfasst. Dann kann man im Grunde alle Eingriffe in elementare Grundrechte nur noch passiv abwinken.

Seit März haben viele führende Virologen genau das heutige Szenario der steigenden Infektionszahlen für den Winter vorausgesagt. Nichts daran ist überraschend.

Noch immer wird die Debatte im Wochentakt geführt – meist unter hysterischen Vorzeichen. Gibt es keine grundsätzliche Strategie oder ist das die Strategie?

Es fehlt an einer eindeutigen Bestimmung der ethischen und rechtlichen Grenzen staatlicher Maßnahmen. Ähnlich wie im Kampf gegen den Terrorismus geht es nicht darum, die Gefahr zu leugnen, sondern grundsätzlich zu fragen: Wie weit kann man gehen, ohne das grundsätzliche Verständnis von Demokratie und Freiheit zu verändern?

Wann ist der Punkt erreicht, an dem eine Bevölkerung sagen muss: bis hierher und nicht weiter?

#130 Überschriften

„Mit diesen zwölf Aktien sind Sie beim nächsten Impfstoff-Boom dabei.“ (Welt Online)

#129 Jubeltag

Die Börse jubiliert. Berichte über einen neuen Impfstoff lesen sich zunächst wie Presseerklärungen der beteiligten Unternehmen. Verständlich, da die Angst inzwischen verbreitet und die Hoffnung auf Erlösung groß ist. Die Aussicht auf Bewegungsfreiheit und unreguliertes soziales Leben wirkt euphorisierend. Der „Impfstoff mit Migrationshintergrund“ (Dylan Bethe) steht vor der Tür.

#128 Bundeskanzlerin

Die ethischen, rechtlichen und ökonomischen Fragen im Rahmen der Pandemiebekämpfung sind hinlänglich bekannt. Hier kann man unterschiedliche Meinungen haben. Heute höre ich mir die Kanzlerin bei der Bundespressekonferenz an. Man hat nicht den Eindruck, dass sie Spaß an der Einschränkung von Grundrechten hat, sondern im Rahmen ihrer Logik überzeugt und besonnen agiert. Souveräner Auftritt, kurz gesagt.

#127 Sprache

„Einsatzbefehl, Corona-Front, Lockdown-Brecher jagen.“ BILD arbeitet im Sprachraum.

#126 Alternativlos!

Fern der Leugnung der Gefährlichkeit des Virus stellen sich heute dennoch substantielle Fragen über die Zukunft des demokratischen Gemeinwesens. Die Frage stellt sich immer wieder neu: Wie weit will man gehen, um Gefahren von der Gesundheit abzuwenden?

Die Rede von einem „Gesundheitsnotstand“ ermöglicht das Undenkbare wie die Verdrängung unbequemer Entscheidungen der Justiz. Je nach Entwicklung der Infektionszahlen ist die Liste der Grundrechtsverletzungen offen: Polizeistaat, digitale Überwachung oder Zentralismus. Die Verteidigung des Privaten und die Herrschaft über den eigenen Körper wird jedenfalls schwieriger.

„Altlernativlos!“, liest man in Medien, hört man von der Politik – angesichts der mathematischen Berechnung potentieller Todeszahlen. Und wer wäre davon unbeeindruckt? Auch hier kann man die Straße weiter hinuntergehen: Kritik und Gegenrede steht längst unter dem Verdacht, amoralisch, idiotisch und verantwortungslos zu sein. Angesichts der tödlichen Gefahr ist die Meinungsfreiheit nicht auch ein Luxus – im Grunde eine Gefahr?

Der Staat nimmt, der Staat gibt. Das exponentielle Schuldenwachstum wird als Kollateralschaden in Kauf genommen. Der Bürger wird indirekt darauf vorbereitet, dass der Zusammenbruch des Finanzsystems dem Virus geschuldet ist. Auch hier herrscht die Doktrin der Alternativlosigkeit schon länger.

Die Kernfrage muss wiederholt werden: Wie weit will man, kann man gehen, ohne in einem grundsätzlich anderen politischen System zu enden?

#125 Notstand

„Außerdem soll nach Vorstellungen der Länder der „nationale Gesundheitsnotstand“ ausgerufen werden. Hintergrund ist, dass die angeordneten Maßnahmen auf diese Weise wohl schwerer vor Gericht anfechtbar sind.“ (Focus)

Wir schreiben das Jahr 2020.

#124 Lauterbach
„Die Corona-Krise darf kein Vorwand sein, um Freiheitsrechte einfach außer Kraft zu setzen. Wer Kontrollen in Privatwohnungen fordert, hat unser Grundgesetz nicht verstanden. Der Staat hat im Wohnzimmer nichts zu suchen.“ Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

#Ergänzung (mal soll ja deeskalierend wirken…): „Um es noch einmal für alle klarzustellen, weil es viel Kritik gibt: ich lehne es ab, dass Polizei oder Ordnungskräfte Wohnungen kontrollieren. Die Privatwohnung bleibt voll geschützt. Trotzdem müssen wir an Bürger eindringlich appellieren, jetzt jede private Feier zu vermeiden.“ Karl Lauterbach

#123 Freund
Ein guter Freund aus Istanbul hat sich mit dem Coronavirus infiziert. „Kein Spaß“, war seine lapidare Antwort auf meine Nachfrage, wie er den Krankheitsverlauf bisher erlebt habe. Bei aller Macht der Statistiken und abstrakten Modellen vergisst man am eigenen Schreibtisch schnell die Realität von betroffenen Menschen.

Es ist eine wichtige Komponente der Meinungsfindung, ohne eine ideologische Fixierung auszukommen und die realen Abläufe nüchtern im Auge zu behalten. Eine natürliche Skepsis gegenüber Beobachtern, die komplizierte Sachverhalte mit dem Ton absoluter Überzeugung einordnen, ist ebenso angeraten.

Kein System welcher Art auch immer wird die Natur je vollständig beherrschen können. Sicher ist nur, dass die Gesundheits- und Sicherheitssysteme unsere Idee von Freiheit weiterhin einschränken. Die Wertschätzung substantieller Gegenrede in der Öffentlichkeit ist keine lästige Pflicht, sondern gehört zu den Standards einer offenen Gesellschaft, die ihre eigenen ideologischen Grundlagen besser verstehen will.

Davon völlig unabhängig bleibt es eine Herausforderung, die wissenschaftlichen, ethischen und rechtlichen Fragen, die die staatlichen Maßnahmen verursachen, gegeneinander abzuwägen.

#122 Juristen
Die Arbeit von Juristen ist insbesondere in der Zeit der Pandemie außerordentlich wichtig. Gott sei Dank bestimmt ihr Denken nicht die Angst, sondern nüchterner Sachverstand. Hinweise nach dem Motto „habt euch nicht so!“ sind schlicht töricht. Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit staatlicher Maßnahmen ist immer relevant und notwendig. Sorgen machen vielmehr Politiker, die einen Notstand herbeireden und rechtswidrige Gesetze oder Verordnungen in Kauf nehmen.

#121 Digitale Antworten
Gebannt schaut Europa auf die steigenden Infektionszahlen und die Prognosen über den Verlauf der sogenannten zweiten Welle. Parallel steigern sich entsprechend die Emotionen im Land. Was tun? Sorglosigkeit, verbunden mit der Forderung, die Pandemie einfach laufen zu lassen, ohne jede staatlich organisierte Gegensteuerung, ist nach dem Philosophen Peter Slotderdijk nur Option für Zyniker.

Die mathematische Kalkulation über die Gefahren durch „digitale Agenten“ prägt scheinbar das Erkenntnisverfahren der Kanzlerin. Damit ist gemeint, dass Kanzlerinberater Michael Meyer-Herrmann in seinen Modellen das Verhalten von verschiedenen, real nicht existierenden Menschen durchspielt. Der Mathematiker verdrängt nicht nur den Virologen, er wird zum Leitwissenschaftler. Er wird zum eigentlichen Propheten des drohenden Unheils.

Das wissenschaftliche Verfahren, das hier beschrieben wird, beschränkt sich in erster Linie auf die direkten Folgen der Pandemie. Andere Modelle wie die Beschreibung potentieller Todesfälle, die sich aus der Verschiebung von Operationen ergeben oder andere, weltweit zu beobachtende Kollateralschäden werden zweitrangig.

Wir kehren zurück zum Beginn der Debatte: zu den rechtlichen, ethischen und wissenschaftlichen Fragen. Das Virus und damit die Forderung nach Gesundheit der Massen ist neben der Idee umfassender Sicherheit das erhabene Objekt der Ideologie. „Die Politik reagiert nach dem Motto“, schreibt Adrian Lobe in der WELT, „was man messen kann, kann man auch managen“.

Die langfristigen gesellschaftlichen Folgen dieser Strategie sind noch ungewiss. Sicher ist nur, dass sie sich nicht alleine in abstrakten Modellen beschreiben lassen.

#120 Kontrolle
„Die Mitarbeiter der privaten Dienste würden dann in die Uniformen der Ordnungsämter schlüpfen und die Kontrollaufgaben übernehmen.“ Gerd Landsberg, Chef des Städte- und Gemeindebundes

#119 Gleichnis
Jede Krise ist begleitet von Gleichnissen.

I. Die Rückmeldung aus der Welt der Natur, erinnert nicht nur an die Fragilität unserer Gesellschaften sowie an die Sterblichkeit des Menschen, sondern setzt eine Mäßigung durch, die keine Politik umsetzen konnte und die sich unter anderem in einem geänderten Konsum- und Reiseverhalten zeigt. Der als Fortschritt verklärte Wille, die Natur komplett zu vermessen, mit Prognosen das komplexe Geschehen zu errechnen oder gar zu beherrschen, stößt gleichzeitig auf Grenzen.

II. Nicht zufällig stellt sich im Rahmen des staatlichen Handelns in der Pandemie-Bekämpfung immer wieder die Frage nach der Verhältnismäßigkeit und nach dem Maß an sich. Wir hören besorgt neue, dem Grunde nach aber alte Vorschläge, die sich um permanente Steigerung drehen. Mehr Geld, mehr Medikamente, mehr Gesetze, mehr Überwachung und mehr Sicherheit!

III. Die Frage nach dem biologischen Überleben der Menschheit fordert grundsätzliche Überlegungen heraus: aus dem Feld der Ethik, des Rechts, der Theologie. Humanität der neuen Biopolitik: Wie markiert man Gesunde und Kranke, wo beginnen oder enden Zonen der Gefahr, wie grenzt man Erholungs- und Gefährdungsräume voneinander ab? Mögliche Antworten, soweit vorhanden, gehen in der alltäglichen Hysterie, unter, die sich aus abstrakten Gefahrenprognosen und statistischen Spekulationen nähren.

IV. Gesellschaftliche Debatten, soweit sie überhaupt kontrovers geführt werden, verlieren an Gewicht und Relevanz. Die Logik: Im Endspiel geht es längst um viel mehr als nur um uns. Debattiert wird auf höherer, abstrakter Ebene: Es geht um die Rettung der Menschheit, des Planeten und der Welt.

Wer davon ausgeht, dass Untergang droht, wird bald neue Imperative gesellschaftlichen Handelns akzeptieren müssen.

#118 Suggestion
„Es sind weniger die harten wissenschaftlichen Daten als ihre digitale Modellierung (Computersimulation) zu mutmasslichen Schreckensszenarien, die eine suggestive Wirkkraft auf die politisch Handelnden haben.“ Rudolf Brandner, NZZ Online

#117 Zufall
Leider kann ich einen Artikel von Patrick Bernau, auf FAZ-Online, mit dem Titel „Wie Corona uns den Zufall raubt“ nicht lesen. Das hört sich interessant an.

Warum es darin geht? Möglicherweise spielt der Autor auf Phänomene an, die zu dieser merkwürdigen Zeit gehören: das Abstand halten gegenüber Fremden und immer mehr virtueller statt realer Begegnungen. Wie beeinflusst ein solches Leben die alchemischen Verhältnisse, den Faktor Zufall in unseren alltäglichen Begegnungen, überhaupt die Idee der Anbahnung von Wahlverwandtschaften?

Letzten Freitag war ich „Ordnungspersonal“ in der Moschee und aufs Neue fasziniert von der Disziplin der Anwesenden. Mein Job war leicht: Es gab absolut nichts zu beanstanden. Wie durch eine unsichtbare Hand, an einen Automatismus erinnernd, wurde das Hygieneprotokoll eingehalten. Nach dem Freitagsgebet, das eigentlich ein soziales Ereignis ist, löste sich die Versammlung schweigend und – von einem kurzen Nicken oder Winken abgesehen – meist grußlos auf.

Der Mensch ist Gewohnheitstier, heißt es. Hoffentlich stimmt das nicht.

#116 Hypothesen
Ich möchte – so Gott will – weder das Virus selbst bekommen, noch jemanden damit anstecken.

Genauso wichtig ist es aber, einen klaren Kopf zu behalten. Hinter den abstrakten Zahlenmodellen und den imaginären Spekulationen über die Folgen der Pandemie verstecken sich zahlreiche, unbewiesene Hypothesen. Das alte Problem, zwischen Ursache und Wirkung genau zu unterscheiden, stellt sich ebenso. Nur weil das Ergebnis stimmt, ist nicht jede einzelne Maßnahme schon an sich gerechtfertigt. Die signifikanten Bezeichnungen „das Virus“, „die Hygieneregeln“ oder „die Pandemie“ sind letztlich Verallgemeinerungen und Definitionen, die komplexe Realitäten nur symbolisieren können. Kein Modell wird je die Wirklichkeit des Seins und des Seienden vollständig erfassen.

Nebenbei erwähnt ist auch für die modernen Naturwissenschaften das dritte Element eher sekundär – wie ich mit einer Gefahr umgehe, sei es in voller Angst, mit großer Gelassenheit, fluchend oder betend.

#115 Mathematik
„Die Mathematik steht ganz falsch im Rufe, untrügliche Schlüsse zu liefern.“ Goethe

Zahlen I: Das abstrakte Zahlenmodell, das Angela Merkel für ihre künftige Erwartung der Pandemie bemüht, ist natürlich nicht völlig widerspruchsfrei. Davon unberührt bleibt die Idee, Vorsicht statt Sorglosigkeit walten zu lassen, selbstverständlich eine nachvollziehbare Größe. Freilich bleibt ein Restzweifel, ob das Kommando der Naturwissenschaften die gesellschaftlichen Debatten und die Möglichkeit von substantiellen Kontroversen verdrängt.

Es bleibt zumindest fragwürdig, ob die Komplexität des Virus und des Infektionsgeschehens durch das Modell mit der angsteinflößenden Hypothese eines exponentiellen Wachstums der (real) Erkrankten beschrieben werden kann. Nebenei erlaubt ihr diese Doktrin und ihre düstere Aussichten, keine anderen Widersprüche erklären zu müssen; zum Beispiel das Ausbleiben ernster Folgen bei den letzten Demonstrationen.

Zahlen II: Parallel hat der Finanzminister die Ethik der künftigen Geldproduktion erklärt. Alle ökonomischen Maßnahmen seien in dieser Sicht dauerhaft gerechtfertigt, weil sie eben der Bekämpfung des Virus dienen. In diesem Bereich gibt es de facto und völlig unstrittig ein exponentielles Wachstum der Geldsummen. Ist hier schon das Ende der Debatte erreicht?

#114 Verdacht
Der „Spiegel“ berichtet fleißig über die vorhandenen Widersprüche der Verschwörungstheoretiker. Die Logik ist klar: Schaut, wie irrational diese Leute sind, während wir die Stimme der Aufklärung präsentieren! Auf der Onlineseite berichtet das Magazin heute über „einen“ (!) jungen Kranken mit der Überschrift: „Kann Corona bei jungen Menschen Diabetes auslösen?“

Der Effekt ist kalkuliert. Selbstverständlich macht man sich jetzt  – hat man beispielsweise Kinder – Sorgen. Zumal der abgebildete Arzt äußerst sympathisch präsentiert wird. Die reine Möglichkeit, die auf einem Fall basierende These, dass die Jugend gefährdet sei, könnte der Pandemie die (gewünschte?) apokalyptische Pointe verleihen.

Kurz bevor das notwendige Bezahl-Abo am Weiterlesen hindert, klingt der schöne Satz an: „Da kam für uns der Corona-Verdacht ins Spiel.“ Genau, ein Spiel. Diese Art der Berichterstattung fördert keine bösen Verschwörungstheorien, sondern eine andere Art der Theorie des Möglichen. Sie steht für den ökonomisch motivierten Rationalismus dieser Zeit, der aus jeder Gefahr für die und der Angst der Menschen ein Geschäft macht.

Medien mögen dieses Phänomen als zulässige „Zuspitzung“ rechtfertigen. Es bleibt aber der üble Nachgeschmack.

#113 Spannungsbogen
Unabhängig von der politischen Position ermöglicht die aktuelle Medienlandschaft passende Projektionen auf die, jeweils der eigenen Meinung entgegengesetzten Bilder von Persönlichkeiten wie Trump, Erdogan oder Putin. Phänomenologisch betrachtet, sieht man hinter dem tagespolitischen Streit die Konturen grundsätzlich verschiedener gesellschaftlicher Ansätze.

Auf der einen Seite ein Zug hin zum Kollektivismus, der dem Menschen als einziger Ausweg aus Klimakrise oder Pandemie erscheint. Auf der anderen ein Hang zur Bewahrung der Individualität, die Bindung an alte Narrative oder Traditionen. Die Gestalt des Islam scheint mir, einen Mittelweg zu ermöglichen.

Ich sehe durchaus die Bereitschaft zur evolutionären Anpassung an eine neue Welt, aber auch einen typisch konservativen Vorbehalt gegenüber den Segnungen des technologischen Fortschritts unserer Zeit sowie Skepsis gegenüber der Schaffung eines vollkommenen neuen Menschenbildes – bis hin zur Ablehnung revolutionärer Tendenzen.

#112 Säulen
Haben wir uns an die Pandemie und ihre Folgen gewöhnt? Inzwischen stellen diverse Medien fest, dass die Geschäftsgrundlage für die staatlichen Notverordnungen, die im Frühjahr notwendig waren, inzwischen neu justiert und neu erklärt werden müssen.

Das herausragende Ziel zur Verhinderung einer Überlastung des Gesundheitssystems erscheint heute in einem anderen Licht. Diverse Eingriffe in unsere Grundrechte müssten längst durch die Politik neu begründet werden. Auffallend ist das Schweigen von Gewerkschaften und Unternehmerverbände; zwei wichtigen Säulen der Zivilgesellschaft, die sich hier lautstark einmischen müssten.

#111 Nachbarn
Soeben las ich einen Beitrag, der mich interessierte und zu einem Nachtrag #109 anregt. Das Argument, über das ich gerade nachdenke, lautet ungefähr so: Man dürfe sich nicht wundern, dass viele TeilnehmerInnen der Berliner Demos wie normale Menschen aussähen.

Die Erfahrung zeige, dass im Alltag sich auch „normal“ aussehende Menschen plötzlich – in Wort oder Tat – als Rassisten offenbaren könnten. Es könnten auch die „netten“ Nachbarn von nebenan sein.

Zunächst schien mir die Logik schlüssig. Aber dann musste ich an einen alten Grundsatz christlicher Ethik denken: Liebe Deinen Nachbarn wie dich selbst! Die hier grob zitierte Argumentation (ich betone dies, weil der Autor das Thema auf Nachfrage sicher komplexer begründen würde) hatte plötzlich einen Haken: Heißt das, man solle jedem „Nachbarn“ eher misstrauisch gegenübertreten, weil er ja potentiell Rassist sein könnte?

Ist es nicht so, dass sich jeder generell nur zeigt (also Subjekt ist und nicht das Objekt einer Beschreibung), wenn er handelt, spricht oder tätig ist? Die Vermischung zwischen der Angst vor Pandemie und der Angst vor Rechtsradikalismus zeigt sich hier als neue gesellschaftliche Realität. Jeder Nachbar ist potentiell verdächtig, er könnte Virenträger oder vom Radikalismus befallen sein.

Schlimmstenfalls sogar, bevor er überhaupt spricht, handelt oder tätig ist. Ist die Ethik und Normalität, unsere Nachbarn zunächst einmal ohne Vorbehalte zu lieben und in ihnen keine Gefahr zu sehen, bedroht?

#110 Nachdenken
Nicht, dass mich das Tragen der Maske sonderlich juckt. Nur, dass Proteste in Berlin nur noch mit Maske erlaubt sein sollen, ohne dass irgendeine Demo bisher mehr Infektionen verursacht hätte, zeigt: …auch wer das Querdenken ablehnt, sollte das Nachdenken nicht einstellen.

#109 Vermischung
Die Bewertung des Berliner Spektakels ist leicht zusammenzufassen: Die Angst vor dem Virus vermischt sich zunehmend mit der Angst vor dem Rechtsradikalismus. Auf der Strecke bleibt das eigentliche Anliegen vieler TeilnehmerInnen, die Verhältnismäßigkeit der staatlichen Maßnahmen in Zeiten der Pandemie zu kritisieren.

Ich kann nachvollziehen, dass eine große Mehrheit kein Interesse mehr an der inhaltlichen Auseinandersetzung zeigt, da die Nähe des Widerstandes zu extremen Figuren – ob gewollt oder nicht – nicht mehr zu übersehen ist.

Die Folge für all diejenigen, denen es um eine sachliche Diskussion über die Widersprüche der Pandemiebekämpfung geht, beschreibt der Schauspieler Jan Liefers treffend: „Jeder, der seine Zweifel an den staatlichen Corona-Maßnahmen äußert, wird sofort in Ecken geschubst.“

Insbesondere wir Muslime, die für unsere Anliegen öffentlich eintreten, sollten unabhängig von unserer Position zur aktuellen Gesundheitspolitik das Treiben mit Sorge beobachten. Die Kraft der Assoziationsketten, der pauschalen Zuschreibungen und der einseitigen Berichterstattung kennen wir ziemlich gut.

#108 Bilder
Wir leben in einer Zeit der Bilder und ihrer Reproduzierbarkeit.

Jede Überzeugung produziert ihre eigenen Bilder und verbreitet sie im Geflecht der sozialen Medien. Die Sprache selbst, die eigentlich der Rede über den Inhalt von Überzeugungen dient und Teil unserer symbolischen Ordnung ist, wird immer öfter bildhaft.

Das Bild, das wir uns entweder selbst zeichnen oder das wir über die Medien konsumieren, verbirgt häufig die Perspektive. Hieraus erklärt sich das Phänomen, dass einige Beobachter „einzelne“, „zehntausende“, oder „hunderttausende“ Bäume sehen oder beschreiben, wenn sie durch einen Wald gehen. Wir sind Künstler des Imaginären.

Das Bild der Berliner Proteste ist auch bestimmt von schockierenden Extremen und dem realen Durchbruch der Gewalt. Rechte Extremisten verdeutlichen, dass sie bereit sind, jeden Inhalt zu kapern, der der eigenen Machtsteigerung dienen könnte. Sie sind potentiell gefährlich, nicht nur für die Gesellschaft, sondern für den Inhalt selbst. Hier muss jede Bewegung nachdenken, die die Vernunft im Angebot hat.

Die Macht der Bilder geht mit einer Unschärfe der Begriffe einher.

Sie werden unbestimmter. Man hört signifikante Begriffe, die nur selten eindeutig sind und zu denen sich simple Bilder gesellen. Man überhört gleichzeitig den notwendigen Streit um die Deutung, das Signifikat. Wie in einer, sich öffnenden Schere streben die Bedeutungen auseinander. Der Raum der Mitte zwischen den Spitzen wirkt leerer.

Das Bild der Schere erinnert an den kleinen Punkt in der Mitte. Dieser hält die Gestalt des Ganzen zusammen.

#107 Demonstrationsverbot
Nach Meinung des Bundesverfassungsgerichts ist das Demonstrationsrecht ein konstituierendes Element der Demokratie. Naturgemäß ist der Protest auf der Straße im Besonderen für Minderheiten ein elementares Grundrecht. Das Verbot Proteste werden nun Gerichte im Eilverfahren auf ihre Verfassungsmäßigkeit prüfen müssen.

Aus politischer Perspektive kann man angesichts dieses Spektakels nur den Kopf schütteln.

Bestenfalls konnte man zu Beginn den Organisatoren noch Naivität bescheinigen, wenn sie wirklich glaubten, dass die Querfront mit rechten Populisten und abgefahrenen Verschwörungstheoretikern dem Kern ihres Anliegens nicht schade, das sich ja um Kritik an der Verhältnismäßigkeit der staatlichen Pandemie-Bekämpfung drehen sollte. Ist es aber nun so, dass sie die Strategie die Unterwanderung von Rechts sogar offen akzeptieren, dann haben sich die Regisseure der Demonstrationen endgültig disqualifiziert. Es geht dann nicht mehr um „Corona“, sondern um eine grundsätzlich andere Gesellschaft.

Freuen werden sich hingegen die Kräfte, denen es eben um die Verdrängung und Marginalisierung der Kritik an sich geht.

In den letzten Wochen hat sich die Sprache längst langsam in Richtung einer Blockbildung bewegt. Die Gegensätze werden zunehmend unversöhnlich präsentiert: Kritik an der Corona-Strategie wurde als generelle Corona-Leugnung umdefiniert. Damit verfestigt sich ein Glaubenskampf der vermeintlichen Rationalität, die sich gegen angebliche Irrationalität verteidigen muss. Vorgetragene Argumente und Vorbehalte gegen die Maskenpflicht wurden – zumindest schleichend – mit Asozialität und Kriminalität assoziiert.

Jetzt droht gar das Ende jeder Debatte. Nämlich dann, wenn Kritik an den Maßnahmen oder Zweifel an der Risikoeinschätzung per se als „rechts“ oder „undemokratisch“ eingestuft werden. Inmitten einer der größten Krisen der Nachkriegsgeschichte gäbe es dann keine echte Diskussion mehr über den richtigen Weg.

#106 Hanau

„Wir verlieren auf Dauer Glaubwürdigkeit und jedes Vertrauen der Angehörigen der Opfer, wenn Corona-Leugner ohne Masken und Abstand aufmarschieren, Corona-Partys stattfinden, S-Bahnen aus allen Nähten platzen, aber die Gedenkdemo von #Hanau abgesagt wird.“ Helge Lindh, Twitter

#105 Heine

Heinrich Heines Anspruch war es, möglichst „parteilos“ das Verständnis der Gegenwart zu befördern. Auch in einem Bericht aus Paris von 1832 bleibt der Dichter seiner Maxime treu. „Heine“, stellte Ludwig Marcuse fest, „war immer zwischen den Parteien“.

Es ist die Zeit der Cholera und Heine hat nicht wie viele Reiche die Stadt einfach verlassen, sondern beschreibt emotionslos die Abgründe dieser Zeit. Ähnlich wie heute sind die Meinungen über die Lage gespalten. Heine schreibt zum Problem der Erkenntnis in Zeiten der Polarisierung: „Daher Dir einseitigen Irrtümer, denen man nicht entgehen kann, wem man der einen oder der andren Partei nahesteht, jede täuscht uns, ohne es zu wollen, und wir vertrauen am liebsten unseren gleichgesinnten Freunden.“

Fake News nannte man damals bloß Gerüchte. Heine schildert die Folgen der absurden Theorie, die Cholera sei durch ein Gift verteilt worden. Einige unschuldige Bürger werden darauf Opfer des Volkszorns. Darüber hinaus „hat jeder seinen Glauben in dieser Zeit der Not“. Katholiken rufen ihren Gott an, Säkularisten fürchten dagegen, dass die „Krankheitsreligion“ andauern könnte. Die Partei der Fortschrittsgläubigen, die Saint-Simonisten, sind überzeugt, dass allein ihre geistige Haltung sie retten werde.

Heinrich Heine hat auch einen zeitlosen Rat anzubieten: „Angst ist bei Gefahren das Gefährlichste.“

#104 Fliegender Teppich
Vor ein paar Jahren hat Gert Scobel ein Buch unter dem Titel verfasst: „Der fliegende Teppich. Eine Diagnose der Moderne.“ Der Philosoph entfaltet in seinem lesenswerten Text eine paradoxe Argumentation rund um die Metapher des fliegenden Teppichs. Denn das Bodenlose unserer Existenz und die komplexe Zahl aller möglichen Fälle zwinge uns alle, auf dem Teppich zu bleiben. Die Idee einer vollständig objektivierten Wirklichkeit sei eine Illusion.

„Es geht darum, zu wissen, dass an dem Prozeß der uns entscheiden dabei hilft, auf die Beine zu kommen und uns im Alltagsleben zu erheben, notwendig Fiktionen beteiligt sind.“

Scobel sieht den Ausweg in einem „fiktiven Realismus“; einer Haltung, die sich stets bewusst ist, dass die eigene Positionierung notwendigerweise fiktive Elemente in sich trägt – völlig unabhängig davon, ob wir einer Mehrheits- oder Mindermeinung folgen. Wallace Stevens verweist auf dieses Problem jeder Erkenntnis mit seiner berühmten Aussage: „Die erste Idee war nicht unsere eigene.“

In der Pandemie zeigt sich das Phänomen an einem einfachen Grundsatz der Erfahrung: Je überzeugter und ideologischer eine Meinung vorgetragen wird, desto häufiger sind fiktive Elemente in die Rede integriert. Der fliegende Teppich entfernt sich einerseits schnell von jeder Bindung an eine Realität, andererseits sind wir immer darauf angewiesen, unsere Vorstellung von Realität mit einer Fiktion zu verknüpfen.

Natürlich erkennen wir das Phänomen des fliegenden Teppichs auch in der Politik. Um ein Beispiel zu nennen, Bayerns Ministerpräsident Söder ist ein Meister des Fachs. Unter dem Eindruck guter, persönlicher Umfragewerte ist seine Rede an die Landeskinder mit fiktiven und realen Elementen durchsetzt. Das Credo ist einfach: Bis die „heimtückische“ Pandemie überwunden ist und im Rahmen seiner Fiktion der möglichen Folgen, deren Gehalt er von Dritten übernimmt, soll sich das Land hinter ihm versammeln. Möglichst ohne jeden politischen Streit und ohne reale Kritik.

#103 Kinder
Die Gesellschaft muss diskutieren, wo genau die ethischen Grenzen der Pandemiebekämpfung verlaufen.

Den Kinderschutzbund erreichen aktuell Berichte, wonach Gesundheitsämter die Isolierung von unter Corona-Verdacht stehenden Kindern im eigenen Haushalt anordnen. Auch sehr junge Kinder sollen demnach getrennt vom Rest der Familie in ihrem eigenen Zimmer aufhalten. In mindestens einem Fall, der dem Kinderschutzbund offensichtlich vorliegt, wurde der Familie bei Zuwiderhandlung mit der Herausnahme aus der Familie des 8-jährigen Kindes gedroht.

Die Erklärung des des Präsidenten der Vereinigung:

„Die Situation der Quarantäne ist für Familien, insbesondere für Kinder ohnehin sehr belastend. Kinder in dieser Phase von ihren Eltern und Geschwistern zu isolieren, ist eine Form psychischer Gewalt. Der Kinderschutzbund empfindet diese Maßnahmen als unverhältnismäßig und nicht hinnehmbar. Die Drohung mit dem scharfen Schwert der Herausnahme und Unterbringung auf einer Isolierstation, verunsichert zudem Familien nachhaltig. Ganz sicher müssen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie getroffen werden. Dies lässt sich aber auch regeln, indem man den gesamten Haushalt oder doch zumindest noch ein sorgeberechtigtes Elternteil in die Quarantäne-Maßnahmen einbezieht.“ Heinz Hilgers, Kinderschutzbund

#102 Mehrheit = Wahrheit?
Im Moment baut sich eine simplizistische Dialektik auf. Befürworter und Gegner streiten nicht mehr miteinander, sondern der Fokus richtet sich auf die extremen Elemente der sogenannten Corona-Leugner. Die Konzentration auf die „Irrationalität“ dieser Figuren ermöglicht einen bequemen Umkehrschluss: Rational, verantwortungsvoll und demokratisch handeln immer nur die Befürworter.

Ist es so einfach?

Bei der Berliner Demonstration, um ein Beispiel zu nennen, waren zehntausende Demonstranten – darunter zahlreiche Verschwörungstheoretiker und Extremisten. Wie erwartet wurde über diese dunkle Seite der Veranstaltung ausführlich berichtet. Nur gab es wirklich, wie einige Medien suggerieren, keinen einzigen Teilnehmer, der in der Lage gewesen wäre, seine Beweggründe ausreichend sachlich und nachvollziehbar zu erläutern?

In den letzten Wochen mehren sich Berichte über die Gewaltausbrüche von Gegnern der Maskenpflicht. Wer keine Masken tragen will, wird zunehmend als ein spezifischer Typus dargestellt. Die Deutung dieser Motivation als „asozial“ übernimmt zunehmend die Mehrheit, die diese Maßnahme befürwortet. Der Fall erinnert ein wenig an die Debatten zum Kopftuch. Auch hier wird die Handlung von der Mehrheit ausgedeutet, während die Gründe zum Tragen des Kopftuchs einigermaßen unterschiedlich sein können.

Es gibt zweifellos gute Gründe, die deutsche Gesundheitspolitik zu loben. Nur: Man kann auch auf der Seite der Guten übertreiben. Wer im Alltag mit Befürwortern der Gesundheitspolitik diskutiert, erlebt, wie bei jeder Pandemie in der Vergangenheit, auch „Hysterie“, die Bereitschaft auch autoritäre Maßnahmen zu befürworten oder eine Gleichgültigkeit gegenüber Grundrechtseingriffen präsent sind. Der Unterschied liegt hier auf der Hand: Die meisten Medien haben kein Interesse, über diese Extreme zu berichten.

Niemand wird ernsthaft bestreiten, dass die moderne Gesundheitspolitik, die sich im Feld von Kapitalinteressen, technologischer Innovation und Massenfürsorge bewegt, das Leben der Zukunft entscheidend prägen wird. Es ist wichtig, dass in einem fairen Verfahren auch kritische Stimmen Gehör finden. Irrational wäre es dagegen, zu behaupten, dass es überhaupt keine vernünftigen Gegenstimmen geben kann.

#101 Fragen
Die Debatten um den Einfluss von „Covidioten, Verschwörungstheoretikern und Rechte“ auf das öffentliche Meinungsbild prägen inzwischen die Debatten um den Widerstand gegen die Regierungsmaßnahmen im Rahmen der Pandemiebekämpfung.

Dabei geraten die eigentlichen Diskussionspunkte zunehmend in den Hintergrund. Natürlich ist es durchaus möglich, das Virus und seine Folgen ernst zu nehmen und dennoch kritische Fragen zu stellen. Hier einige Beispiele:

1. Objektive BerichterstattungNach wie vor stellt sich die Frage, ob die Berichterstattung tatsächlich objektiv ist. Kritische Berichte werden seltener und eine Diskussion zwischen Wissenschaftlern mit unterschiedlicher Meinung findet in den öffentlich-rechtlichen Medien kaum statt. Dadurch ist – zumindest für ein Teil der Bevölkerung – ein Bild uniformer Berichterstattung entstanden.

2. VerhältnismäßigkeitEs ist strittig, ob alle Maßnahmen gleich sinnvoll und gleich wirksam sind oder waren.

– Eine kritische Nachbetrachtung der bisherigen Maßnahmen hinsichtlicher ihrer Verhältnismäßigkeit, Effizienz und Wirkung dürfte eigentlich selbstverständlich sein.

– Es ist eine Unterstellung, dass Kritik an den staatlichen Maßnahmen mit einer Leugnung der Gefährlichkeit des Virus einhergehen muss. Nur eine sehr kleine Minderheit will überhaupt keine staatlichen Maßnahmen in diesem Zusammenhang.

– Inzwischen wurden diverse Verordnungen von Gerichten wegen ihrer mangelnden Verhältnismäßigkeit aufgehoben. Es ist zu begrüßen, dass deutsche Gerichte in massiven Grundrechtseingriffen keine neue Normalität sehen.

– Maßnahmen wie die „Maskenpflicht“ sind in ihrer Effizienz umstritten. Zudem kann man diese Maßnahmen aus grundsätzlichen rechtlichen und ethischen Erwägungen in Frage stellen. Die sachliche Kritik an der Maskenpflicht mit einer „asozialen Haltung“ gleichzusetzen, ist daher eine bedenkliche Verkürzung der Problematik.

– Es gibt kaum Aufklärung über die sich abzeichnenden Kollateralschäden (verschobene Operationen, Selbstmordraten, häusliche Gewalt usw.) der staatlichen Maßnahmen. Diese Daten und Statistiken sind Teil eines rationalen Abwägungsprozesses.

– Es ist legitim, die aktuelle Gesundheitspolitik auf ihre künftigen und langfristigen Entwicklungen hin zu befragen. Die Tendenz zu einer de facto Einführung von Immumnitätsausweisen durch private Akteure ist ebenso strittig.

3. Die zweite Welle– Seit Monaten wird befürchtet, dass diverse Demonstrationen (Stuttgart, Raver-Party, BlackLiveMatters, Berlin) eine neue Welt von Infektionen auslösen könnten. Es ist legitim, zu fragen, warum dies bisher nicht passiert ist.

– Der Zusammenhang des Umfangs von Testergebnissen, Fehlerquoten und dadurch erhöhten Infektionszahlen ist nicht vollständig aufgeklärt. Die Angst vor dieser (vermuteten) 2. Welle ist gleichzeitig omnipräsent und politisch wirksam.

– Die psychologische Wirkung permanenter Angst bleibt im Kontext der öffentlichen Meinungsfindung und der politischen Entscheidungsprozesse ein grundsätzliches Problem.

4. StudienPraktisch täglich werden neue Studien veröffentlicht, die aber kaum gelesen werden und deren Auftraggeber dahinter meist nicht genannt werden. Die Idee, dass die Wissenschaft immer unabhängig, neutral und objektiv ist, lässt zumindest Fragen offen.

5. Wirtschaftliche FolgenDie wirtschaftlichen Folgen der Pandemie unter den Rahmenbedingungen der ungelösten Finanzkrise lassen die Theorie zu, dass die Pandemie unter anderem auch von systematischer Verantwortung in diesem Feld ablenken soll.

#100 Idioten
Ich habe mir gestern und heute auf verschiedenen Kanälen die Berichterstattung über die Berliner Demonstration angeschaut. Die angebotenen Perspektiven zeigen unter anderem „Spinner, Verrückte und rechte Gesinnungsdemonstranten“, offensichtliche Rechtsbrüche – bis hin zur Verweigerung der Maskenpflicht. Ob es nach dieser Massenveranstaltung wirklich zu massenhaften Infektionen kommt, wie bereits bei anderen Demos in der Vergangenheit befürchtet, wird sich erweisen müssen. Zweifellos tragen die Veranstalter hier die Verantwortung.

Irritierend fand ich bei der objektiven (?) Berichterstattung die Untertreibung der Teilnehmerzahlen. Oder waren das wirklich „nur“ 17.000 Demonstranten? Bezeichnend ist, dass sich nicht einmal bei dieser einfachen mathematischen Frage ein Konsens herstellen lässt.

Schade ist, dass die nötige gesellschaftliche Debatte über Sinn und Zweck aktueller und künftiger Maßnahmen gegen die Pandemie zunehmend politisiert wird. Die Maske wird zum Symbol einer grundsätzlichen politischen Haltung. Die Kritik an der Maskenpflicht wird dabei von der Mehrheit als eine grundsätzlich fragwürdige Gesinnung ausgedeutet. Ob gegenseitige Beschimpfungen den gesellschaftlichen Frieden fördern?

#99 ‘Eid
Jeder der ein gemeinsames Gebet organisiert wird wohl diese Erkenntnis nachvollziehen können: Es bleibt ein merkwürdiges Gefühl, Muslime darauf hinzuweisen, sich bitte nicht die Hände zu schütteln, Abstand zu halten oder eine Maske zu tragen. Rein äußerlich betrachtet, wirken einige Szenen eher surreal. Dennoch bleibt das ‘Eid-Gebet eine wunderbare Erfahrung und im Innenleben weicht die Distanz der Freude über die Gesundheit der Gemeinschaft.

Die direkte Begegnung ist und bleibt der Kern unseres Zusammenlebens. Vielleicht wäre dies eine Botschaft dieser Tage: Niemand sollte ein endgültiges Urteil über andere fassen, bevor er zumindest einmal das direkte Gespräch gesucht hat. Wenn zwei Muslime sich treffen, wirkt auch immer das dritte Element. Versöhnung statt Streit bleibt so immer im Bereich des Möglichen…

#98 Wellen
Es ist wie beim Schwimmen: Kämpft man lange Zeit gegen die Wellen an, stellt sich Übermüdung ein. Jeder Rettungsring ist dann willkommen.

Am Horizont baut sich eine 2. Welle neuer Infektionen auf, deren imaginärer oder realer Wirklichkeitsgehalt strittig ist. Man schaut gebannt in die Glaskugel, in der die alltäglichen Prophezeiungen erscheinen. Die Reaktionen schwanken dabei zwischen Phantasien, die einen Tsunami erkennen und schlichter Verdrängung, die das Vorhersagen inzwischen einfach ignoriert.

Gleichzeitig werden immer neue spektakuläre „Rettungsmaßnamen“ diskutiert, deren Wesensgehalt nur eine Gemeinsamkeit hat: die Einschränkungen von Grundrechten, als eine neue Normalität.

In den Medien muss man genau lesen, um Relativierungen oder kritische Einordnungen der Gefahren zu entdecken. In der „BILD“ findet sich ausnahmsweise eine rationale Einordnung:

„Fakt ist, dass die gestiegenen Fallzahlen wohl nicht nur auf die Lockerung der Maßnahmen zurückgehen. Es wird auch schlichtweg mehr getestet: Die Zahl der bundesweit durchgeführten Corona-Tests stieg von ca. 384 000 pro Woche Mitte Juni (KW 25) auf über 530 000 Mitte Juli (KW 29).“

Darüber hinaus streiten die Wissenschaftler über die Relevanz der Fehlerquote und die Aussagekraft der Tests überhaupt.

#97 Fatum
In diesen Tagen löst sich die Illusion, dass die Pandemie sich in einigen Monaten selbst erledigen könnte, langsam in Luft auf. Die leidenschaftlichen Debatten um die Logik und den Sinn einzelner staatlicher Maßnahmen sind einer gewissen Ermüdung gewichen – in Form von verfestigten Positionen, die sich sprachlos gegenüberstehen.

Das vielleicht spannendste Thema, ob die Krise, die man mit anderen Herausforderungen unserer Zeit zusammen denken muss, vielleicht einen neuen Anfang begünstigen könnte, hat ebenso an Schwung verloren. In diesem Kontext muss man die „historische“ EU-Strategie einordnen, die gemeinsame Lasten simpel mit mehr gemeinsamen Schulden zu begegnen.

Große Imperien, so lernt man aus der Geschichte, scheitern in ihrem Expansions- und Wachstumsdrang nicht nur an menschlichem Unvermögen, sondern zusätzlich an den Rahmenbedingungen der Schöpfung selbst. In seinem Buch „Fatum“ versucht Kyle Harper, aufzuzeigen, dass der Untergang des Römischen Reiches sich unter anderem aus den Folgen von Klimakatastrophen und Epidemien erklärt. So schreibt er:

„Das Schicksal Roms kann uns daran erinnern, dass die Natur raffiniert und unberechenbar ist. Die ungeheuere Macht der Evolution vermag die Welt in einem einzigen Augenblick zu verändern. Überraschung und Paradox lauern hinter dem Fortschritt.“

Während heute viele Narrative der Vergangenheit verdächtig geworden sind, sucht der Mensch nach einem zeitgemäßen Konzept der Mäßigung. Die Aussicht, hier keine Lösung zu finden, ist dabei in ihrer Wirkung – geistig gesehen – fataler, als der andauernden Möglichkeit einer Erkrankung und dem Faktum der Sterblichkeit ins Auge zu sehen. Paolo Giordano, ein italienischer Physiker und Autor, fasst diese Not, schon im Frühjahr, in seinen Corona-Reflexionen „In Zeiten der Ansteckung“ zusammen:

„Ich habe keine Angst davor, zu erkranken. Wovor dann? Vor all dem was die Ansteckung verändern kann. Davor zu entdecken, dass das Gerüst der Zivilisation, so wie ich sie kenne, ein Kartenhaus ist.“

#96 Europa
In den letzten Wochen hatte ich die Gelegenheit auf einer kleinen Europareise die Folgen der Pandemie in Italien, Spanien, Frankreich und der Schweiz zu erleben. Die Maske war dabei das unübersehbare Symbol der sogenannten neuen Normalität. Meinem Eindruck nach war vor allem in Oberitalien das Leben noch spürbar geprägt von dem Schock der letzten Monate. Auf einem Rundgang durch Turin wollte die bekannte Italien-Stimmung nicht richtig aufkommen.

In Frankreich war das Leben dagegen nahezu normal. Die leidige Maskenpflicht wurde außer in Hotels recht locker gehandhabt. Vielleicht ist das ein Hinweis auf die französische Mentalität, staatliche Eingriffe in die Alltäglichkeit eher kritisch zu bewerten. Die Liegen am Mittelmeer stehen nach wie vor eng; ein einfacher Umstand, den man als Experte für soziale Distanz, die wir heute ja alle sind, eher staunend zur Kenntnis nimmt.

Auffallend war die Zurückhaltung der deutschen Touristen zu einem Besuch des Landes. Eine Stadt wie Arles, die in der Hochsaison hoffnungslos überlaufen ist, wird man wohl kaum noch einmal mit so wenig Touristen genießbar sein werden. Die Flaute wird in an diesen Orten genutzt, um die absurden Seiten des Massentourismus kritischer zu hinterfragen. Im Baskenland berichtete mir später ein Freund, der sich der Bienenzucht widmet, dass die Produktion seiner Bienen spürbar gestiegen ist; wohl auch, weil sich die Luftqualität spürbar verbessert hat.

Zurück in Süddeutschland fällt mir auf, wie sich in Deutschland die berühmte Bürokratie durchgesetzt hat. Das Procedere in den Cafés, die Registrierung der Daten, freundliche Hinweise auf eine nötige Desinfizierung des Gastes, ist bereits gut eingeübt und wirkt im Vergleich zum restlichen Europa eher kleinlich. Mit gemischten Gefühlen erlebt man die angewöhnte Distanz, die sich sogar in Begegnungen mit der Familie manifestiert.

In meinem Heimatdorf staune ich über eine andere bürokratische Maßnahme. In unserem kleinen, eher einsamen Tal besuche wie immer einen Lehrpfad, der an einem Bachlauf entlang führt. Ein großes Hinweisschild, in unverwechselbarem Amtsdeutsch gehalten, verweist nun auf die neue Lage: Man solle stets Abstand halten und den Weg nach dem „Einbahnstraßenprinzip“ ablaufen! Ich bin hier bisher noch nie jemandem begegnet. Aber „sicher ist sicher“ ist nun einmal das neue Prinzip. Die Wahrscheinlichkeit ,von einem Baum erschlagen zu werden, dürfte wohl höher sein, als ausgerechnet hier eine Corona-Infektion zu erleiden.

Mich erinnert dieses Phänomen an den Bestseller „Globalia“ von Jean Christophe Rufin. Der Schriftsteller wurde einmal gefragt, wie er auf das Thema seines großen Zukunftsromans gestoßen sei. Rufin berichtete damals von einer Trekking-Tour in Südafrika. An einer Kontrollstation in den Bergen sei er von einem Beamten nach seiner „Eintrittskarte“ gefragt worden. „Unser Gefühl der Freiheit ist bedroht“, sei ihm in diesem Moment klar geworden und habe ihn zu seinem Buch inspiriert.

#95 Geschichte
„Mit der Epidemie kehren die apokalyptischen Reiter zurück und ordnen alle Karten neu. Das ist kein Krieg, eher die Rückkehr der Geschichte, die wir versucht haben zu verdrängen.“ Jean Christophe Rufin , Lire Magazine

#94 Aix
Leider fällt heute ein Café au Lait im „Les Deux Garcons“ in Aix aus. Das berühmte Haus, in dem schon Cocteau, Camus oder Picasso ein Gläschen getrunken haben, ist leider abgebrannt.

In der Hauptstadt der Provence herrscht unter der Abendsonne eine ausgelassene Stimmung. An manchen Plätzen wirken die Kellner mit ihren Masken – die an den Gesundheitsschutz erinnern – auf fast schon hoffnungslosem Posten. Die meisten Franzosen sitzen eng gedrängt in den Straßencafés. Man hofft, dass alles gut geht und hier nicht später die Rechnung präsentiert wird.

Zum Glück gibt es ein paar schattige Plätzchen und die Möglichkeit das bunte Treiben mit einer gewissen Distanz zu beobachten. Im Gegensatz zu Italien wirkt das öffentliche Leben beinahe normal, nur in geschlossenen, öffentlichen Räumen wird man an die Maskenpflicht erinnert.

#93 Pedro
Andere Länder, neue Sitten. Bei einem Zwischenstopp am Comer See bestelle ich mir am Abend den ersehnten Cappuccino. Noch bevor ich aber das Zauberwort ganz aussprechen kann, hält mir der fröhliche Kellner – zu meiner Überraschung – bereits routiniert ein Fieberthermometer an die Stirn. Da es den ganzen Tag recht heiß war, schaue ich kurz gebannt auf das Ergebnis: Puh, alles in Ordnung.

Auf Nachfrage erklärt mir Pedro das Procedere. Bei einem falschen Ergebnis muss er die örtlichen Carabinieri holen. Das komme aber selten vor und vor Ort gebe es keine besonderen Infektionszahlen, erklärt er. Sein Geschäft läuft trotz der traumhaften Lage am See schlecht. Die gewohnten Urlaubsströme aus Alemannia sind ausgeblieben. Außerdem ist das um die Ecke liegende berühmte Feriendomizil Adenauers weiterhin geschlossen.

Das Fieberthermometer scheint eine besondere Maßnahme Pedros gewesen zu sein, denn auf der weiteren Reise serviert man mein Lieblingsgetränk stets ohne neue Messungen. Man spürt allerdings, dass das Land vom Virus beeindruckt ist. Überall werden die Abstandsregeln und die Maskenpflicht diszipliniert eingehalten. Kein Wunder: Noch vor einigen Wochen war hier der Ausnahmezustand und von einer endgültigen Entwarnung ist nichts zu spüren.

#92 Bürgerdialog
Politik: Wir müssen uns an die Regeln halten, um eine zweite Welle zu verhindern!

Bürger: Machen wir doch. Ist es unsere Aufgabe, Schlachtbetriebe zu überwachen?

#91 Alles fließt
Alles fließt. Dieses Wissen gilt auch für politische Positionierungen in der Krise, die oft eine kurze Halbwertzeit haben und letztlich nur Momentaufnahmen sind. Nach dem die SPD vor Kurzem unlängst Widerstand gegen die Einführung des Immunitätausweis geleistet hat, ist sie nun unter bestimmten Voraussetzungen eventuell doch zur Einführung eines Corona-Immunitätsausweises bereit.

Auf das Virus getestete Menschen hätten einen Anspruch auf einen solchen Nachweis, sagte die stellvertretende Fraktionschefin und Gesundheitspolitikerin Bärbel Bas der Neuen Osnabrücker Zeitung.

Ganz wohl ist es der Politikerin nicht, so schränkt sie immerhin ein. Eine Einführung dürfe nicht zu einer „Zwei-Klassen-Gesellschaft von Menschen mit Immunität und solchen ohne“ führen. Ob die schnellen Kurswechsel das Vertrauen in die Politik stärkt?

#90 Panik
Seit einigen Monaten bin ich daran interessiert, verschiedene Sichtweisen über die Folgen und das Ausmaß der Pandemie kennenzulernen. Dabei erinnert man sich immer wieder an die Einsicht Nietzsches, dass es für das Subjekt viele mögliche Perspektiven, aber keine absolute Wahrheit gibt. Ein kleines Buch von Slavoj Zizek („Panik!“) liefert, wie man es von dem Slowenen gewohnt ist, einige ungewöhnliche Anstöße.

Zizek beschreibt sich gerne selbst mit einem Paradox, er sei ein „christlicher Atheist“. Er sorgt sich daher durchaus mit dem Gefühl christlicher Nächstenliebe um das Schicksal der Weltgemeinschaft.

Gleichzeitig bestimmt ihn aber eine rein materialistische Sicht auf die Dinge. Das kleine Virus symbolisiert für ihn das nie vollkommen greifbare Reale dieser Welt, nichts mehr als eine Leerstelle, die für keinen Inhalt steht und den Menschen – so Zizek’s Position – daran erinnere, dass er selbst keine besondere Bedeutung beanspruchen könne.

Zizek nimmt das Pandemie-Ereignis als ein Anstoß über unsere Lage nachzudenken und nach politischen Alternativen zu suchen. Hierzu könnte gerade eine tiefere Form der Distanz verhelfen. Er schreibt über die inspirierenden Momente der Einsamkeit:  “Dead time – moments of withdrawal, of what old mystics called Gelassenheit, releasement – are crucial for the revitalization of our life experience.”

Die Situation ist aus Sicht des Philosophen ernst und die Pandemie lässt sich im Weltmaßstab nicht wie ein lästiger Schnupfen einfach abschütteln. Im Blick des Autors sind zusätzlich andere Viren, die sich schnell verbreiten: Verschwörungstheorien, Fake News und ein wachsender Rassismus. Europa sieht er gleich mehreren Krisen ausgesetzt: die Pandemie, die Wirtschaftskrise und an den Außengrenzen die ungelösten Konflikte in Syrien und Libyen.

Darüber hinaus fehlt es oft am Vertrauen der Bevölkerung gegenüber den Regierungen – eigentlich eine Notwendigkeit in Notzeiten, jetzt ein Zustand, der die Bewältigung der Krisen erschwert. Zizek kritisiert weniger die neuen Möglichkeiten der Überwachung, die von Denkern wie Foucault angeprangert worden sind und eine offensive Gesundheitspolitik weiter befördern könnte, sondern er sorgt sich in erster Linie um den Mangel an politischen Alternativen.

Ironischerweise sieht Zizek eine Handlungsoption in einer Renaissance des kommunistischen Denkens. Dabei meint er ausdrücklich nicht den Bürokratismus der alten Sowjetunion, sondern eine weltweite Koordination der Wirtschaft, die Stärkung internationaler Organisationen und eine globale Krisenpolitik.

Er präzisiert diesen provokanten Gedanken wie folgt: “Measures that appear to most of us today as ‘Communist’ will have to be considered on a global level: coordination of production and distribution will have to take place outside the coordinates of the market.”

Auch wenn der Signifikant „Kommunismus“ den Leser erschrecken mag: Tatsächlich gibt es bereits diese Tendenzen hin zu einer Planwirtschaft. Die Möglichkeit der Enteignung oder der staatlichen Übername von Schlüsselindustrien wird diskutiert. Internationale Geldpolitik bestimmt die ökonomischen Rahmenbedingungen. Überhaupt ist die dominante  Rolle des Staates in der Wirtschaft längst das akzeptierte Gebot der Stunde.

Zizek bleibt aber – bei aller Hoffnung auf die Weltvernunft – ein unverbesserlicher Pessimist. Zizek: “Hegel wrote that the only thing we can learn from history is that we can learn nothing from history, so I doubt the epidemic will make us any wiser.”

Wahrscheinlicher ist für Zizek, dass der globale Kapitalismus sich einer Reformation entzieht und den Mangel an Demokratie und Liberalität weiter nutzen wird:

“The most probable outcome of the epidemic is that a new barbarian capitalism will prevail, many old and weak people will be sacrificed and left to die, workers will have to accept a much lower standard of living, digital control of our lives will remain a permanent feature, class distinctions will increasingly become a matter of life and death.”

#89 Stimmen
„Die kritischen Stimmen zu den Einschränkungen der Grundrechte waren wichtig. Eine demokratische Gesellschaft, in der sich niemand regt, wenn demokratische Grundrechte angetastet werden, wäre keine.“ Bundeskanzlerin Angela Merkel

#88 Pragmatischer Blick
Der Virologe Streeck erläuterte bei Markus Lanz seinen „pragmatischen Blick“ auf die Pandemie. Im Grunde behandelt seine Argumentation die bekannte Erkenntnis, dass die Wahrheit in der Mitte zu suchen sei. In seiner nüchternen Betrachtung befördert er so weder eine dauerhafte Panikmache noch die Bagatellisierung der Gefahrenlage. Die Regierung habe wegen der Ungewissheit über den Pandemieverlauf – verständlicherweise – zunächst zu rigorosen Maßnahmen gegriffen, die man heute nach Sicht des Virologen im Rückblick immer wieder neu und differenziert betrachten müsse.

Der Lernprozess, den Streeck eindrucksvoll aus wissenschaftlicher Sicht beschreibt, erinnert an eine zeitlose Feststellung Goethes: „die Natur ist kein System“. Goethe war skeptisch, ob der Mensch die Dynamik natürlicher Vorgänge jemals vollständig beherrschen oder beschreiben könnte.

Dieser logische Einwand zeigt sich unter anderem an den statistischen Modellen. Die Furcht vor dem exponentiellen Wachstum des Virus lässt sich rechnerisch im Gegensatz zu Zinsmodellen wegen der unzähligen Variablen in der Gleichung nur schwer darstellen.

Das Virus verbreitet sich jenseits derartiger systemischer Vorstellungen, sondern das Wachstum hängt von Temperatur, Ort und anderen Verhältnissen der Ausbreitung zusammen. Streeck zeigt diese Zusammenhänge am Beispiel des Phänomens, dass 10 Prozent der Infizierten für 80 Prozent der Infektionszahlen verantwortlich sind, oder ob Ausbreitungsereignisse in geschlossenen Räumen oder im Freien stattfinden.

#87 App
Folgt man den Erklärungen des Gesundheitsminister Jens Spahn, ist heute ein großer Tag für die allgemeine Gesundheitsvorsorge. Jeder kann mitmachen und als smarter Agent des Gesundheitsschutzes die Verbreitung des Virus bekämpfen. Im Gegensatz zu anderen Maßnahmen in der Pandemie-Bekämpfung ist das Herunterladen der App – wie ausdrücklich betont wird – freiwillig. Allerdings gibt es kein spezielles Gesetz, das die Rahmenbedingungen der Nutzung dauerhaft festlegt.

In den sozialen Netzwerken taucht die Frage auf: Lädst Du die App runter? Wie immer die Antwort ausfällt, sie wird wohl nebenbei zu einer symbolischen Erklärung aufgeladen werden, wie man überhaupt zu den staatlichen Maßnahmen steht und zu einer Art Abstimmung geraten, ob man die diversen Innovationen, die wir seit Monaten erleben, für richtig oder falsch hält. Neben dem sozialen Experiment tritt eine Art Volksabstimmung über das Regierungshandeln an sich, auf der Basis – wie man nicht vergessen sollte, der verbreiteten Angst gegenüber den Folgen eines Virus.

Dorothee Bär erklärte heute bei „BILD LIVE“: Für den App-Erfolg benötige es KEINE 60-prozentige Beteiligung der Bundesbürger. Bei einer so hohen Beteiligung bräuchte es nämlich „keine einzige andere Maßnahme“ zur Eindämmung des Corona-Virus. In Deutschland sei die App hingegen „nur ein Baustein“.

In dem Erklärungsmodell klingt eine Logik an, die es genau zu analysieren gilt. Die Frage: Wäre es nicht wunderbar und daher verführerisch, wenn alle die App benutzen würden und damit KEINE anderen Maßnahmen mehr nötig wären? Wir könnten dann als App-Nutzer an vielen grünen Ampeln einfach vorbeilaufen: ins Restaurant, ins Flugzeug, ins Stadion, wohin auch immer. In diesem Falle wäre eigentlich die Forderung nach einer Pflicht für die App folgerichtig. Sie käme nicht von der Regierung, sondern von der Bevölkerung selbst. Wir wollen dann selbst ganz im Sinne des erhabenen Ziels der Gesundheitsfürsorge, dass alle mitmachen alle zu überwachen.

In diesem Kontext warnte Verbraucherschützer Klaus Müller (vzbv) vor einem schleichenden Zwang zur Nutzung der App: „Es darf nicht sein, dass Arbeitgeber, Restaurants oder staatliche Behörden die App-Nutzung als Zutritts-Voraussetzung definieren und damit die Freiwilligkeit schleichend zum Zwang machen.“

Wie wird das App-Experiment langfristig verlaufen? Hierzu braucht es eine Art der Imagination, die die politische Lage, die technologische Entwicklung und insbesondere die Dynamik künftiger Pandemien zusammenfasst. Hier sind der Phantasie über eine neue Normalität keine Grenzen gesetzt. Fakt ist: Mit der neuen App werden wir bereits für neue Möglichkeiten vorbereitet und eingeübt. Und,sind Vorbehalte einiger weniger Nörgler gegenüber dieser technischen Innovation nicht antiquiert, da wir ja schon längst freiwillig unsere Daten abliefern?

Gibt es ein Recht auf Misstrauen gegenüber dem Staat?

Im Grunde sind unsere Grundrechte ein Indiz, dass derartige Sorgen grundsätzlich berechtigt sind. Ja, wenn auch nur am Horizont, tauchen neue Perspektiven der Apps auf. Wollten wir nicht alle schon längst wissen, welche Bösewichte sich wann, wo und mit wem treffen? Die Möglichkeiten für Geheimdienste und Strafverfolgungsbehörden sind hier atemberaubend. Ob uns diese Aussichten vom Ladevorgang, der offiziell als harmlos erklärten App, abhält oder nicht, ist eine Abwägung, die letztlich jeder für sich treffen muss.

#86 Wuhan

„Wenn das Staubkorn einer Epoche auf das Haupt eines Menschen fällt, wird es zum Berg“, schreibt die chinesische Schriftstellerin Fang Fang.

Die aus Wuhan stammende Autorin sieht in diesem Satz keine Prophezeiung, sondern eine zu allen Zeiten gültige Tatsache. In ihrem Tagebuch aus einer gesperrten Stadt erzählt sie von Verzweiflung, Einsamkeit und dem Kampf gegen einen unsichtbaren Feind, der inzwischen die ganze Welt beschäftigt. „In der Katastrophe gibt es kein friedliches Leben voll innerer Ruhe, es gibt nur das Sein zum Tode, von der der deutsche Philosoph Martin Heidegger spricht“, schreibt sie.

Das Buch ist nicht nur ein beeindruckendes Zeitdokument. Es gibt dem Leser die Gelegenheit, die gesellschaftliche Realität Chinas besser zu verstehen. Neben der Beschreibung der Selbstverständlichkeiten des Alltages in Wuhan erzählt Fang intensiv vom Kampf des Überlebens, dem Schicksal ihrer Landsleute und derer verzweifelten Lage zwischen dem heroischen Einsatz der Ärzte und der Ignoranz der Funktionäre.

Fang nimmt kein Blatt vor den Mund. Jeder neue Eintrag droht, von Netzzensoren gelöscht zu werden oder von ihren Feinden gegen sie instrumentalisiert zu werden. „Das Virus überträgt sich nicht von Mensch zu Mensch“ und „das Virus ist kontrollierbar und eindämmbar“ war zunächst die offizielle Version der Regierung. Im Tagebuch taucht dieses Erklärungsmodell wiederholt auf und drängt die Schriftstellerin schließlich zu einer Anklage, die, wie man schnell begreift, einigen Mut erfordert:

„Beim Ausbruch der Epidemie, von der anfänglichen Ausbreitung bis zur jetzigen Situation haben wir die Situation zuerst falsch eingeschätzt, dann verschleppt und schließlich falsch gehandelt.“

Die Forderung Fangs nach Sichtung der Verantwortlichen und Konsequenzen wird allerdings folgenlos bleiben. Im Gegenteil, die Wuhaner Führung wird später verlangen, dass die Bevölkerung gegenüber Partei und Staat Dankbarkeit demonstriert.

Interessant sind zusätzlich andere Debatten, die das Tagebuch aufgreift und die inzwischen weltweit diskutiert werden. So schildert sie den Streit in der Gesellschaft, ob das unberechenbare „Halunkenvirus“ nicht nur mit der Schuldmedizin, sondern auch mit der traditionellen chinesischen Medizin effektiv bekämpft werden könnte. Sie berichtet darüber hinaus von zahlreichen Verschwörungstheorien, die sich in Wuhan verbreiten. Der Wissenschaftler Wang Timing bringt das Problem aus ihrer Sicht auf den Punkt:

„Als Wissenschaftler habe ich den Eindruck, dass die Verbreitung von Verschwörungstheorien bald zur Normalität unserer Welt gehören wird. Die moderne Welt wird immer komplexer, die Erkenntnisse von Wissenschaft und Technologie entfernen sich immer mehr vom Allgemeinwissen.“

Das Phänomen der Überwachung, das inzwischen in China zur Vollkommenheit strebt, berührt sie in ihrem Tagebuch dagegen nur am Rande. „Das Leben von neun Millionen Menschen ist wichtiger als die Privatsphäre“, fasst sie hier eher lapidar die Situation zusammen.

Das Tagebuch ist zweifellos eine einmalige Gelegenheit, das Leben in Wuhan unter den Bedingungen des Ausnahmezustands zu verstehen. Neben den Besonderheiten Chinas beschreibt sie alle menschlich-allzumenschlichen Fragen, die die Intelligenz auf dem Globus heute beschäftigt.

#85 Medien
Nach Monaten der Pandemie-Berichterstattung ist das Publikum leicht ermüdet und die meisten Menschen haben sich längst auf eine Meinung festgelegt. Wer nachhaltiges Interesse an dem Thema hat, sollte aber gerade jetzt das Geschehen aufmerksam verfolgen. So wird es zum Beispiel interessant sein, die Entwicklungen der Infektionszahlen nach den Demonstrationen gegen den Rassismus zu beobachten.

Die Positionierung der Medien ist ebenso spannend.

Gestern hat der anerkannte Virologe Streeck in einem Interview mit der NOZ daran erinnert, dass sich zu Beginn der Krise alle Virologen einig waren, dass das Covid-19 Virus „nicht bagatellisiert werden sollte, aber auch nicht dramatisiert werden darf“. Streck, immerhin einer der bekanntesten Virologen Deutschlands, folgt in dem Interview nicht der einfachen Logik, dass alle Maßnahmen der Pandemiebekämpfung gleich sinnvoll waren, in der Wirkung einfach summiert werden können und sich deswegen jede Kritik an den einzelnen Maßnahmen verbietet. Er erinnert an die geläufigen, in Vergessenheit geratenen Gegenargumente bezüglich der Maskenpflicht.

Eigentlich, so sollte man denken, genug Stoff für eine interessante Debatte. Nur: So stellt man erstaunt fest, die gibt es bisher nicht. Während WELT und BILD über die Argumentationskette berichten, ignorieren das Team SPIEGEL und die meisten anderen Medien die Meldung. Die Äußerungen Streecks verpuffen so und werden in der Öffentlichkeit kaum noch wahrgenommen. Statt sich in einer offenen Debatte zu engagieren und die wichtigsten Positionen darzustellen, haben sich die Medien – wie viele Ihre Konsumenten – einfach festgelegt.

In einer solchen Medienlandschaft stören substantielle Gegenargumente nur. Ob dieses Phänomen der objektiven Aufklärung über Sinn und Unsinn der Pandemie-Bekämpfung dient ist fraglich.

#84 Hamburg
In Hamburg war ich Zeuge der #BlackLivesMatter-Demo. Die Atmosphäre war dabei durchaus beeindruckend. Tausende Menschen bekennen sich zu einer Gesellschaft, die den latent vorhandenen Rassismus überwinden will. Die Demonstration war dabei absolut friedlich.

Instinktiv blieb ich eher am Rande des Geschehens, da im Kern der Menschenansammlung – obwohl die meisten TeilnehmerInnen Masken trugen – von „sozialer Distanz“ keine Rede sein konnte. Ein Dilemma, auch für die Veranstalter: Die Forderung nach Einheit der Gesellschaft, nach sozialer Nähe und gegenseitiger Solidarität trifft auf die herrschende Doktrin des Gesundheitsschutzes. Die Demo wurde dann auch schließlich wegen des Widerspruchs offiziell beendet.

Die übliche Kritik an derartigen Demonstrationen, die sich aus dem Gesichtspunkt der Massenhygiene ergeben, bleibt, vermutlich wegen der gesellschaftlich akzeptierten Zielsetzung der TeilnehmerInnen, beispielsweise im Vergleich zur „Rave Party“ in Berlin oder den Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen, eher verhalten.

Auch hier wird man sehen müssen, wie sich nun die berühmten Infektionszahlen entwicklen und ob es gar neue „Hot Spots“ ergibt.

#83 Panoptische Systeme
Alltagsszene: In einem einsam gelegenen Gasthaus der Insel bestelle ich einen Kaffee. Die junge Frau, die mir das Getränk bringt, trägt ihre Maske locker um den Hals gebunden. Auf meinen, zugegeben misslungenen Scherz, „sie trage ja gar keine Maske“, reagiert sie zu meiner Überraschung wie von der Tarantel gestochen. Schnell setzt sie ihren Gesundheitsschutz ordnungsgemäß auf und entschuldigt sich bei mir. Ich bleibe für einen Moment rat- und sprachloslos zurück.

„Bin ich nun ungewollt zum Teil eines panoptischen Systems im Sinne Michel Foucaults geworden?“ Tatsächlich hat die Bedienung in dem Moment mich nicht in meiner subjektiven Gestalt des Gastes gesehen, wohl aber als objektive Stimme des großen Anderen, einem Vertreter des nationalen Gesundheitsschutzes.

Foucault war zeitlebens auf der Spur, eine Disziplinargesellschaft zu analysieren, die nicht mehr alleine auf dem repressiven Staat beruht, sondern auf dem Gehorsam gegenüber uns selbst und dem Anderen. Das Subjekt, das freie Individuum, selbst sah Foucault in Gefahr. Das mag eine Übertreibung sein – wirklich?

Tatsächlich gibt es eine schleichende Tendenz uns nicht mehr nur als Subjekte zu sehen, sondern als Vertreter einer uns zugeordneten objektiven, kategorialen Eigenschaft. Wir erscheinen dann im Blick des Anderen als „Türken, Deutsche, Schwarze, Muslime oder was auch immer“. Ein Phänomen, das sich im Zeitalter der sozialen Distanz, das schon vor dem Ausbruch der Pandemie begann, eher verstärkt. Im direkten Austausch ist es naturgemäß einfacher, als Subjekt mit seinen unzähligen Spezifikationen wahrgenommen zu werden.

Im Diskurs erlebt man diesen Umbruch mit Ansprachen, die, die Türken, die Deutschen, die Schwarzen ansprechen oder gar anprangern. Wir sprechen zunehmend dann nicht mehr als Subjekte, sondern beschreiben in unseren Antworten, die uns zugeordnete, angebliche Objektivität unserer Erscheinung gleich mit. Im Extrem fallen Sätze wie: „Ja ich bin Muslim, aber ich bin kein Terrorist, kein Fanatiker und auch keine Frauenfeind.“ Foucault würde hier gleichzeitig ein Dispositiv der Macht erkennen, dass sich in der Definitionshoheit zeigt, was denn ein Muslim sei und in unserer vorbeugenden Reaktion, den Vorhalt schon in unserer Antwort zu konterkarieren.

Der Gedanke hat fraglos natürliche Grenzen. Spricht man zum Beispiel als „Deutscher“ (und nicht nur als Heinz), wird man je nach Thema nicht umhinkönnen, tatsächlich seine geschichtliche Verantwortung mit einzubeziehen. Ähnliches gilt bei der These der Privilegierung des „weißen Mannes“. Hier geht es nicht um das Subjekt, das im individuellen Lebenslauf keinerlei Privilegierung genossen hat, sondern um die geschichtliche, objektive Einordnung des Rassismus und dem Faktum, dass der Rassismus in einem tieferen Zusammenhang mit weißer Privilegierung steht.

#82 Marktplatz
„Unter der Maske verkommt Einkaufen zum Negativerlebnis“, beklagen Experten in der WELT. Der Einzelhandel sei von einem veränderten Kaufverhalten bedroht.

Unabhängig, wie man zum Sinn der Maskenpflicht steht, zeigt sich hier ein echtes Dilemma. Über Jahrhunderte bauten unsere Städte in Ost und West auf den Zusammenhang von sakralen Gebäuden und Marktplätzen auf. Die Dynamik der Pandemie-Bekämpfung könnte diesen sozialen Charakter unserer Städte endgültig verändern.

Die Entwicklung ist schon länger zu beobachten: vom Marktplatz zum Supermarkt, vom Supermarkt zum Onlinehandel. Die neue Marktwirtschaft könnte man auch so beschreiben: von tausenden Anbietern auf dem Marktplatz, zu Dutzenden Betreibern von Supermärkten bis hin zu einer Handvoll Online-Monopole.

Die Stärkung der virtuellen Welt und die Faktizität von sozialer Distanz auf der realen Ebene sind die unvermeidlichen Nebenwirkungen dieser Krise.

Die Folgen? Ungewiss!

#81 Paddelboote
Ein Bild der Krise: Wie auf einer großen Party versammelten sich rund 3.000 Menschen in ihren kleinen Paddelbooten auf dem Berliner Landwehrkanal, hielten kaum Abstand und drehten die Musik auf. Hier scheidet sich die gesellschaftliche Kritik oder inhaltlicher Protest an der Verhältnismäßigkeit der Corona-Maßnahmen vom Individualismus einer ichbezogenen „Spaßkultur“. Ob die kleinen Boote eine Sintflut der Infektionen auslösen werden, sei dahingestellt. Das Spektakel konterkariert zumindest die Idee, dass wir alle in einem Boot sitzen. Da wir alle keine Propheten sind, gilt es, die Entwicklung der Infektionszahlen – jenseits von Hysterie oder Sorglosigkeit – weiterhin mit gebührendem Abstand kritisch und unvoreingenommen zu beobachten.

#80 Schatzkammer

Freud empfiehlt vor allem intellektuelle Tätigkeit und Kunstgenuss, um einen – wie auch immer unvollkommenen – „Leidensschutz“ zu bewirken.

In diesem Sinne fuhr ich gestern auf die Insel, um zu sehen, ob der kleine, aber schöne Buchladen in Gingst die Krise überstanden hat. Und tatsächlich: Die freundliche Buchhändlerin klärt mich am Eingang auf, dass sie die Herausforderungen recht gut meistere. Ich beglückwünsche sie für ihren praktischen Widerstand gegen den Onlinehändler Amazon – einem der größten Gewinner der aktuellen Pandemie. Wir vertreiben uns so mit einem kleinen Gespräch die Wartezeit, die dem ausgeklügelten Hygienekonzept der Buchhändlerin geschuldet ist. Den kleinen Laden dürfen nur sechs Personen gleichzeitig aufsuchen und sie müssen die berühmte Maske tragen. Eine Maßnahme, der ich mich nur für den Kauf lebenswichtiger Produkte unterwerfe.

„Also Maske auf und hinein in das Vergnügen“, denke ich mir, nachdem die statistischen Voraussetzungen zum Eintritt in die Schatzkammer gegeben sind. Nach wenigen Minuten stellt sich für den Träger, der den Gesundheitsschutz nicht vollkommen verinnerlicht hat, eine Art Beklemmung ein. Die Brille beschlägt und der Kaufvorgang muss beschleunigt werden, denn ich will unbedingt meinen Obolus für das Überleben dieser Kultureinrichtung leisten. Die Zeit drängt und ich greife nach einem Buch, dessen Titel „Im Land der Träume“, unter der sich eine hübsch illustrierte Szene aus Italien befindet, meinen Kaufimpuls zum Abschluss bringt.

Als ich wieder draußen bin, schaue ich mir meine Beute ohne die lästige Maske genauer an. Das Buch ist von Jörg-Dieter Kogel und handelt von Sigmund Freuds Italienreisen. Traumhaft! „Soviel an Farbenglanz, Wohlgerüchen, Aussichten – und Wohlbefinden habe ich noch nicht beisammen gehabt“, schreibt Freud über seine Passion.

„Was würde Freud wohl zur psychologischen Wirkungen des permanenten Gesundheitsschutzes schreiben?“ Wir haben beinahe Juni und wenn die Zeiten günstiger werden, will ich im Sommer, so Gott will, diesen Fragen weiter südlich nachgehen.

#79 Biopolitik
Gibt es eine zweite Welle? Es sieht nicht danach aus. Je nach ideologischer Verortung beobachten wir Zweifel, Skepsis und – was erstaunt – selten Freude.

Neben den Unwägbarkeiten über die künftige Realität des Virus interessiert mich die andere Welle: die Trends in der globalen Biopolitik. Dabei spielt die deutsche Politik schon in Europa eine eher untergeordnete Rolle, vielmehr findet heute moderne Gesundheitspolitik im globalen Maßstab statt. China und andere asiatische Staaten präsentieren längst stolz den autokratischen Überwachungsstaat als Erfolgsmodell gegen künftige Epidemien.

Auf euraktiv.de stellt der Philosoph Bjung-Chul Han seine eher pessimistische Sicht vor:

„Angesichts der Pandemie steuern wir auf ein biopolitisches Überwachungsregime zu. Nicht nur in unserer Kommunikation, sondern auch in unserem eigenen Körper: Unsere Gesundheit wird einer digitalen Überwachung unterliegen.“

Für Han leben wir in einer „Überlebensgesellschaft“, die auf der Angst vor dem Tod beruht. Er folgert daraus, dass „der Mensch die Freiheit für sich selbst zurückgewinnen muss.“ Bedingung für diese Haltung ist eine Lebenspraxis, die mit unseren Fundamentalängsten – Tod und Verlust der Versorgung – umgehen kann.

Kurz gefasst: Die Frage nach dem Sinn des Lebens stellt sich wieder neu. Die Pandemie erinnert nur daran.

#78 Meinungen
Ein guter Bekannter unserer Familie im Schwarzwald ist heute mit 55 Jahren am Coronavirus verstorben. Solche Nachrichten erinnern daran, dass es sich bei dieser Debatte nicht nur um das Rechthaben oder eine abstrakte Theorie geht. Man fährt bei diesem Thema schlicht auf Sicht. Das heißt, möglichst unbeeindruckt von nerviger Hysterie und simpler Verdrängung.

Die Vorschläge, massive Grundrechtseinschränkungen schnellstmöglich zu beenden, mehr auf Eigenverantwortung und dezentrale Strategien zu setzen, sind für mich dennoch sinnvoll.

Unsinn ist es dagegen, dem Politiker Bodo Ramelow zu unterstellen, er sei in Thüringen unter dem Druck von Verschwörungstheoretikern auf einen Kurswechsel aus. Vielmehr ist es einfach ein Zeichen der Vernunft, einen Plan, der auf der lokalen Ebene von einer Prognose von zehntausenden Infizierten ausging, angesichts realer Zahlen, zu verändern. Das föderative System Deutschlands bewährt sich hier und ist einem Zentralstaat vorzuziehen.

Ich weiß nicht, ob der Virologe Streeck Recht hat, wenn er im Moment keine zweite Welle erwartet. Seine Meinung spiegelt aber zumindest eine alte Weisheit wider: Bei den entscheidenden Themen gibt es meist zwei Meinungen. Diesen Umstand auszublenden, unabhängig welche Position man in Sachen Pandemie hat, führt direkt in eine ideologische Positionierung.

#77 Demonstrationsfreiheit
Es ist gut, dass Wolfgang Schäuble – in der WamS – sich heute klar zur Versammlungsfreiheit bekennt. Dieses Grundrecht ist nach den Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts ein „konstituierendes Element“ der Demokratie.

Offensichtlich ist der Bundestagspräsident auch intellektuell zur Unterscheidung – zwischen „Spinner, Extremisten, Verschwörungstheoretiker“ und normalen BürgerInnen, die ihre Grundrechte ausüben – fähig…

Das Zitat:

„Die Demonstrationen zeigen, dass unsere Gesellschaft eine offene ist. Dass sich in solche Demonstrationen mitunter auch Personen mit abstrusen Theorien begeben, lässt sich nicht verhindern. Niemand ist vor dem Beifall von der falschen Seite sicher. Allerdings rate ich jedem, der zu unserem Grundgesetz steht, zu Extremisten Abstand zu halten, um sich nicht auf die eine oder andere Art anzustecken.“

#76 Globalia
Zu der wichtigsten Kategorien des schaffenden Menschen in unserer Zeit gehört der politische Schriftsteller.

Vor einigen Jahren hat Jean Christophe Rufin einen vielbeachteten utopischen Roman über eine ideale Gesellschaft geschrieben. Mit imaginärer Kraft beschreibt Rufin eine Zukunftsgesellschaft, in der – zumindest scheinbar – nicht alles verboten, sondern alles erlaubt ist. „Globalia, wo wir das Glück haben zu leben“ – behauptet ein Psychologe in dem Werk – „ist ein ideale Demokratie“. Zu entscheiden, ob diese Vision den realen Gehalt unseres politisches Denken inspiriert oder nicht, wird hier dem denkenden Leser überlassen.

Die Lebenswirklichkeit, in diesem fiktiven Weltstaat Globalia, beruht nicht nur auf der Tyrannei einer schweigenden Mehrheit, sondern auch auf der subtilen Umdeutung von Werten und einer neuen Definition von Freiheit:

„Jeder ist in seinem Handeln frei. Die natürliche Neigung der Menschen besteht allerdings, die Freiheit zu mißbrauchen, um die anderen zu beeinträchtigen. Die größte Bedrohung der Freiheit ist die Freiheit selbst. Wie verteidigt man die Freiheit gegen sich selbst? Indem man allen Sicherheit garantiert. Sicherheit ist Freiheit. Sicherheit ist Schutz. Schutz ist Überwachung. Überwachung ist Freiheit.“ (Globalia, S. 67)

Liest man heute Globalia, ist man fast notgedrungen an die Tagespolitik erinnert. Debatten über eine neue Gesundheitspolitik – von der Idee der digitalen Krankenakte, über die Planung von Immunitätsausweisen, bis hin zur Möglichkeit einer allgemeinen Impfpflicht – lassen eine langfristig gesehen – Symbiose von Sicherheits- und Gesundheitspolitik als reale Möglichkeit am Horizont erscheinen. Akteure sind in diesem Bereich nicht nur Nationalstaaten, die mehrheitsfähige Positionen umsetzen, sondern zusätzlich private, global agierende Akteure, wie die mächtigen Daten- und Pharmaindustrien. Diverse Maßnahmen, in dieser technologischen Welt, werden dabei wohl nicht nur auf staatlichem Zwang beruhen, sondern ebenso auf der Bereitschaft der Bevölkerung, angesichts künftiger Pandemien, sich in dem Verlangen nach „Gesundheit und Sicherheit“ neu einzurichten.

Im Nachwort zu Globalia wendet sich Rufin gegen die Idee „zerbrechlicher demokratischer Zivilisationen“. Vielmehr zeigt sich der Schriftsteller beeindruckt „von ihrer außerordentlichen Macht, ihrer Stabilität, ihrer Fähigkeit, sich von ihren Feinden zu nähren.“ Ein Gedanke, der sich im Moment zeigt. Denn letztlich dient das Treiben der angeprangerten, kleinen Minderheit von extremen Verschwörungstheoretikern in letzter Konsequenz nur der Verfestigung öffentlicher Meinung.

Um aus dieser Sackgasse herauszukommen, bietet sich weiterhin die intensive Lektüre politischer Bücher an. Rufins Globalia ist hier eine nach wie vor lesenswerte Option.

#75 Fußball
Der ernsteste Stoff muß so behandelt werden, daß wir die Fähigkeit behalten, ihn unmittelbar mit dem leichtesten Spiele zu vertauschen. (Friedrich von Schiller)

Der Ball rollt wieder. Die Liga entfaltet dabei den Charme von FIFA20. Technisch interessant sind Interviews mit dem Mikrofon am fünf Meter langen Teleskoparm und einem Trainer, der hinter der Maske nach Luft ringt. Unter dem wachsamen Auge der Öffentlichkeit zeigt sich der schmale Grat zwischen sinnvoller Vorsorge und allgemeiner Paranoia.

#74 Recherche II
Michael Butter hat 2018 ein interessantes Buch (Nichts ist, wie es scheint) über das Phänomen der Verschwörungstheorie publiziert.

Diese Art der Theorie, manche sagen auch Ideologie, wird vom Publikum meist intuitiv erfasst. Jeder der den Begriff klar zu definieren versucht, trifft allerdings auf einige theoretische Schwierigkeiten. Nach Butter sind Verschwörungstheorien grundsätzlich unwahr und zeichnen sich meist durch drei typische Charakteristika aus:

– Nichts geschieht durch Zufall.
– Nichts ist, wie es scheint.
– Alles ist miteinander verbunden.

Demzufolge diskutieren wir in Deutschland insbesondere eine „Superverschwörungstheorie“, die die Finanz-, die Flüchtlingskrise und die aktuelle Pandemie verknüpft und im Ergebnis immer die gleiche Verschwörung von dunklen Kreisen und „Hintermännern“ zu entdecken glaubt. Die Absurdität der Theorie einer jahrzehntelangen Regentschaft hinter den Kulissen, die die Geschichte der ganzen Welt kontrolliert, ist evident.

Der Ruf nach Freiheit, genauer Freiheit von…, beispielsweise von staatlicher Bevormundung, muss mit der Frage nach dem „herrschenden Gedanken“ (Nietzsche) dahinter befragt werden. Beim rechten Populismus ist die Antwort klar: Es geht nicht wirklich um Gesundheitspolitik, sondern um den Rückzug auf den Nationalstaat und eine neue Form der Deutschtümelei.

Das Problem des Framing als Verschwörungstheoretiker ist dennoch die Unschärfe des Begriffes und die Neigung ganze Gruppen mit dieser Terminologie und den damit verbundenen Assoziationsketten zu verknüpfen. In der aktuellen Pandemiedebatte sollte man nicht ganz vergessen, dass zwar eine Mehrheit von ca. 66 Prozent die staatlichen Maßnahmen vollumfänglich unterstützt, es aber auch eine beachtliche Zahl von Menschen gibt, die – aus unterschiedlichen Gründen – Bedenken und Vorbehalte artikulieren.

Diese Einwände gilt es nach wie vor ernst zu nehmen. Die Kombination von Gesundheitspolitik und moderner Technologie, ruft letztlich die langfristig zu beurteilende Frage auf, ob wir die neuen Techniken in der Zukunft kontrollieren oder sie uns.

Butter trifft hier den realen Punkt, der im Lärm um die Verschwörungstheoretiker und ihren extremen Haltungen nicht untergehen darf:

„Die derzeitige Diskussion – Verschwörungspanik in manchen Teilöffentlichkeiten, Verschwörungstheoriepanik in anderen – ist ein Symptom für eine tiefer liegende Krise demokratischer Gesellschaften. Denn wenn Gesellschaften sich nicht mehr darauf verständigen können, was wahr ist, können sie auch die drängenden Probleme des 21. Jahrhunderts nicht mehr meistern.“

#73 Wille zur Macht
Im aktuellen Medienzirkus rund um das Virus hat es die sachliche Aufarbeitung schwer. In den letzten Tagen hat die Polarisierung und damit die Blockbildung zugenommen. Um es salopp zu sagen: Sachliche Differenzierung und die alte Weisheit, dass die Wahrheit irgendwo in der Mitte, zwischen den Extremen zu suchen ist, zieht wohl nicht beim Publikum. Es ist das alte Problem, dass schon Nietzsche beschrieb: Relativierung der Wahrheit, die unser modernes Bewusstsein bestimmt, geht nicht etwa mit einer Mäßigung einher, sondern mit der Dynamik des Willens zur Macht.

Unter dem Zwang, möglichst viele Klickzahlen zu erreichen, um irgendwie Gehör zu finden und an der politischen Macht zu partizipieren, nehmen es auch die alternativen Medien, gerade wenn sie mit dem Anspruch antreten das angebliche Meinungskartell zu durchbrechen, mit der „Wahrheit“ nicht sehr genau. Prominente Vertreter wie Ken Jebsen ist es nur ein lapidarer Nebensatz wert, zum Beispiel eigene Fehlinformationen zur Finanzierung der WHO, zu korrigieren. Lügen tun eben nur die Anderen!

Auf anderen Kanälen wird eine private Initiative eines Mitarbeiters des BMI zur unterdrückten Meinung eines ganzen Ministeriums umgedichtet. Traurig aber wahr: Das Publikum muss eben mit schrillen Tönen bei Laune gehalten werden, sonst droht der Absturz zurück in die mediale Bedeutungslosigkeit. Man sucht daher nach Foren, die sich der Mühsal der Differenzierung und echter Diskussion nicht entziehen.

Fatal wird diese Entwicklung, wenn sich die fundierte Kritik an staatlicher Gesundheitspolitik – ohne deutliche Abgrenzung – mit rechtem Populismus vermischt. In den nächsten Monaten wird die Wirtschaftskrise im Leben von Millionen Menschen spürbarer werden und die einfache Losung, dass nicht das Virus, wohl aber die Regierung Schuld an allem sei, das politische Klima noch einmal stärker aufheizen. Um Gesundheitspolitik wird es dann nicht mehr gehen, eher – um auf Nietzsche zurückzukommen – um den Kampf von Weltanschauungen.

#72 Überwachungsstaat
Es gibt Begriffe, die man – wie es so schön heißt – ab und zu „updaten“ muss. Bei dem Begriff der Überwachung, denken wir schnell an Orwell, an Diktatur, den totalen Staat und dann reflexhaft an den Widerstand. Dabei ist das gewohnte Bild, dass dunkle Mächte von oben nach unten die Gesellschaft beherrschen, uns gefügig machen und überwachen.

Diese Vorstellung hatte ihre erste Krise, als wir begannen unsere persönliche Daten in den sozialen Medien freiwillig am digitalen Schalter abzugeben. Heute ist es längst nicht mehr nur der Staat der unser Verhalten kritisch beobachtet.

Nehmen wir an, wir unterhalten uns und unser Gesprächspartner nutzt die Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz. Wir mokieren uns zum Beispiel über den wachsenden Einfluß der Gates Foundation, spekulieren, rufen ein paar vage Informationen aus unserem Gedächtnis ab, während unser Dialogpartner gleichzeitig unzählige Daten oder Fakten aus dem Netz abruft. Wer wird schlussendlich näher an der Realität sein?

Wir erleben schon, dass wir die freie Rede unter den Bedingungen der alltäglichen Faktenüberprüfung vorsichtiger anwenden. Vielleicht ist das gut so. Nur: Was heißt das für die freie Rede überhaupt?

Oder, denken wir an Überwachung: Wir treten in einen Supermarkt ein, werden brüsk auf die Maskenpflicht hingewiesen; nicht etwa von der Polizei, sondern von Lieschen Müller, die gerade ihr Tomatenmark in ihren Einkaufswagen legt und jetzt im Einklang mit der gesellschaftlichen Mehrheitsmeinung beschlossen hat ihre „Autorität“ auszuüben?

Sind wir bereit, bei entsprechendem sozialen Druck, für eine effiziente Gesundheitsüberwachung im öffentlichen Raum, unsere Stirn, wie alle Anderen, auf das Fieberthermometer zu legen?

Das alte Bild des Bürgers, der sein Misstrauen gegen staatliche Überwachung artikuliert, spart das Phänomen aus, dass wir diese Art von Argwohn eigentlich auch gegen Millionen Bürger richten müssen, die mit digitaler oder sozialer Überwachung kein Problem haben und ihre Rechte quasi freiwillig aufgeben. Treten wir in ein neues Zeitalter ein, in der die Einheit von Staat und Gesellschaft sich neu manifestiert? Was heißt das für die alte Idee des Widerstandes? Ist er zwecklos, gar unzeitgemäß geworden?

Aus muslimischer Sicht sind wir gewohnt, beobachtet zu werden, wenn auch von einer höheren Instanz. In der technologischen Welt setzt sich dieses Phänomen auf ganz andere Weise fort, sei es durch Kameras oder anderen Formen der digitalen Überwachung. Wir müssen den Trend zur Kenntnis nehmen, dass das Internet, die digitale Welt, für viele Menschen nicht nur eine Art Offenbarung ist, sondern auch den Takt für neue Innovationen, Gesetzlichkeiten und Konventionen gibt. Hier erinnert Widerstand schnell an das Vorhaben der Pferdeliebhaber vor hundert Jahren, den Autoverkehr zu verhindern.

Das Bild der Freiheit, der Gesellschaft überhaupt, die Idee der persönlichen Souveränität wandelt sich – ob wir wollen oder nicht – schleichend.

#71 Europäische Union
Neben der berechtigten Frage nach dem Unwesen der Verschwörungstheorien sollte sich die Bevölkerung nicht von der Kunst abbringen lassen, die richtigen Fragen zu stellen und zu formulieren. Nachdem die deutsche Politik zum Beispiel Pläne für einen Immunitätspass erst einmal offiziell abgeblasen hat, stellt sich das Problem, ob diese Entscheidung auch auf der europäischen Ebene gilt.

In einem Handbuch der EU zum Thema „Designing and implementing an immunisation information system“ (IIS) liest man über die angedachte Zielvorstellung:

„Information about a person’s vaccinations should be consistently recorded and available throughout a lifetime. Traceability, which means retaining the information about the vaccines received by an individual, was the initial requirement for setting up vaccination cards or books (either stand-alone or included within health booklets). Traceability remains the first requirement of IIS at the individual level.“

Als interessierter Bürger muss man hier diverse Dokumente auf dieser Organisationsebene lesen. Im September 2019 hat die EU auf einem „Impf-Summit“ – gemeinsam mit Politikern, Wissenschaftlern, NGOs und Vertretern der Pharmaindustrie – weitere Ideen für eine europäische Agenda zum Impfschutz gesammelt.

Die Titel der sogenannten „Roundtables“ lassen ahnen wohin – zumindest nach dem Stand im letzten Jahr – die Reise gehen könnte:

Roundtable 1: In Vaccines we trust

Roundtable 2: The Magic of Science

Roundtable 3: Vaccines Protecting Everyone, Everywhere

Breit diskutiert wurde auf dem Treffen die Notwendigkeit, „Fake News“ zu diesem Thema aus dem Netz zu nehmen. Auch hier dürfte entscheidend sein, wer (und mit welchen Kriterien) die Unterscheidung zwischen sachlicher Kritik und offensichtlichen Lügen vornimmt.

#70 Kirchen
Treffendes Zitat aus der Rubrik „Jenseits von Gut und Böse“:

Die „Kirche der Angst“ hat mehr Gläubige versammelt als je zuvor, und zwar in beiden „Konfessionen“: Angst vor einer Massenvernichtungs-Pandemie auf der einen Seite und Angst vor einer Massenüberwachungs-Diktatur auf der anderen – und in beiden Kirchen orgeln Panik-Orchester und verkünden jeweils die allein seligmachende Wahrheit. (Mathias Bröckers, telepolis)

#69 Recherche
Unter dem Titel „verkappte Religionen“ schilderte der Stralsunder Carl Christian Bry (1892-1926) die Verwirrungen über die unzähligen neuen Weltanschauungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Das Buch war damals ein Bestseller und widmet sich insbesondere den diversen antisemitischen Verschwörungstheorien.

Das Gebiet, eine Welt der Irrtümer, beschreibt er zeitlos:

„Ein solches Gebiet ist das der verkappten Religionen. Hier treffen sich tatsächlich die Strömungen und Wirbel, alles, was unsere Zeit stärker erregt und bewegt. Der Spielraum der verkappten Religionen ist unendlich weit und doch haben sie im einzelnen wie insgesamt ein ganz bestimmtes Wesen. Endlich stehen auf diesem Gebiet nicht nur Scharen von toleranten, rasch erwärmten, aber auch schnell abgekühlten Interessenten. Die verkappten Religionen verfügen, fast allein in unserer Zeit – und schon das sichert ihnen Bedeutung – über Gemeinden von heißen Fanatikern, die erfüllt und streitbar für ihr Weltbild kämpfen.“

Bry bemüht sich auf 250 Seiten um Klärung, Abgrenzung und Definition. Das ist hilfreich, um den heute vielbesungenen und unbestimmten Begriff der „Verschwörungstheorie“ klarer zu fassen. Das Motto: Nicht alles was wir für wahr halten, ist wahr.

Ich lese mich also erst einmal warm. In der nächsten IZ werde ich versuchen, sein Bild mit aktuellen Bezügen wiederzugeben…

#68 Die Vertrauensseligen
Auch eine neue Gruppierung: die Vertrauensseligen, in harter, dialektischer Opposition zu den Verschwörungstheoretikern. Standpunkte: Habt Euch nicht so, daraus folgend, Verharmlosung von Grundrechtsverletzungen, blindes Vertrauen gegenüber der Obrigkeit und („les extremes se touchent“) ein wenig Häme und Intoleranz gegenüber Andersdenkenden.

Wie so oft will man den Glauben an die Mitte nicht aufgeben.

#67 Abgrenzung
Es ist naturgemäß ein Unterschied, ob BürgerInnen im Rahmen der Gesetze friedlich ihr Demonstrationsrecht ausüben oder ein anarchischer Mob („Wir sind das Volk“) sich versammelt. Schaut man sich die Bilder diverser Versammlungen an, wird diese Abgrenzung leicht erkennbar.

#66 Schnittmengen
Die Schnittmenge „Verschwörungstheoretiker“ erinnert so langsam ein wenig an die Logik rund um den Kreis der „Islamisten“.

Man sollte – bei aller berechtigten Sorge um die Machenschaften von Extremisten, Verrückten und Wahnsinnigen – nicht ganz vergessen, dass es sich hier um unbestimmte Begriffe handelt. Die einschlägige, in manchen Fällen vorschnelle Markierung von unbequemen Andersdenkenden schadet auf Dauer nicht nur der Meinungsfreiheit, sie gibt die Vorlage für Ausgrenzung und Diskriminierung. Ich plädiere dafür, dass eine kollektive Verurteilung nicht die notwendige Einzelfallprüfung ersetzt. Letztendlich gilt es eben einen Filter anzuwenden, der abstruse Theorien, von sachlichen Argumenten oder begründeten Zweifeln trennt. Die kontroverse Debatte schadet nicht etwa, sondern nutzt der Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft.

Georg Restle (Monitor) mahnt hier zu Recht:

„Was JournalistInnen auch begreifen müssen: Nicht jede Regierungs- oder Wissenschaftskritik ist gleich eine Verschwörungstheorie – und wer der Bevölkerung gegenüber den Eindruck vermittelt, man stehe hinter allem, was Regierende verkünden, macht es den Extremen leicht.“

#64 BILD
Deutschlands klügste Corona-Skeptiker kritisieren die harten Maßnahmen „Lockdown war ein Riesen-Fehler“. (BILD Online)

Ups… wechselt BILD zu den Verschwörungstheoretiker? Petzen!

#63 Die Medien und das Coronavirus
Ich habe heute – auf Einladung der UNICAT Hessen – ein kurzes Impulsreferat auf Instagramm-Live gegeben. Leider habe ich die Veranstaltung zu spät beworben und stelle hier kurz die Leitgedanken vor.

Zur Einführung – als Bewunderer der Weimarer Klassik – zunächst ein ZITAT:

„Wir gelangen nur selten anders als durch Extreme zur Wahrheit – wir müssen den Irrtum – und oft den Unsinn – zuvor erschöpfen, ehe wir uns zu dem schönen Ziele der ruhigen Weisheit hinaufarbeiten.“ (Friedrich Schiller)

Tatsächlich haben wir es heute nicht nur mit einer außergewöhnlichen Lage, sondern auch mit vielen extremen Positionen zu tun. Von der „ruhigen Weisheit“, die Schiller anstrebt, sind wir wohl noch weit entfernt. Aber der Reihe nach….

1. Nur zur Erinnerung: Wer noch Anfang Februar behauptete, dass das Virus gefährlich ist, galt in den Medien als Spinner und Verschwörungstheoretiker. Die Bevölkerung fühlte sich relativ sicher. Das psychologische Problem, dass sich hieraus ergab, ist klar: Wenn die Menschen sich einmal in einer „bequemen Wahrheit“ eingerichtet haben, braucht ein Sinneswandel seine Zeit.

2. Spätestens nach den Bilder von Oberitalien und dem Elsass veränderte sich die Lage dramatisch. Plötzlich war die Pandemie in aller Munde und die Gefahr greifbar. Es begannen massive Maßnahmen der Regierung (starker Staat) und eine massive Medienkampagne zur Aufklärung. Das staatliche Ziel war dabei nachvollziehbar: die Verhinderung der Überlastung unserer Gesundheitssysteme. Das Problem für den Medienkonsumenten war dabei, zwischen sachlicher Informationen und hysterischer Panikmache, zu unterscheiden.

3. Die Folge war ein „Stresstest“ für die Gesellschaft und ein allgemeiner Schock, dem sich niemand entziehen konnte (egal ob reich oder arm, jung oder alt, Muslim oder nicht). Ein Modell des Psychoanalytiker Jacques Lacan kann vielleicht helfen, die Schockwirkung besser zu verstehen. Nach Lacan ordnen wir auf der psychologischen Ebene ein Ereignis in folgende Register ein: das Imaginäre, das Symbolische und das Reale. Das Imaginäre sind dabei alle Bilder, virtuelle Wirklichkeiten und die Kunst. Das Symbolische ist alles was wir in Sprache fassen, alle Gesetze und Konventionen zum Beispiel. Das Reale wirkt in uns wie eine Art Störung, wir sind sprachlos und können dem Geschehen nicht unmittelbar Sinn und Bedeutung geben.

Wir erlebten also eine Art Umkehrung aller Werte und Gewohnheiten.

Auf der imaginären Ebene, drängten sich Bilder von Särgen, Notaufnahmestationen oder von den Delphinen, die in der Laune von Venedig schwimmen, an. Auf der symbolischen Ebene müssten wir unsere Sprache neu ordnen (neuer Herrensignifikant „Corona“) und Worte wie „soziale Distanz“ in unseren Sprachschatz aufnehmen. Wir lernten den Diskurs der Experten nachzusprechen. Dazu begegneten wir zahlreichen neue Konventionen und neuen Gesetzen. Auf der realen Ebene wirkte eine Störung in uns, die zunächst sprachlos machte. Zudem stellte sich die Frage: Was ist das Reale des Virus? Was spricht uns hier an: Die Natur? Das Nichts? Gott?

4. Wir leben immer noch in einer Phase tiefer, andauernder Verunsicherung. Die Gesellschaft muss nun lernen mit zwei Fundamentalängsten bewusst umzugehen:

– TOD (Gesundheit wird zum erhabenen Objekt der Ideologie, wie zuvor die Sicherheit)

– VERSORGUNG (Hamsterkäufe, Zukunftsängste)

Zudem werden wir durch zahlreiche Fragen in unserem Denken herausgefordert: Sie sind logischer (exponentielles Wachstum), ethischer, rechtlicher und ökonomischer Natur.

5. Gibt es so etwas wie eine objektive Wahrheit? Für unsere Erfahrung der neuen Realität sind die Medien, die wir konsumieren, entscheidend. Die digitale Medien sorgen für eine Informationsflut, setzen uns unter Zeitdruck und aktualisieren fortlaufend diverse Irrtümer. Da die Pandemie komplexe Fragestellungen aufwirft, stellt sich die Frage welchen Quellen wir vertrauen wollen.

Nach der „Langzeitstudie Medienvertrauen“ der Johannes Gutenberg Universität Mainz vertrauten (2019) 43 Prozent der Befragten den etablierten Medien voll und ganz. 2015 waren es lediglich 28 Prozent. Allerdings wächst die Zahl derer, die den Medien in wichtigen Fragen misstrauen: Von 19 Prozent 2015 auf 28 Prozent 2019. Wir werden sehen wie sich diese Zahlen 2020 entwickeln.

6. Wie können Medien zur vernünftigen Beurteilung des Geschehens beitragen? Nach Hegel entwickelt sich ein Urteil in der Folge von These, Gegenthese und Synthese. Die Leitmedien etablierten zunächst die Logik, dass ohne drastische Maßnahmen zehntausende Tote zu erwarten wären. Alternative Medien stellten eine Gegenthese auf, das Virus sei nicht gefährlicher als eine Grippe und die Maßnahmen daher übertrieben.

Langsam stellten weitere Akteure ebenso ihre Gegenthesen auf:

– Wissenschaftler, die nicht nur aus dem Raum des RKI stammten.

– Philosophen erinnerten daran, dass die Würde des Menschen unantastbar sei. Der Drang nach dem biologischen Überleben dürfe die Menschenwürde nicht verdrängen (Agamben).

– Juristen forderten die Verhältnismäßigkeit von Grundrechtseingriffen ein (sie müssen immer verhältnismäßig, erforderlich und geeignet sein)

– Wirtschaftsvertreter erinnerten an die verheerenden ökonomischen Folgen. Für das Finanzsystem biete sich nun ein „Restart“ an, für dass das Virus verantwortlich sei.

– Verschwörungstheoretiker

Politisch stellt sich die Frage, wer künftig die Synthese in einer Demokratie vermittelt. Sind es Wissenschaftler, Politiker oder Medien? Fakt ist, immer mehr Menschen sind von der Komplexität der Ereignisse überfordert.

6. Meine Meinung
a) zu den Medien

– Kritik an den Mainstreammedien ist berechtigt, da sie teilweise einseitig berichteten und kaum alternative, wissenschaftliche Positionen zu Wort kommen ließen.

– Kritik an alternativen Medien ist aber ebenso berechtigt: (Lenin: Maßlose Übertreibung erleichtert das Verständnis ) Sie spielen mit der verführerischen These, dass man das Virus praktisch ignorieren könne. Die Ausgrenzung von Polemik und Verschwörungstheorien wird wichtiger, gerade dann, wenn man an einem kritischen Diskurs ohne Denkverbote interessiert ist.

– Eine echte Debatte, die unterschiedliche Positionen sachlich anbietet, ist eher selten (Gutes Beispiel für eine echte Kontroverse, mit substantiell unterschiedlichen Meinungen findet man auf Telepolis).

b) zu den Maßnahmen:

– Ich vertrete eine mittlere Position

– Einerseits Zustimmung: Das Virus ist gefährlich. Die Regierung musste handeln. Welche Maßnahmen welchen Beitrag zur Bekämpfung leisten ist allerdings strittig und nicht abschließend geklärt. Die Synthese, das abschließende Urteil über den Sinn der Verordnungen, wird noch einige Monate beanspruchen.

– Andererseits lehne ich aus verschiedenen Gründen persönlich ab: Maskenpflicht, Immunitätspass, Impflicht, Chip

Fazit:
– Wir leben meiner Meinung nach in keiner „Orwellschen Diktatur. Wir geben vielmehr unsere Rechte potentiell freiwillig auf (wie beim Datenschutz). Kritische Aufmerksamkeit gegenüber der Gesundheitspolitik ist daher weiterhin geboten.

– Es wäre zu begrüßen, wenn kritische Debatten nicht nur in den alternativen Medien stattfinden würden.

– Islam kann mit Fundamental-Ängsten gut umgehen. Muslime müssen sich aber an den neuen gesellschaftlichen Debatten (Moschee ist das kleinste Problem) aktiver beteiligen.

#62 Debattenkultur
„Die öffentliche Meinung wird verachtet von den erhabensten und von den am tiefsten gesunkenen Menschen.“ (M. von Ebner Eschenbach)

Es ist wie auf dem Meer, eine Welle löst die Andere ab. Im Moment werden die Signifikantenketten rund um die „Verschwörungstheoretiker“ abgearbeitet. Die meisten Texte hierzu sind natürlich intellektuelle Höchstleistungen und lesen sich irgendwie wie Packungsbeilagen für Desinfektionsmittel oder Anweisungen zum Händewaschen: Halten Sie soziale Distanz vor Nazis! Glauben Sie bitte nicht an eine Marsmenscheninvasion! Nehmen Sie die Todesgefahren ernst! Soweit zu den Binsenweisheiten.

Der Umstand, dass hunderttausende Bürger sich in dieser Krise von den etablierten Medien abwenden, scheint dagegen wenig Kummer zu bereiten. Genügen hier nur Spott und Häme? Fakt ist, immer mehr Menschen empfinden die veröffentlichte Meinung als einseitig und suchen nach Alternativen zur Meinungsbildung. Sie mögen hier leider auf die bekannten trüben Quellen stoßen. Nur: Die Frage bleibt, ob ist der Vorwurf der Einseitigkeit wirklich abwegig ist?

Im Verlauf der Krise wirkt es für Teile der Bevölkerung immer wieder, als wären nur die Wissenschaftler akzeptabel, die vom RKI oder Herrn Drosten als „gesund“ eingestuft werden. Eine öffentliche und nachvollziehbare Auseinandersetzung mit kritischen Gegenargumenten – ganz ohne Verschwörungstheoretiker natürlich – gab es dagegen eher selten. Und immer ein paar Wochen warten, bis Markus Lanz mal eine ausnahmsweise kritische Stimme abruft, passt nicht ins digitale Zeitalter.

Natürlich lässt sich argumentieren, dass es sowieso nur eine wissenschaftliche Wahrheit gebe, dass die Grundrechtseingriffe harmlose Episoden seien und dass man am besten zu Hause auf die Instruktionen der Regierung wartet. Dann wäre die Notwendigkeit zur Abbildung kontroverser Meinungsbilder hinfällig geworden.

Nur, wer zumindest theoretisch zulässt, dass man die Situation rund um die Pandemie auch anders sehen kann, sollte sich von der Hysterie über die Verschwörungstheoretiker nicht von der eigentlichen Problematik, dem Mangel an echter Debattenkultur ablenken lassen.

#61 Muslimische Zivilgesellschaft
Nach den Ereignissen der letzten Wochen dürfen wir inzwischen unter Auflagen die Moscheen wieder betreten. Das sind die kleinen Siege des Alltags.

Aber die Herausforderungen an zivilgesellschaftliche Akteure, die künftig relevant sein wollen, sind größer: Wie schützen wir unsere fragilen Bürgerrechte, wie begegnen wir künftigen Pandemien, wo sehen wir die Würde des Menschen verletzt und wie positionieren wir uns in Gerechtigkeitsfragen?

Da all diese Themen ein wissenschaftliches und intellektuelles Fundament benötigen, ist ein Forum, das muslimische Intelligenz zusammenführt, überfällig. Es wäre an der Zeit die Expertise muslimischer Juristen, Mediziner, Soziologen usw. zu bündeln. Dabei sollte die Kompetenz der TeilnehmerInnen, nicht die Herkunft oder die Vereinszugehörigkeit, im Vordergrund stehen.

#60 Offene Gesellschaft
Ergebnisoffenes Erkenntnisverfahren? Schön wär’s! Die meisten Menschen haben schon ein Ergebnis, bevor sie offen sind. Wie war das nochmal bei Hegel? These, Gegenthese, Synthese? Bei uns wird aber meist schon vor dem Prozess der Dialektik die Keule herausgeholt.

Die Grundproblematik besteht zudem bei der Debatte um die Bewältigung der Pandemie, dass die Synthese nach aller Logik einige Zeit brauchen wird. Wir sammeln jetzt nur Informationen für den aktualisierten Irrtum. Idioten und Extremisten werden später endgültig markiert.

Nur zur Erinnerung: Wer im Januar vor der Gefährlichkeit des Virus warnte, war nicht etwa Held, sondern Spinner und Verschwörungstheoretiker.

#59 Moscheen
Auflagen wie Maske, Sicherheitsabstand und diverse Hygienevorschriften erinnern, dass unsere Moscheen inzwischen wieder öffnen können, aber das normale Gemeinschaftsgebet beinahe unmöglich ist.

Gleichzeitig erinnert Gesundheitsminister Jens Spahn daran, dass es Jahre dauern könnte, bis ein Impfstoff gefunden wird. Das Wort Geduld könnte hier eine neue Qualität bekommen. Zum Trost erinnert man sich gerne an die alte Weisheit, dass die ganze Welt eine Moschee ist.

In dieser Zeit wird klar, dass wir Muslime mit allen anderen im Land in einem Boot sitzen. Die Segnungen des Ramadan bleiben, während wir die reale Lage nicht simpel ignorieren können. Beschränkungen für unsere Moscheen gehören dabei eher zu den kleineren Problemen.

Die existentiellen Fragen – zwischen dem Verlangen nach biologischem Überleben und dem würdevollen Umgang mit den Herausforderungen dieser Krise – fordern uns alle heraus. Es gilt, die berühmte, mittlere Position neu zu definieren.

Beten und Denken, Rückzug und gesellschaftliches Engagement sind in unserer Lebenspraxis keine Widersprüche.

#58 Verschwörungstheorien
Das eigentliche Dilemma des hysterischen Diskurses sogenannter Verschwörungstheoretiker besteht darin, dass sie an sich wichtige Fakten durch maßlose Übertreibungen oder abstruse Spekulationen entwerten. Damit wird das Argument selbst mit extremen Assoziationen belastet und aus dem Diskurs gedrängt.

Ein gutes Beispiel ist dafür die Debatte um die Rolle der „Gates Foundation“. Die sachliche Problematik ist, ob diese milliardenschwere Institution mit ihren finanziellen Zuwendungen die Entscheidungen der WHO oder des RKI beeinflusst und auf die Berichterstattung von Leitmedien in ihrem Sinne einwirkt. Das ist nicht nur eine offene Frage, sie wird von etablierten Medien nicht gestellt.

Wer nun Gates aber zur „Inkarnation des Bösen“ erklärt und behauptet, dass er das Virus erfunden haben und die Weltbevölkerung durch Impfung dezimieren wolle, schadet nicht nur der Aufklärung. Er liefert zudem die perfekte Vorlage, nicht mehr über die berechtigte Frage selbst diskutieren zu müssen. Diejenigen, die Gates für die „Inkarnation des Guten“ halten, werden sich mit Vergnügen auf die Abgründe der Verschwörungstheorie konzentrieren und so erfolgreich den eigentlichen Fragen aus dem Weg gehen.

Wenn Leitmedien diese sachlichen Fragen nicht debattieren, darf man sich gleichzeitig nicht wundern, wenn sich ganze Bevölkerungsschichten den Quellen zuwenden, die hier eine (angeblich) freie Berichterstattung suggerieren.

Meiner Wahrnehmung nach gibt es durchaus alternative Medien, die hier sinnvoll differenzieren und sachlich aufklären. Die Seite telepolis, um ein Beispiel zu nennen, präsentiert ergebnisoffen verschiedene Positionen, ohne aber den Leser mit Verschwörungstheorien zu belästigen oder ihm das Denken vollständig abzunehmen.

#57 Wahrheit
Der Besitz der Wahrheit ist nicht schrecklich, sondern langweilig wie jeder Besitz. (Friedrich Nietzsche)

Die Dinge sind im Fluss. Naturgemäß richten wir uns gerne in unseren Wahrheiten ein. Das ist verständlich, weil wir uns in der großen Störung ja einrichten müssen: Pandemie, neue Gesetze, Wirtschaftskrise. Die Informationsflut tut ihr Übriges: Welcher Quelle kann man trauen, gar vertrauen?

Um der Langeweile der eigenen Echokammer zu entgehen, finde ich es immer spannend, andere Positionen zur Kenntnis zu nehmen und notfalls die eigene Haltung zu korrigieren. Für ein gutes Argument ist man dem Gegner dankbar. Das ist wie beim Sport: Wer gut sein will, misst sich mit der Leistung anderer. Da es letztlich um Schicksals- und Richtungsfragen geht, lohnt sich die Mühe hier.

Insbesondere beim Einsatz für unsere Rechte darf man sich nicht auf die Mehrheit verlassen. Es ist immer eine Minderheit, die sich wehrt.

#56 Widerstand?
Die Pandemie ist ein Ereignis. Wie wird es die Politik im Land verändern? Unter dem Namen Widerstand 2020 formiert sich sogar eine neue Partei, die – wenn das stimmt – schon mehrere, zehntausend Unterstützer hat. Das Programm der Bewegung ist bisher vage. Aber die Temperatur im Land steigt spürbar stetig.

Fakt ist: Seit dem 11. September war Sicherheit das große Thema, das Staat und Gesellschaft bestimmte. Inzwischen ist Gesundheit das erhabene Objekt neuer ideologischer Positionierungen. Der Ruf nach absoluter Sicherheit und Gesundheit wird im Zusammenspiel unsere Gesellschaft radikal verändern. Die Angst vor … wird zur entscheidenden politischen Kraft.

Es ist staatliche Strategie, eine Überlastung der Gesundheitssysteme zu verhindern. Das ist weiterhin nachvollziehbar und vernünftig. Es geht nicht darum, einfach fatalistisch nichts zu tun. Die Gefahren des Virus sind real.

Für mich persönlich war die Einführung der „Maskenpflicht“ ein Schnitt im Geschehen. Noch im Februar hatte sogar das RKI und viele Experten den Sinn dieser Maßnahme bezweifelt. Die Pflicht zur Maskierung ist ein Symbol dafür, dass der Bürger endgültig zum Objekt staatlicher Fürsorge wird. Ich bin erstaunt, wie viele BürgerInnen sich hier schweigsam fügen.

Im Kern betrifft diese Verordnung den Kernbereich des Persönlichkeitsrechts, die Menschenwürde, die Freiheit über unsere Körper und stellt möglicherweise den Auftakt für neue, fragwürdige Möglichkeiten des Gesundheitsschutzes dar: Immunitätspass, Gesundheitschips zur Datenerkennung sowie Impfpflicht. Mein Grundsatz ist hier simpel: Wir wollen selbstverständlich biologisch überleben, aber in Würde.

Wie immer man zu diesen Themen steht, ob man Muslim ist oder nicht: Hier wird man Gesicht zeigen und sich eindeutig positionieren müssen.

#55 Rechtsstaat
Es ist ein gutes Zeichen, dass deutsche Gerichte inzwischen staatliche Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung einer kritischen juristischen Überprüfung unterziehen. Dabei geht es nicht darum, alle Verordnungen pauschal in Frage zu stellen.

Nicht hinzunehmen ist es allerdings, simpel alle Maßnahmen zu addieren und dann zu behaupten, sie seien im Gesamtpaket zum Schutz der Bevölkerung notwendig. Vielmehr muss der Sinn und Zweck (sowie die entsprechende, wissenschaftliche Begründung) jedes einzelnen Eingriffs separat geprüft werden.

#54 Subtile Spiele
Das Coronvirus, doch nur so gefährlich wie eine Grippe?

Selbstverständlich erscheinen jetzt derartige Überschriften in Medien, die zum Bezahlabo verleiten wollen. Sie manifestieren das subtile Endspiel mit den Ängsten und Hoffnungen einer ganzen Bevölkerung. Auch gegen diesen Trend der aktiven Manipulation der öffentlichen Meinung regt sich wenig Widerstand.

Wie bei jeder großen Debatte sind im Grunde die schrillen Extreme der Verschwörungstheorien willkommen. Sie dienen immerhin der Mehrheit zur dialektischen Selbstvergewisserung: „Wir sind rational, weil sie so irrational sind!“ Nebenbei werden so stichhaltige Argumente, die zu diskutieren wären, durch die Assoziation mit der Boshaftigkeit der Verschwörer effizient verschüttet.

Dass man vor lauter Blättern den Wald nicht mehr sieht, ist ein Gleichnis, das noch für die digitale Informationsflut gilt. Die Unmöglichkeit von Wahrheit – dieser Eindruck ist die entscheidende philosophische Frage dieser Krise. Sie mündet in die Nachdenklichkeit über die diversen Glaubenssysteme, in denen wir uns heute wiederfinden.

#53 Grauzone
Die Debatte um die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen gegen die Pandemie spitzt sich weiter ideologisch zu. Dabei entsteht der leidige Eindruck, als gäbe es nur zwei Lager. Als müsse man zwischen absoluter Ablehnung oder Zustimmung entscheiden. Der Suche nach einer adäquaten Reaktion dient dies nicht. Vielmehr gibt es zwischen Schwarz und Weiß eine große Grauzone, die es argumentativ zu gestalten gilt.

Fakt ist: Das Virus ist nicht ungefährlich und ein völliger Verzicht auf Eindämmungsstrategien zum Schutz der Gesundheitssysteme wäre schlicht töricht.

Völlig legitim sind aber weiterhin intensive Diskussionen zum Stand der Wissenschaft, der Legitimität von Eingriffen in unsere Persönlichkeitsrechte und der Folgen für unsere Wirtschaft. Gefragt ist weder eine blinde Staats- oder Wissenschaftsgläubigkeit noch der hysterische Diskurs diverser Verschwörungstheorien. Wir leben in keiner Diktatur. Wir müssen nur – ähnlich wie beim Datenschutz – aufpassen, dass wir nicht in einer Angst- und Disziplinargesellschaft aufwachen, in der die Bürger ihre Rechte einfach freiwillig aufgeben.

#52 Fragen
BILD-online arbeitet an der Charakterbildung. „Dürfen“ wir nach Mallorca oder in die Schule? … Kinderfragen! Kinder fragen, ob sie mal eben rausdürfen. BürgerInnen fragen danach, ob staatliche Maßnahmen verhältnismäßig und rechtmäßig sind.

#51 Drosten
Ich kann schlicht nicht beurteilen, ob Herr Drosten ein guter Wissenschaftler ist.

Interessant fand ich allerdings sein Interview mit dem OFB. Es war sprachlich so von ihm strukturiert, dass er schon im ersten Satz das Wort „spanische Grippe“ bemühte. Diese Form der Grippe hat de facto Millionen Menschen hingerafft. Danach wurde das Corona-Virus von ihm vergleichend eingeordnet. Die Wirkung seiner Rhetorik – rund um diverse Signifikanten- und Assoziationsketten aufgebaut – beschränkt sich nicht nur auf eine wissenschaftliche Aussage.

Nachdem Drosten zum Symbol der Krisenbewältigung in den Medien wurde, muss er die politischen und ökonomischen Kollateralschäden – die auf Weisung der Wissenschaft eingetreten sind – nun stets als unvermeidliche Übel erscheinen lassen. Ob dies der wissenschaftlichen Objektivität dient?

#50 Kernbestand
Jede Lebensform hat einen Kernbestand, den es gegen äußere Widrigkeiten zu verteidigen gilt. Auch wenn die Moscheen geschlossen bleiben, fasten und beten wir. Auch wenn die soziale Not größer wird, üben wir Solidarität aus.

Wenn man davon ausgeht, dass die Maßnahmen zum Gesundheitsschutz uns auf längere Zeit begleiten werden, gilt es hier nachzudenken, ab welchem Punkt wir politischen Widerstand leisten müssen. Das hat nichts mit irrationaler Verweigerung gegenüber jeder staatlichen Maßnahme, die das Leben anderer schützen will, zu tun, noch ignoriert diese Position die Gefährlichkeit des Virus.

Hier geht es vielmehr um die Würde des Menschen, die eben nicht nur aus dem Willen, irgendwie biologisch zu überleben, besteht. Eingriffe in unsere Körper, in unsere Persönlichkeitsrechte verletzen überragende Rechtsgüter und dürfen von staatlicher Seite nur unter eindeutigen Voraussetzungen möglich werden. Diese Eindeutigkeit – zum Beispiel für eine Maskenpflicht – besteht aus wissenschaftlicher Sicht nicht.

Bedenklich wäre weiterhin, grundlegende Zweifel an diesen Vordnungen per se mit Verschwörungstheorien zu assoziieren und so aus dem öffentlichen Diskurs zu verdrängen.

Selbst, wenn man den Sinn dieser Pflicht bejaht, sollte man sich dennoch die Frage stellen, wo die Grenze effizienten Gesundheitsschutzes gegenüber der Menschenwürde künftig bestehen soll. Würden wir auch andere, radikalere Formen der Markierung schlicht geräuschlos akzeptieren? Sie sind jetzt schon technisch möglich und ihre Einführung durchaus eine reale Option.

#49 Ramadan-Gruß
Es ist so weit: Ein neuer Ramadan beginnt.

Wie viele andere war ich in den letzten Wochen in erster Linie zu Hause. Überhaupt war ich nie in meinem Leben so eine lange Zeit am selben Ort. Für meine Verhältnisse hatte ich sehr geringe, direkte soziale Kontakte. Die Wirkungen dieser staatlich verordneten Therapie auf mich waren bisher unterschiedlich, schwanken zwischen der Sorge um die anstehende Wirtschaftskrise und der Dankbarkeit für die geordneten Verhältnisse vor Ort. Selbst die Reiselust, die zu dieser Jahreszeit gewöhnlich einsetzt, wurde durch den täglichen, aufmerksamen Spaziergang in der unmittelbaren Umgebung recht gut kompensiert.

Der Ramadan ist eine weitere Übung. Schwer vorstellbar ist noch der Verzicht auf das gemeinsame Fastenbrechen, das gemeinsame Tarawwih-Gebet oder gar das ‘Id-Gebet. Aber am Kern der Erfahrung des Fastens wird sich wenig ändern: die Zuwendung zum Schöpfer, die Konzentration auf das Innere und die Erfahrung der wechselnden Zustände der eigenen Existenz.

Hinzu kommt dieses Jahr ein anderes Phänomen. Die Furcht vor den Folgen der Pandemie hat uns wochenlang bestimmt und war die Grundlage für unsere rationale Fürsorge. Angst ist etwas anderes als Furcht. Hier gilt zunächst die berühmte Mahnung: „Angst essen Seele auf“ (W. Fassbinder). Die Angst ist ein Existential, etwas was zu uns gehört als Individuen, eine wiederkehrende Stimmung und – zumindest für mich – eine Erinnerung an die Abhängigkeit des Menschen gegenüber seinem Schöpfer.

Für das Kollektiv gelten andere Maßstäbe. Angst darf nie zu einem dauerhaften Instrument freiheitlich gesinnter Politik werden.

In diesem Sinne wünsche ich Euch allen einen gesegneten Ramadan!

#48 Gewissheiten
„Werden in ein paar Monaten wahrscheinlich viel verzeihen müssen.“ Bundesgesundheitsminister Spahn, WELT Online

Der Chor, der die Effizienz staatlicher Maßnahmen gegen die Steigerung der Reproduktions- und Infektionszahlen im Rahmen der Pandemie bewertet, ist vielstimmig geworden. Einige Sänger tragen im Inbrunst der Überzeugung vor. Aber die Realität ist eher trivial.

Der Staat hat hier mit guten Gründen aus Vorsicht und eben auf unklarer wissenschaftlicher Basis gehandelt. „Die Weltgesundheitsorganisation scheint keine belastbaren Belege dafür zu haben, dass drastische Einschränkungen wie Kontaktverbote und Schließungen von Läden und Freizeiteinrichtungen etwas gegen eine Viruspandemie bewirken,“ schreibt Ralf Hutter emotionslos in telepolis.

Es gibt keine absolute Gewissheit über den Sinn der Eingriffe. Zeitgleich rücken die faktischen und gewissen Auswirkungen politischer Entscheidungen in allen gesellschaftlichen Bereichen stärker ins Bewusstsein. Ein Dilemma. Kein Wunder, dass die Notstandsmaßnahmen zunehmend ideologisch befürwortet oder eben bekämpft werden.

#47 Technik
„Moderne Technik fordert die Natur heraus“, ist eine alte Mahnung der Philosophen. Wie immer man zu dem Satz steht: In Zeiten der digitalen Revolution – von Gesundheit-App bis zur Blockchain-Technologie – ist eine reine Verweigerungshaltung utopisch. Technische Innovationen agieren jenseits von gut und böse, sie sind bedrohlich und faszinierend zugleich.

Auch unsere muslimischen Gemeinschaften können sich diesem Veränderungsdruck nicht entziehen und gestalten sich neu. Was immer der lokale Imam sagt und lehrt, seine Community ist parallel auf Onlineforen unterwegs und sucht dort nach dem letzten Stand der Gelehrsamkeit. Portale, die die Zakat erheben und verteilen, sind bereits online organisiert und real nicht mehr an die alten, auf Mitgliedschaft basierenden Organisationsstrukturen des letzten Jahrhunderts gebunden.

Moderne Technologien werden auch alte Institutionen der Muslime neu beleben. Die Struktur von Gilden lässt sich virtuell perfekt reorganisieren und bietet die Möglichkeit, dass muslimische Experten sich nicht nur neu aufstellen, sondern ihr Wissen den Muslimen zur Verfügung stellen. Eine der wichtigsten Expertengruppen werden dabei IT-Fachleute sein.

Kurzum, es entsteht gerade ein neuer Ideenwettbewerb, der unsere antiquierten (Vereins-) Strukturen in Frage stellt. Die Gestalt unserer Gemeinschaften wird sich im 21. Jahrhundert radikal verändern.

#46 Utopien
„Eine jede Idee tritt als ein fremder Gast in die Erscheinung, und wie sie sich zu realisieren beginnt, ist sie kaum von Phantasie und Phantasterei zu unterscheiden.“ (Johann Wolfgang von Goethe)

Utopien und Phantastereien haben einen schlechten Beigeschmack. Aber, sich eine Welt nach der Pandemie vorzustellen regt naturgemäß die imaginäre Kapazität des Menschen an. Hier dringt die innere Haltung zu Tage. Die einen malen sich die Katastrophe aus, die anderen sehen zahlreiche Chancen und neue Möglichkeiten. In solchen Zeiten entsteht eine neue Literatur und eine neue Kunst, die das Künftige auszumalen versucht.

Das Bild, das der – so genannte – politische Islam in den letzen Jahren etabliert hat, hinterließ Spuren. Der Versuch, muslimisches Leben umfassend und real zu etablieren, hat im Fall des unsäglichen „islamischen Staates“ verheerende Folgen gezeitigt. Die Radikalisierung junger Muslime hat ganze Gesellschaften in Atem gehalten. Nur mühsam ist es muslimischen Organisationen gelungen, ihre positiven Ziele, von den Machenschaften der Ideologisierten abzugrenzen.

Für die Zukunftsfähigkeit der Gemeinschaften ist eine Vision notwendig. Hier ist nicht nur eine gesteigerte Effizienz unserer Bürokratie gemeint. Wie könnte unser Leben in ein paar Jahren aussehen? Sind wir beispielsweise in der Lage neu soziale und ökonomische Impulse zu senden? Wie sähe unser ideales Gemeinwesen schlussendlich aus? Was sind unsere Vorstellungen von einer neuen Urbanität, die Muslime aktiv mitgestalten?

Es ist erstaunlich, dass unsere alten Modelle – seien es die Märkte, die Stiftungen oder die Gilden – plötzlich wieder an Aktualität gewinnen. Nein, es gibt kein Zurück in die Vergangenheit. Aber es besteht durchaus die Möglichkeit unter veränderten Bedingungen, in einer Welt der Technologie, Sinn und Bedeutung dieser Institutionen wieder zu beleben. Ein wenig mehr Vorstellungskraft in diesem Sinne sowie etwas mehr Phantasie würde uns Muslimen gut tun

#45 Übertreibungen

„Maßlose Übertreibung erleichtert das Verständnis.“ (Lenin)

Hinter das Zitat Lenins gehört fraglos ein Fragezeichen – insbesondere in Zeiten der intensiven Berichterstattung über die Pandemie. Kritische Argumente, die sich gegen die Maßnahmen des Staates oder die Bewertung der Gefährlichkeit des Virus richten, werden oft getrübt, weil sie in maßlose Übertreibungen eingebettet sind.

Die Bundesrepublik ist keine Diktatur. Wohl geht es aber um die Verhältnismäßigkeit staatlicher Verordnungen. Die Rolle des Kapitals ist bekannt, aber nicht jede finanzielle Unterstützung macht den Empfänger zum willenlosen Sklaven. Es braucht keine dunkle Verschwörungstheorie, um zu befürchten, dass die weltweite Pandemie eine willkommene Vorlage für den fälligen Neustart der Finanzsysteme liefert.

Selbst ein kluger Philosoph wie Giorgio Agamben kann irren, wenn er die aktuelle Situation mit den Ausnahmezuständen der Vergangenheit gleichsetzt, und dennoch korrekt einschätzen, dass einige staatliche Eingriffe die Würde des Menschen bedrohen.

Die Fähigkeit zur Unterscheidung setzt voraus, dass man weder gängigen Medien, noch alternativen Kanälen bedingungslos folgt. Vielmehr gilt der alte Grundsatz, dass die Wahrheit mit nicht geringer Wahrscheinlichkeit in der Mitte liegt.

Alternative Medien, die der hysterischen Übertreibung zugewandt sind und jedes Ereignis beinahe automatisch in die systematischen Denkmuster vergangener Tage einordnen, schaden letztlich der politischen Kultur.

#44 Alternativen
„Jetzt oder nie: Der Corona-Schock birgt die Chance auf eine bessere Welt“, liest man heute auf dem Titelbild des Spiegels. Die Botschaft hör ich wohl, allein es fehlt der Glaube…

Wird hier nur die anstehende Weltwirtschaftskrise als Notwendigkeit verkauft, deren fatale Konsequenzen nicht das Finanzsystem, sondern die böse Viren zu verantworten haben? Die bessere Welt wäre dann nach einem Neustart der Finanzmärkte möglicherweise nur eine Mischung aus nationalem Sozialismus und einer globalen Herrschaft der Monopole auf Grundlage von Schulden und virtuellen Währungen.

Oder besinnt sich der Mensch tatsächlich auf ein neues Maß und ein alternatives Wirtschaftsmodell in Harmonie mit den Ökosystemen sowie auf Grundlage realer Werte?

#43 Wissensrepublik
Der politischen Führung des Landes scheint ihre harte und direkte Machtausübung gegenüber dem Souverän, dem demokratischen Volk, eher unangenehm zu sein. Sie beruft sich in ihrem Wirken gegen das allgegenwärtige Virus nicht nur auf die Alternativlosigkeit ihres Handelns, sondern zusätzlich auf die Vorgaben der Wissenschaft, der sie leider folgen müsse.

Im dritten Band von Peter Sloterdijks „Sphären“ (Schäume), in einem Kapitel über die Wissensrepublik, beschreibt der Philosoph im Jahr 2004 den „gelegentlichen“ Einfluss des Wissenschaftlers noch wie folgt:

„In seiner Eigenschaft als Abgeordneter externer Wahrheiten und transzendenter Ideen erlangt der Wissenschaftler im Kollektiv Autorität, gelegentlich sogar Macht, sofern es ihm gelingt, die Mächtigen auf seine Seite zu bringen.“

Heute ist die Macht der Experten auf Entscheidungen der Regierungen nicht mehr zu übersehen. Denn, so ahnen wir, der normale Politiker ist ähnlich wie wir nicht in der Lage, komplexe wissenschaftliche Sachverhalte eindeutig einzuordnen. Die Folgen dieses Faktums sind eher paradox, sollten wir künftig nicht nur Parteien, sondern auch die Wissenschaftler und Experten dahinter wählen?

Sloterdijk zitiert hier, eher widerwillig, eine pessimistische These Skinners: „Das Volk ist nicht in der Lage, Experten zu beurteilen.“ Hier gibt es einigen Nachholbedarf, denn so schreibt er weiter: „Nicht wenige Zeitgenossen haben verstanden, daß sie selbst mit der Wahl des Experten das Ergebnis der Expertise wählen“.

Sollten wir daher in Zeiten dieser und kommender Pandemien künftige Regierungen wählen, müssten wir zumindest unser Wissen über die Experten des RKI vertiefen oder aber alternativ nach den Wissenschaftlern unseres Vertrauens Ausschau halten. Wir müssen schlicht mehr wissen über die „Influencer“ hinter der Macht. Nicht nur im Gesundheitsbereich ist die Macht der Wissenschaftler, Lobbyisten, Berater und Experten endgültig ein entscheidendes Politikum geworden.

#42 Verfassung
Hätte mir heute ein paar klärende Worte zum Umgang mit dem Kernbestand unserer Grundrechte gewünscht. Man denke nur an die Versammlungsfreiheit. Ebenso wäre es angebracht, dass Ministerpräsidenten bedauern, dass einige landesrechtliche Verordnungen (in der Eile) zumindest teilweise unverhältnismäßig und damit grundrechtswidrig ausgefallen sind.

#41 Masken
Auch wenn ich die Notwendigkeit der Maskenpflicht grundsätzlich einzusehen beginne, bleibt doch ein Widerstand in mir. Die Aussicht auf schnelle Bewegungsfreiheit lässt hier kritische Stimmen verstummen. Millionen Bürger, die öffentlich Masken tragen, ergeben ein Bild, das doch eher an Uniformität, als an Individualität erinnert. Der Mensch wird zum Objekt staatlicher Fürsorge, die direkt in seine Souveränität über seinen eigenen Körper eingreift. Im Gegensatz zur Karnevalsmaske, die eine subjektive Freiheit vorgaukelt, ist die Maskengesellschaft eher ein objektiver Ausdruck sozialer Tristesse.

Ulrike Baureithel beschreibt auf Freitag.de passend die neuen Trends im Gesundheitswesen. Minister Spahn verfolgt im Moment sein Projekt der digitalen Krankenakte – eine „Wirtschaftsförderung durch Big Data“, das neue Gold in der Datenwelt. Das erhabene Objekt dieser Ideologie, die Gesundheit, tritt jetzt mit erweitertem Anspruch auf – neben das Leitmotiv der vergangen Jahre, die Sicherheit.

Man wird abwarten müssen, wie sich diese Neue Welt der allgemeinen Staatsfürsorge weiterentwickelt. Wir sollten angesichts der Zweideutigkeit des Geschehens nachdenken, ob diese Trends in der Tat „gesund“ sind. Der Konflikt zwischen Menschenwürde und Hightech-Gesundheitssystemen tritt immer offener zu Tage.

#40 Botschaften
Jede Zeit empfängt ihre Botschaften in spezifischer, sprachlicher Codierung.

In einer säkularen Welt ist es nicht mehr ein Gott, der uns Botschaften sendet, wohl aber die Natur. Die reale Störung, die das Virus vermittelt, stammt aus diesem Bezirk. Viele Menschen suchen nach einer neuen, diesseitigen Ganzheitlichkeit, ohne gleichzeitig transzendierende Fragen ins Spiel zu bringen. Vielmehr soll der Mensch selbst, seine Wissenschaft und seine Technik die Welt retten.

Die Gleichung, dass der Mensch ein gewisses Maß überschritten hat und die Natur zurückschlägt, findet heute einige gesellschaftliche Akzeptanz. Die Bezugnahme auf eine höhere Macht ist dagegen eher verpönt. Seit Kant befindet sich diese Instanz jenseits der Dinge und kann nicht weiter das menschliche Denken bestimmen.

In seiner Faust-Dichtung behandelt Goethe viele Grundfragen, die das Verhältnis Gott, Natur und Mensch betreffen. Die Tiefen der Natur zu erforschen, ist Teil der geistigen und imaginären Visionen des Dramas. Sein politisch-technisches Projekt – mit all seinen Kollateralschäden – beruht auf der Nichtakzeptanz natürlicher Grenzen. Die Rettung des vom Willen zur Macht getriebenen Faust durch die göttliche Liebe ist dann die eigentliche Überraschung des 2. Teils.

Goethes Weltbild schließt das Göttliche nicht aus, auch wenn er dieser Wirklichkeit keinen konkreten Namen geben will. Michael Jaeger („Global Player Faust“) schreibt über diese Seite Goethes:

„Religiös in einem ganz allgemeinen Sinne war Goethe sehr wohl, nämlich im ursprünglichen, wörtlichen Verständnis der religio als spiritueller Ehrfurcht vor jenem dem menschlichen Willen – zur Macht – Unzugänglichen und Unverfügbaren, dem Goethe den dezidiert unorthodoxen Namen des Ewig-Weiblichen geben konnte…“

#39 Online-Religiosität
„Aus Kirchgängern werden Follower.“ (SPIEGEL Online)

Ungewöhnliche Zeiten erfordern ungewöhnliche Maßnahmen: Aus der Notwendigkeit heraus verlegt sich das religiöse Leben jetzt in diverse Onlineangebote. Wir begegnen uns nicht mehr real, sondern virtuell. Hier gilt das Grundgesetz aller technischen Innovation: Vor- und Nachteile entstehen gleichzeitig.

Das digitale Zeitalter schafft Unmengen an Informationen, Bilder und Eindrücke, die uns täglich herausfordern. Welche Eindrücke uns dabei wahrhaft berühren, treffen oder verändern, steht hier in einem Verhältnis von Blatt zum Wald.

Vor einigen Jahren wurde in Weimar Goethes Gartenhaus in erstaunlicher Perfektion kopiert und einige Meter vom Original neu aufgebaut. Die Frage war, ob die Erfahrung der Kopie mit der Wirklichkeit des Originalgebäudes vergleichbar sei. Ist der Imam, der uns im Video zuwinkt, irgendwie mit diesem Phänomen vergleichbar?

Sicher ist nur, dass die virtuellen Angebote das geistige Leben nicht nur erweitern, sondern neu strukturieren werden. Wir sind jetzt ortsunabhängig eingebunden. Wir wählen per Mausklick die Bezüge, die uns spirituelle, geistige oder bildende Erweiterung versprechen. Ob das auf Dauer zum Vorteil oder Nachteil, zur Vielfalt oder Beschränkung unseres geistigen Lebens vor Ort beiträgt, ist eine offene Frage.

„Langeweile, du bist ärger als ein kaltes Fieber.“ (Goethe)

In seiner berühmten langen, philosophischen Abhandlung hat Martin Heidegger die unterschwellige Beziehung des Daseins zu den verschiedensten Formen der sich andrängenden Langeweile untersucht. Der Mensch neigt dazu, der Erfahrung der Not und der Einsamkeit auszuweichen, indem er diverse Mechanismen des Zeitvertreibs einsetzt. Der Verzicht auf jegliche Unterhaltung ermöglicht dagegen die Bestandsaufnahme über das, was wirklich in uns und um uns ist.

Jeder trifft hier seine Wahl. Ich neige dazu, die Ausflüge in die virtuelle Welt zeitlich einzugrenzen. Das schafft eine Art der Einsamkeit, die ich als Vorbereitung für die Zeit danach, als Vorbereitung für eine neue Wertschätzung echter Gemeinschaft sehe.

Wenn Slavoj Zizek Recht hat, dass das Virtuelle gleichzeitig das Reale vorbereitet, dann mischt sich in den latenten Zweifel an der neuen Online-Religiosität immerhin die Hoffnung auf eine veränderte Realität, die später unseren Alltag neu inspiriert.

#38 Wissenschaft
„Die Natur hat sich so viel Freiheit vorbehalten, daß wir mit Wissen und Wissenschaft ihr nicht durchgängig beikommen oder sie in die Enge treiben können.“ (Goethe)

Der Streit der Wissenschafter um das Ausmaß und die Folgen der Pandemie erinnert uns, dass auch sie nicht in der Lage sind, so etwas wie eine objektive Wirklichkeit abzubilden. Es bleibt immer ein Rest an Unsicherheit und Zweifel.

Hier hat die gängige „Verschwörungstheorie“ einen Vorteil, da sie dem Rezipienten diesen Zweifel meist erspart. Es ist absehbar, dass jede, ganz egal welche, politische Entscheidung über neue Maßnahmen immer wieder neue Optionen für diese Ansätze stiften wird. Ebenso klar ist, dass der Staat der Bevölkerung die Entscheidung über den richtigen Weg abnehmen wird. Ob dieser Weg wahr ist, wird letztlich eine Glaubensfage sein.

„Jeder sieht was er sehen möchte“ hat ein Psychoanalytiker die Lage beschrieben. Als Folge dieses Umstandes werden wir wohl auf kafkaeske Verhältnisse zusteuern. Die Einen werden sich wie bei einer Grippewelle in einer Art der Normalität bewegen, während Andere fürchten, dass das tödliche Virus sich in der Luft verteilt.

Für eine wissenschaftliche Untersuchung bietet sich auch an, die langfristigen Wirkungen von Kontakteinschränkungen und sozialer Distanz zu untersuchen. Sorgloser Umgang verlagert sich heute in die virtuelle Welt. Was wird die Folge sein für unsere gesellschaftliche Realität?

„In den Wissenschaften ist viel Gewisses, sobald man sich von den Ausnahmen nicht irremachen läßt und die Probleme zu ehren weiß.“ (Goethe)

#37 Das Imaginäre
Wir können in den Tag hinein leben oder uns die Zukunft vorstellen.

In Deutschland hat eine Debatte begonnen, die erahnen lässt, wie unsere gesellschaftliche Zukunft in Zeiten der Pandemie aussehen könnte. Klar ist: Eine schnelle Rückkehr zur gewohnten Realität scheint ausgeschlossen.

Unsere Tage bestimmen neue Formen der online-Religiosität, virtuelle Räume schaffen so etwas wie Kommunikation. Eine neue Kunstform, das online-Tagebuch, beschreibt, was ist und eines Tages sein könnte. Die Visionen schwanken zwischen Untergangsphantasien und Hoffnungen auf Neuanfang.

Auch die Wissenschaft schläft nicht. Nur ein Impfstoff, haben wir gelernt, dessen massenhafte Verbreitung technologisches Neuland mit ökonomischen Aussichten verbinden wird, verspricht die endgültige Lösung des Problems. Hier sind der Phantasie über das Morgen keine Grenzen gesetzt.

So las man schon in einem Fachmagazin im Dezember 2019: „MIT researchers have now developed a novel way to record a patient’s vaccination history: storing the data in a pattern of dye, invisible to the naked eye, that is delivered under the skin at the same time as the vaccine.“

Das heißt, der biologische Zustand eines Menschen könnte digital aufgezeichnet, implantiert und durch Sensoren und Videokameras überwacht werden. Ein solcher markierter Mensch würde – folgt man dieser Idee – durch Privilegien belohnt werden. So wäre beispielsweise der Zugang zu Großveranstaltungen wieder möglich.

In dieser Art der Weltanschauung wird uns kein Gott, sondern eine neue Technologie retten. Wie immer man sich hier positioniert: Die Frage nach der Technik wird Europa weiter philosophisch beschäftigen.

Heute ist ein weiterer Freitag, an dem wir Muslime auf das gemeinsame Gebet verzichten müssen. Es mangelt dennoch nicht an geistigem Zuspruch. Er wird in unseren Foren täglich verbreitet. Wie steht es aber mit unserer Imagination über die Zukunft unserer Gemeinschaften? Werden wir eines Tages in unsere Moscheen zurückkehren und weiterleben?

Man mus kein Pessimist sein, um sich vorzustellen, dass auch Muslime von den sozialen und ökonomischen Verwerfungen, die sich aus der Bewältigung der Pandemie ergeben, betroffen sein werden. Bereits heute engagieren sich viele einzelne und Organisationen in der Nachbarschaftshilfe und leben Solidarität vor.

Steckt da mehr in uns und in den Quellen, die wir abrufen können? Wir sollten neu nachdenken, welche unserer Institutionen und Einrichtungen im 21. Jahrhundert neue Bedeutung gewinnen könnten.

#36 Zivilcourage
Seien wir ehrlich: Man möchte nicht in der Haut von Politikern stecken, die bei ihren Entscheidungen zwischen möglichen menschlichen oder ökonomischen Katastrophen abzuwägen haben und insofern eine enorme Verantwortung tragen. Selbstverständlich schleichen sich in schnell durchgeführten Verfahren handwerkliche Fehler ein.

Allerdings schaut man sich in einem Land schon um, wer in ihrer Substanz betroffene Grundrechte verteidigt und – wenn nötig – Zivilcourage zeigt. Die beiden großen Worte von gestern. Mein kleiner Held ist hier zum Beispiel ein lokaler Anwalt, der eine grundrechtswidrige Verordnung einer Landesregierung entsprechend prüfen lässt und Recht bekommt.

P.S.: Apropos Wissenschaft – der gesamten hochrangigen Rechtswissenschaft des Landes ist der Grundrechtsverstoß nicht aufgefallen.

#35 Cashkurs
Heute habe ich eine kurze Ergänzung zu meinem Eintrag „Reine Innerlichkeit, Spiritualität“ anzubieten.

Grundsätzlich habe ich versucht, zu sagen, dass der Ort, von dem wir sprechen, idealerweise eine Einheit von inneren und äußeren Aspekten umfassen sollte. Es geht weder um reine Innerlichkeit, noch um Äußerlichkeiten. Vielmehr dreht sich die Suche um eine mögliche Position, die Handeln und Wissen umfassen kann.

Inmitten der Pandemie sucht man nach Figuren, von denen man diesbezüglich lernen kann. Das bedeutet nicht, dass man diese Persönlichkeiten völlig unkritisch als Vorbild nimmt. Sondern eher, dass man einfach versucht, zu lernen. In diesem Kontext gefällt mir Dirk Müller (oder Dr. Dax).

Warum? Hier gibt es verschiedene Aspekte, die mir auffallen. Da ist zunächst eine spürbare, einfache Spiritualität und ein klarer ethischer Kompass. Da sind aber auch soziale und ökonomische Überzeugungen und persönliche Interessen – aber immer verbunden mit praktischen Handlungsanweisungen für Andere.

Diesem Rat mag man dann folgen oder eben nicht. Aber Müller spricht auf seine Weise von diesem Ort der inneren und äußeren Einheit. Ein Zeichen für diese Verortung – ob alleine oder mit Anderen – ist die eigene Selbstbestimmtheit und Unabhängigkeit.

Intellektuell ist er kritisch, manchmal gewagt, aber nie in dem Sinne, dass er eine „Verschwörung“ oder ein Feindbild nötig hat, um sein inneres und äußeres Gleichgewicht zu manifestieren.

Interessant ist übrigens ein einfacher Rat, den ich von ihm vernommen habe: „Schreiben Sie ihre Absichten in ein Buch, ohne Hemmungen – aber seien Sie vorsichtig, diese Anrufungen könnten sich manifestieren.“

#34 Menschenwürde
In meinem Bundesland musste die Landesregierung über Nacht erlassene Verordnungen und Ausgangsbeschränkungen korrigieren. Diese waren in Teilen schlicht und einfach grundrechtswidrig. Warum geht es?

Wie immer muss man sich hier zunächst vor einer simplen Dialektik hüten. Es gibt nicht zwei Lager: die einen, die alle staatliche Maßnahmen notwendig halten und die anderen, die alle Maßnahmen ablehnen. Vielmehr gibt es auch eine mittlere Position: ja, die Grundrechtseingriffe sind notwendig, aber sie müssen auch verhältnismäßig, erforderlich und geeignet sein.

Eine kleine Anwaltskanzlei hatte beim örtlichen OVG diesbezüglich einen Eilantrag gestellt. In einigen Städten wären ganze Viertel in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt worden, statt den, in kleinen Wohnungen lebenden Menschen ausreichend „Auslauf“ zu ermöglichen. Erstaunlich, dass die abgetauchte Opposition im Land sich vollkommen passiv verhielt.

Selbstverständlich bleibt es aus meiner Sicht Bürgerpflicht, die Regelungen grundsätzlich mitzutragen. Genauso notwendig ist es aber, den Widerstand gegen Problemlösungen, die den Wesensgehalt von Grundrechten gefährden oder die Menschenwürde an sich in Frage stellen, nicht einfach aufzugeben.

Fraglos ist die Bundesrepublik selbst in diesen Zeiten nicht mit einer Diktatur zu vergleichen. Aber die Sorge ist berechtigt, dass unter dem Druck, das „biologische Überleben“ der Menschen effektiv zu organisieren, keine schleichende Veränderung des Menschenbildes einsetzt.

Am Horizont erscheint beispielsweise das Szenario, Menschen „virtuell“ als Kranke oder Gesunde zu registrieren. Man wird aufpassen müssen, dass diese Markierungen nicht auch real unseren künftigen Alltag bestimmen.

Wir wollen alle überleben – aber in Würde.


#33 Menschenwürde
In meinem Bundesland musste die Landesregierung über Nacht erlassene Verordnungen und Ausgangsbeschränkungen korrigieren. Sie waren in Teilen schlicht grundrechtswidrig. Warum geht es?

Wie immer muss man sich hier zunächst vor einer simplen Dialektik hüten. Es gibt nicht zwei Lager: die Einen, die alle staatliche Maßnahmen notwendig halten und die anderen, die alle Maßnahmen ablehnen. Vielmehr gibt es zusätzlich eine mittlere Position: Ja, die Grundrechtseingriffe sind notwendig, aber sie müssen selbstverständlich verhältnismäßig, erforderlich und geeignet sein.

Eine kleine Anwaltskanzlei hatte beim örtlichen OLG diesbezüglich einen Eilantrag gestellt. In spezifischen Städten wären ganze Viertel in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt worden, statt den in kleinen Wohnungen lebenden Menschen ausreichend „Auslauf“ zu gestatten. Erstaunlich, dass die abgetauchte Opposition im Land sich vollkommen passiv verhielt.

Natürlich bleibt es aus meiner Sicht Bürgerpflicht, die Regelungen grundsätzlich mitzutragen. Genauso notwendig ist aber, den Widerstand gegen Problemlösungen, die den Wesensgehalt von Grundrechten gefährden oder die Menschenwürde an sich in Frage stellen, nicht simpel aufzugeben.

Selbstverständlich ist die Bundesrepublik in diesen Zeiten nicht mit einer Diktatur zu vergleichen. Aber die Sorge ist berechtigt, dass unter dem Druck, das „biologische Überleben“ der Menschen effektiv zu organisieren, keine schleichende Veränderung des Menschenbildes einsetzt.

Am Horizont erscheint beispielsweise das Szenario Menschen „virtuell“ als Kranke oder Gesunde zu registrieren. Man wird aufpassen müssen, dass diese Markierungen nicht zusätzlich real unseren künftigen Alltag bestimmen.

Wir wollen alle überleben, aber mit Würde.

#32 Lockerungen
Im Haushalt stellen sich erste Lockerungen ein. Gestern Abend teilt meine Tochter mit, dass sie auf eine Party eingeladen ist. Da bin ich tatsächlich souveräner geworden. Ich frage nicht, wer alles kommt käme oder wie lange das Ganze ginge. Nein. „Natürlich!“, sage ich einfach. Auch heute Morgen verkneife ich mir die übliche Fragerei. Man muss den jungen Leuten schlicht ihren Freiraum lassen! Und ihre Internetverbindung…

#31 Symbolpolitik
Das Tragen selbstgebastelter Schutzmasken ist umstritten. Letztendlich ist das eine Frage für Mediziner. Aber gleichermaßen bei dieser Maßnahme sind Zweifel aus anderen Gründen durchaus legitim. Darf der Staat auf diese Weise über unsere Körper – die letzte Bastion unserer Freiheit – bestimmen? Hier kann man unterschiedlicher Meinung seine, aber eben auch dies gilt: dass die Würde und Selbstbestimmung des Menschen unantastbar ist. Auch, oder besser, gerade in Krisenzeiten.

#30 starker Staat
Die Pandemie geht notgedrungen mit dem Ruf nach einem starken Staat einher.

Umfragen belegen es. Die tragenden Regierungsparteien erfahren im Moment ein hohes Maß an Unterstützung. Notgedrungen. Vater Staat meldet sich zurück; nicht nur mit den härtesten Notstandsmaßnahmen seit dem 2. Weltkrieg, sondern gleichzeitig zusätzlich mit gigantischen Rettungspaketen. Gebannt wartet die Bevölkerung jetzt auf die nächsten Schritte unserer Regierungen – zunächst selbstverständlich auf die Erlösung aus der Isolation.

Die Logik dahinter beschreibt Dietmar Pieper auf Spiegel-Online:

„Wenn das Gefühl überhandnimmt, dass die alten Gewissheiten verloren gehen, dann vergewissert sich die Gemeinschaft ihrer selbst. Die Bewohner eines Landes suchen nach dem, was sie über alle Unterschiede hinweg verbindet. Und das ist der Staat, in dem sie leben.“

Kurzum: Der Staat schützt uns, versorgt uns und gibt uns Sicherheit. Der französische Sozialphilosoph Pierre Bourdieu deutet in seinem Buch „Über den Staat“ einen weiteren Hintergrund unseres Staatsverständnisses an:

„Achtung, alle Sätze die den Staat als Subjekt haben, sind theologische Sätze – was nicht heißt, dass sie falsch wären, insofern der Staat eine theologische Entität ist, das heißt eine Entität, die durch den Glauben existiert“.

Es gilt ebenso in diesem Kontext, die allgemeinen Regel des Denkens nicht einzustellen. Ja … natürlich … ein Staat wie die Bundesrepublik, der seinen ganzen, gewaltigen Apparat zur Bewältigung einer Krise einsetzen kann, verdient nicht nur Kritik, sondern ebenso Lob. Aber der Glaube an den Staat als allmächtigen Versorger und Regulierer wird in den nächsten Monaten auf dem Prüfstand stehen. Schon jetzt steht die Politik unter enormen Druck: nicht nur keine tödliche Fehler im Umgang mit der Pandemie zu begehen, sondern zusätzlich die Erwartungen der „Gläubigen“ in der zu erwartenden Weltwirtschaftskrise zu erfüllen.

Viele BürgerInnen stellen sich bereits jetzt die Frage: Wird die Stärkung des Staates mit einer Schwächung der Zivilgesellschaft einhergehen? Wie wird sich der Ausbau staatlicher Befugnisse in Zeiten aktueller und künftiger Krisen mit unseren Bürgerrechten vertragen? Wird ein neues System der allgemeinen Fürsorge unsere Abhängigkeit vom Staat vertiefen?

Aus zivilgesellschaftlicher Sicht sind wir auf die Krise eigentlich nicht vorbereitet. Soziale Netzwerke oder private Stiftungen spielen im Vergleich zur staatlichen Macht nur eine Nebenrolle. Es droht eine Verödung unserer Innenstädte und die Schwächung der Regionalwirtschaft. Es wird in ökonomischer Sicht weiterhin spannend sein, wie der Staat mit den Krisengewinnern umgehen wird: jenen Monopolen, die sich aus der gestärkten Online-Wirtschaft und der zentralisierten Versorgungsstrukturen ergeben.

Der Glaube an den allmächtigen Staat…. wir werden in den nächsten Monaten sehen, wie sich dieses Postulat mit dem Anspruch auf Freiheit verträgt.

#29 Strafe
„Die Pandemie ist die Strafe Gottes!“, ist eine einfache, allzu einfache Formulierung, die nicht nur bei Philosophen oder Naturwissenschaftlern Widerwillen hervorruft. Wir erinnern uns ebenso an die Abgründe derjenigen Gläubigen, die die sogenannte Strafe Gottes gleich selbst in die Hand nehmen wollten.

Gleichwohl hören wir angesichts des ökologischen Zustands dieser Erde andere Wortspiele, die weniger problematisch erscheinen. Die Natur „straft“ uns, „rächt sich“ an unserer Maßlosigkeit. Das sind Sätze, die heute eher Akzeptanz finden. Die Einsicht Heideggers, dass die moderne Technik zumindest in Teilbereichen ein „Herausfordern der Natur“ darstellt, dürfte nicht nur den Philosophen beschäftigen.

Dass Viren Teil der Evolutionsgeschichte sind, beschäftigt wiederum den Naturwissenschaftler. Faust, der im 2. Teil des Faust-Dramas, zu den „Müttern“ (den Urphänomenen) hinabsteigen soll, befällt großer Schrecken, angesichts der Vorstellung, den unbekannten, unsichtbaren Gründen und Tiefen unserer Schöpfung zu begegnen.

Es gibt einen berühmten Dialog des griechischen Philosophen Sokrates. Er wird gefragt, ob der Ungerechte nicht große Vorteile gegenüber dem Gerechten hat. Sokrates antwortet sinngemäß: Nein, denn die Strafe für den Ungerechten besteht in seinem Handeln und Tun selbst. Der strafende Gott, der von Außen in das Geschehen eingreift, war demnach aus Sicht des griechischen Philosophen gar nicht notwendig.

Das Thema bewegt sich aus muslimischer Sicht im Feld unserer Theologen und Gelehrten. Aber auch der einfache Gläubige wie ich ist sich bewusst, dass der Qur’an aus guten Nachrichten und ernsten Warnungen besteht. Wir sind inmitten der Schöpfung. Im Gegensatz zu einer Zwei-Weltenlehre erfahren wir die Macht des Schöpfers im Jenseits und Diesseits, in der Einheit. Ehrfurcht vor der Macht des Schöpfers ist ein wichtiger Ausdruck unserer Lebenspraxis.

Es liegt jetzt nahe, dass wir den Fakt der mangelnden Anerkennung und Überschreitung spezifischer Grenzen nicht mehr in Beziehung zu den Maßgaben der Offenbarung bringen. Und: Selbstverständlich auch auf Barmherzigkeit zu hoffen. Sicher ist: Die Absicht, die Bedeutung von Ereignissen, aus philosophischer und theologischer Sicht heraus zu hinterfragen, ist ein Gebot der Stunde. Denken und praktizieren schließen sich Gott sei Dank in unserer Lebenspraxis niemals aus.

#28 Positionen
Die ewige Wiederkehr des gleichen philosophischen Problems: Gibt es so etwas wie eine gemeinsame, objektive Wirklichkeit? In den Diskussionen über den Sinn und die Notwendigkeit staatlicher Maßnahmen in Zeiten der Pandemie zeigen sich hier die üblichen Schwierigkeiten. Auf welchen objektiven Erkenntnissen basieren denn unsere Entscheidungen?

Das Problem zeigt sich im Austausch mit Anderen. Die meisten Menschen neigen dazu, recht schnell eine Position anzunehmen; das heißt, zu glauben, das Virus sei entweder gefährlich oder ungefährlich. Darauf folgend kommt der Schluss, dass die Maßnahmen übertrieben oder notwendig seien. Danach arbeitet das Unterbewusstsein: Eingehende Informationen, die die einmal entschiedene Position in Frage stellen, werden eher verdrängt.

Das Subjekt, das spricht, übernimmt meist – so doch oft unbemerkt – einen Diskurs des Anderen. Wir neigen demnach dazu, wie Experten (der Wissenschaftler, der Ökonom, der Ethiker) zu sprechen, indem wir den Diskurs, den wir gelernt haben, übernehmen. Die Situation der Pandemie verstärkt diesen Effekt, weil wir ihn meist nicht in praktischer Erfahrung, sondern nur in der Theorie nachvollziehen können.

Es bilden sich Echokammern. In den sozialen Medien sind wir meist von Menschen umgeben, die unsere Grundpositionen teilen. Der Erkenntnisgewinn ist beschränkt, da wir so nur unsere eigene Selbstvergewisserung erleben. Die imaginäre Mitte, wo sich unterschiedliche Positionen, aus verschiedenen Orten, ernsthaft austauschen oder im besten Fall annähern, bleibt meist unbesetzt.

„Ich weiß, dass ich nichts weiß“, ist keine banale Erkenntnis; insbesondere dann, wenn wir uns den Grundlagen unserer Erkenntnisverfahren bewusst werden. Echte Kompetenz zeigt sich im Besonderen in der Erfahrung eines Restzweifels und einem Rest an Unsicherheit.

Ideologie dagegen muss immer Recht haben. Sie bildet ein dunkles System, in das kein Licht von außen mehr einfällt. Der Bewusstseinsstrom, der sich in uns abbildet, durch uns fließt und uns fortlaufend zu Veränderungen und Korrekturen unserer Überzeugungen zwingt, reißt ab und wird in einer Sprache symbolisiert, die eine objektive Feststellung des Geschehens beansprucht.

#27 Ideologie
Gibt es positive, gar notwendige Formen der Ideologie?

Laut Slavoj Žižek berufen sich politische Überzeugungen gerne auf „erhabene Objekte der Ideologie“, um die eigene Position als die absolut Überlegene zu etablieren. Das Erhabene definierte schon Kant als das, „was schlechthin groß ist“, und sich so durchaus als Gottesersatz eignet.

In den letzten Jahren führten die Debatten der Bundesrepublik um bestimmte Objekte wie „Natur“ oder „Volk“ zu heftigen Kontroversen. Je nach ideologischer Verortung schien eine Ökodiktatur oder die Rückkehr des nationalistischen Staates zumindest möglich.

Heute diskutieren wir eine dritte Möglichkeit: die Etablierung eines „biologischen Überwachungsstaates“, der künftig das überragende Schutzgut „Gesundheit“ gewährleisten soll. Die Gesellschaftsstruktur ist angesichts der Pandemie im Schockzustand. „Das Virus bricht nun plötzlich mitten in die wegen des globalen Kapitalismus immunologisch stark geschwächte Gesellschaft ein“ und wird als „permanenter Terror empfunden“, beschreibt Byung Chun Han das Ereignis.

Die absolute Mehrheit der Bevölkerung unterstützt – unter dem Eindruck der Bilder des Totes – im Moment noch die Maßnahmen im Ausnahmezustand. Das ist ein wichtiges Merkmal, das nicht zur Idee eines simplen Staatsstreiches passt. Allerdings mehren sich die Stimmen, die die Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns anzweifeln und die Entscheidungen auf Grundlage von umstrittenen Statistiken kritisch begleiten.

Am Horizont spitzt sich eine Frage zu: Können gewohnte Bürgerrechte dem Druck, der sich aus den zahlreichen Bildern möglicher Katastrophen ergibt, am Ende Stand halten?

#26 Europa
Es ist interessant zu beobachten, wie erste Politiker in dieser Krisenwelt der zahlreichen Notwendigkeiten und technischen Möglichkeiten ihren Habitus verändern…

„Denn wenn der Staat eingestandermaßen eine Gemeinschaft ist, und zwar eine Gemeinschaft von Staatsbürgern, so kann, so scheint’s , wenn die Verfassung der Art nach eine andere wird und die Verfassung verschieden ist, auch der Staat nicht mehr derselbe bleiben, wie wir ja auch einen Chor, der bald als komischer und bald als tragischer auftritt, einen anderen nennen, wenn auch die Personen of dieselben sind.“ (Aristoteles, Politik, 3. Kapitel)

#25 Hierarchie
Bei den Wissenschaften gibt es Hierarchien.

Millionen Menschen verfolgen im Moment gebannt den akademischen Diskurs. Ein Impfstoff gegen das Virus könnte die Probleme einer ganzen Welt lösen. Die Erlösung, sie wird wohl bereits – so Gott will – in einem Reagenzglas vorbereitet.

Selten waren Wissenschaftler so präsent in den Medien.

Hier gelten im Auswahlverfahren die Gesetze der Hierarchie, die wissenschaftliche Expertise, der Titel sowie der Rang. Experten sind in den meisten Fällen aber nicht vollkommen frei, sie stehen in Beamtenverhältnissen, sind Angestellte, Teil von Lobbygruppen oder sogar in direktem Verhältnis mit Pharma-Konzernen. Das spricht nicht per se gegen sie, man sollte nur nicht völlig vergessen, dass es eine freie Wissenschaft so nicht gibt.

In der entscheidenden Frage, der Beurteilung von Auswirkungen der Pandemie, sind im Grunde nur noch zwei Stimmen im Angebot: die Rede des wahren, bewunderten Wissenschaftlers im Scheinwerferlicht gegen die Einflüsterungen des falschen, verachtungswürdigen Verschwörungstheoretikers im Darknet. Möglicherweise ist die Lage in Wirklichkeit so eindeutig, dass sich diese Dialektik rechtfertigt. Wenn auch die banale Lebenserfahrung dann außer Kraft gesetzt wäre, dass die Wahrheit manchmal in der Mitte zu suchen ist.

Fakt ist: Kritische, fundierte Stimmen gegen die Regierungspolitik sind aus dem Bereich der Wissenschaft kaum noch zu vernehmen. So vermisst man eine überzeugende Argumentation, die erschütternden Opferzahlen wissenschaftlich einwandfrei und ohne Zweifel ausschließlich mit dem Coronavirus in Relation zu setzen. Endgültige Klarheit wird es nach den Gesetzen der Logik erst nach Pandemie geben können. Man muss aber kein Verschwörungstheoretiker sein, um sich zu erinnern, dass Statistik auch lügen kann.

Wer heute in Universitäten studiert, im Grunde unabhängig vom Fach, wird beobachten können, dass in vielen Fachgebieten kaum alternative Theorien gelehrt werden. Dieses Phänomen der „herrschenden Lehre“ gilt insbesondere in den wichtigen Wirtschaftswissenschaften. In der Diskurstheorie diskutiert man schon länger über dieses Phänomen.

Es ließe sich so auf den Punkt bringen: Der kapitalistische Diskurs dominiert die Wissenschaften.

#24 Weltwirtschaftskrise
Existentielle Krisen sind anstrengend.

Ich verstehe jeden, der seine Aufmerksamkeit im Moment runterfährt und sich mit der veränderten Situation eben so gut wie möglich arrangiert. Wer dagegen Kapazitäten frei hat, sollte den radikalen Veränderungen im ökonomischen Sektor ins Auge sehen.

Je länger ganze Volkswirtschaften still stehen, desto wahrscheinlicher werden ungeheure soziale Verwerfungen. Es droht eine weitere Verschiebung realer Werte hin zu Konzernen und kapitalkräftigen Investmentfonds, die über kurze Zeit Zugang zu gigantischen Geldmengen haben, während tausende kleinere Betriebe und Unternehmer weltweit die Segel streichen müssen. Nach einer Deflation droht im weiteren Verlauf eine Inflation, wenn auch das letztere, durchaus bedrohliche Wort etwas aus der Mode gekommen ist.

Nebenbei gibt die Situation indirekt eine Vorlage: Viele Menschen werden das Virus als Schuldigen ausmachen, während Politiker und Investoren ihre Hände in Unschuld waschen können. Es war ja die Viruskrise, die für alles verantwortlich ist und nicht ein Finanz- und Wirtschaftssystem, dessen Untergang – in seiner derzeitigen Form – viele Fachleute seit Jahren prognostizieren.

Muslime wird diese Situation ebenso vor ungeahnte Herausforderungen stellen. Wir sitzen im gleichen Boot, die Pandemie verschont uns genauso wenig, wie die sich abzeichnende Weltwirtschaftskrise. Wer in dieser Zeit das Phänomen und die potentielle Rolle des Islam wirklich verstehen will, muss sich seiner sozialen und ökonomischen Dimension zuwenden. Es gibt hier ein enormes Bildungsdefizit.

#23 Faust & Italien
Ach, Italien… Im Januar war ich noch beruflich in Rom und besuchte unter anderem das Goethe-Haus in der Innenstadt. Selbstverständlich hatte ich keine Ahnung, dass Italien kurze Zeit später Schauplatz der größten Krise der Nachkriegsgeschichte sein würde. Bilder aus den Krankenhäusern Norditaliens stehen heute für die Abgründe, die sich aus der Pandemie entwickeln, während Delfine, die sich in der Lagunenstadt Venedig tummeln, ebenso zur Besinnung anregen.

Die berühmte Italienreise Goethes (1786-1788) steht am Beginn der Faszination, die dieses Land bis heute auf Reisende ausstrahlt. Die Erfahrungen, die der Dichter in seinen Reiseschilderungen mit uns teilt, sind wichtig für das Verständnis des „Faust“. Das legendäre Werk nimmt wiederum Aspekte aller Krisen dieses Jahrhunderts vorweg.

Nach einem – heute würde man sagen – Burnout, der sich aus den zahlreichen Verpflichtungen am Weimarer Hof und einer Schaffenskrise ergab, flüchtete der Dichter 1786 über Nacht aus der Stadt. „Schweigen vor Glück“, mochte Goethe als Italienwanderer in dem Augenblick, da endlich die kaum zu bändigende Begierde, nach Rom zu kommen, gestillt ist. Er ist begeistert, „Schauen, Staunen, Schweigen“ – „wie wahr, wie seiend“ ruft er im Land seiner Träume aus. Goethe bewegt sich in der Tradition der antiken Philosophie, in der Übung, das Bewusstsein auf den Augenblick und auf das gegenwärtig hier Seiende zu richten.

Goethe verlässt das Land 1788 aus recht profanen Gründen, die Pflicht ruft und die Lohnzahlungen seines Fürsten sind auf Dauer nicht mehr zu erwarten.

Im Nachgang zitiert Eckermann im Oktober 1828 Goethe wie folgt: „Ja, ich kann sagen, daß ich nur in Rom empfunden habe, was eigentlich ein Mensch sei, – Zu dieser Höhe, zu diesem Glück der Empfindung bin ich später nie wieder gekommen, ich bin, mit meinem Zustande in Rom verglichen, eigentlich nachher nie wider froh geworden. Doch wollen wir uns nicht melancholischen Betrachtungen hingeben.“

Hier manifestiert sich letztlich Goethes Kritik am Begriff der Moderne, deren Zeit- und Geschichtsmodus und deren Kennzeichen er in der Aufhebung der Gegenwart versteht. Im „Faust“ spiegeln sich diese Umstände in dem berühmten Pakt, den der „ewig Ungeduldige“ Faust mit Mephistopheles eingeht. Faust behauptet, dass keine teuflische oder magische Verführungskraft ihn in eine Lage bringen könnte, in der er „Augenblick verweile“ ausrufen würde.

In diesem Pakt diktiert Faust das moderne Gesetz der permanenten Revolution, die desgleichen keinen Augenblick zur Ruhe, nie ans Ziel gelangen darf, die immer auf der „Flucht nach vorn“ ist. (Michael Jaeger, Global Player Faust).

Faust wird zum Archetypus der Moderne. Im zweiten Teil des Dramas, schaffen Faerust und Mephistopheles das Papiergeld, ein magisches Symbol der Macht, der endlosen Expansion und etablieren rücksichtslos und gegen alle Gesetze der Natur ihr Projekt der Kolonialisierung.

#22 Restzweifel
Wenn man in grelles Scheinwerferlicht blickt, wird man leicht blind.

Wie ihr wisst, teile ich die Auffassung, dass sogar harte Maßnahmen zur Verhinderung des Zusammenbruchs des deutschen Gesundheitssystems gerechtfertigt sind. Allerdings – finde ich – sollte man einen Restzweifel nicht unterdrücken. Die Erfahrung lehrt: Insbesondere wenn die gesamte Medienlandschaft ein Phänomen bis in die letzte Ecke ausleuchtet, ist ein objektives Erkenntnisverfahren erschwert.

Beispiele dafür sind:
– Man sollte weiter darüber nachdenken, ob es für die offensichtliche Überlastung der Gesundheitssysteme in Italien, Spanien und Frankreich andere Gründe haben könnte. So sterben zum Beispiel in Krankenhäusern, die Probleme mit Krankenhauskeimen haben, mehr Menschen.

– Statistik hat immer ihre fragwürdige Seiten. Die Erhebung und Bewertung von „Big Data“ lässt stets Interpretationsspielraum offen.

– Verständlicherweise steht die Politik unter enormen Druck, „tödliche“ Fehler zu begehen. Dies bedroht naturgemäß den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

– Das föderale System der Bundesrepublik hat sich bewährt. Der Ruf – unter dem Eindruck der Pandemie – nach einem starken Zentralstaat ist zumindest diskutabel.

– Das deutsche InfektionsschutzG ist aus juristischer Sicht eine schwache Grundlage für massive Grundrechtseinschränkungen (die eine ganze Bevölkerung betreffen). Hier wird es sicher im weiteren Verlauf der Krise eine Debatte geben müssen.

Wir müssen gerade jetzt zwischen dummen Verschwörungstheorien und ernsten, substantiellen Zweifeln an staatlichem Handeln unterscheiden.

#21 Sprache
Zeiten existentieller Erfahrung spiegeln sich in unserer Sprache und im Sprachgebrauch wider.

Die Ausbreitung des Corona-Virus – wie immer wir ihn deuten oder definieren wollen – ist ein geschichtliches Ereignis, dem man sich nicht so leicht entziehen kann. Seine reale Wirkung zeigt sich in der symbolischen und imaginären Ordnung, in der wir uns bisher eingerichtet haben. Sie ist erschüttert, verändert und löst sich in Teilbereichen auf; unabhängig, ob wir die Lage als temporäre Störung, endgültige Katastrophe oder potentielle Chance bewerten wollen.

Diskurse verschieben sich. Der wissenschaftliche Diskurs dominiert den politischen. Ideologische Positionen verlieren ihre Bedeutung, die allgemeine Sorge um die Gesundheit verdrängt sie. Signifikante Worte – zum Beispiel „Bürgerrechte“ – lösen sich zeitweise auf, während der Begriff des „Ausnahmezustandes“ plötzlich unsere Realität bestimmt. Radikale Entscheidungen werden ohne lange Diskussionen gefällt.

Wir realisieren deutlicher, von welchem Ort wir sprechen: aus der Sicherheit oder aus der Not – von Erfahrung geprägt oder von Spekulation getrieben.

Sätze fallen anders.

Wir zitierten gestern kluge Worte der Philosophen, Weisheiten, wie zum Beispiel: „Der Verzicht nimmt nicht, er gibt.“ Heute erfahren wir selbst ihre reale Bedeutungen und den eigentlichen Gehalt der Aussagen in Form einer praktischen Übung. Wir bemerken, als Sender derartige Botschaften, dass sie an dritten Orten ganz anders treffen können: im Flüchtlingslager oder in Afrika. Was hier Weisheit artikuliert, kann dort wie Zynismus wirken.

Unsere Zustände fließen, wir Muslime kennen dieses Phänomen aus dem Ramadan. Wir schwanken zwischen Gerede und Schweigen. Wir sehen dem Realen ins Auge und verdrängen es wieder. Wir erfahren Einsamkeit, Stille und Isolation als existentielle Vertiefung, Erweiterung, Geschenk oder Langeweile. Wir entscheiden.

Das Virtuelle wird zum Fluchtort. Die verlorene Gemeinschaft wird in der Imagination gesucht. Dies kann – im Sinne Zizeks – durchaus als Vorbereitung für eine künftige Wirklichkeit begriffen werden. Oder es ist Ausdruck der Verdrängung; der hilflose Versuch, uns schnell in eine Pseudonormalität zu phantasieren.

Allein das Gebet steht wie ein Fels in der Brandung – unberührt, standhaft – in den Wogen dieser Zeit.

#20 Shutdown
Zu den schönsten Reiseerinnerungen meines Lebens gehört ein Besuch in einer Moschee in Soweto. Ich erinnere mich gut an diese Nacht, die wir mit gemeinsamen Gebeten verbracht haben. Diese Muslime sind arm. Ihre Gastfreundschaft betraf das nicht, das gemeinsame Abendessen bleibt mir unvergesslich.

Möge Allah sie alle schützen.

Heute lese ich den folgenden Beitrag eines Muslims aus Afrika: „For the first time since this outbreak began, my spirit is down. What will the poor of this country eat for 21 days if they cannot leave their homes? This shutdown cannot work, no matter how well-meaning the president is.“

Diese Worte fallen, auch in meine eigenen Einschätzungen der Lage.

Das Reale kann sprachlos machen.

#19 Dilemma
„Auf der einen Seite wollen wir die Zahlen runterdrücken, damit die Intensivstationen nicht überlastet sind. Doch wenn wir zu gut sind, werden wir das Problem haben, dass es sehr lange dauert, bis wir eine sogenannte Herdenimmunität erreichen.“ Hendrick Streeck, Uni Bonn

#18 Relevanz
Hände waschen, soziale Kontakte einschränken usw., sich nicht von Ängsten oder Panik bestimmen lassen, beten, Gottvertrauen – all dies sind die geboten Vorsichtsmaßnahmen und Einstellungen in Zeiten einer Pandemie.

Am Horizont erscheint gleichzeitig ein anderes Szenario: Geldentwertung, Massenarbeitslosigkeit und soziale Verwerfungen. Genauso darauf muss man sich vorbereiten. Die Relevanz von Wissen, gleicherweise über den Islam, verschiebt sich daher langsam.

Sind wir vorbereitet? Quellen haben wir, auch wenn praktische Modelle derzeit eher die Ausnahme sind. In den meisten Rechtsbüchern des Islam sind lange Kapitel über das Wirtschaftsrecht, soziale Institutionen oder Vertragsformen zu finden…

#17 Folgen
Und siehe da … es regnete Geld vom Himmel. Die Menschen staunten über die wundersame Geldvermehrung.

#16 Hamstern
„Ach, was könnte nicht alles geschehen!“ (Franz Kafka)

„Hamstern“ ist ein Begriff, den ich aus Erzählungen meiner Mutter kenne. Die verarmte Stadtbevölkerung machte sich in Kriegszeiten auf den Weg aufs Land, um ein paar Kartoffeln oder Eier zu ergattern. Wieder ein Wort, das sich heute anders auflädt. Heute beschreibt es den von Ängsten getriebenen Einkauf im Supermarkt und damit einen Moment in unserer Zivilisationsgeschichte.

In Franz Kafkas Abhandlung „Der Bau“ wird kein Hamster beschrieben, sondern der Bewusstseinsstrom eines Tieres, das verzweifelt versucht, sich abzusichern. In seiner Burg betreibt es seine Art der Vorsorge. „Auf diesem Burgplatz sammle ich meine Vorräte, alles, was ich über meine augenblicklichen Bedürfnisse hinaus innerhalb des Baus erjage, und alles, was ich von meinen Jagden außer dem Hause mitbringe, häufe ich hier auf.“ Der Rückzug gelingt – trotz aller Maßnahmen – nicht wirklich. Es bleibt das Gefühl tiefer Verunsicherung. „Das schönste an meinem Bau ist aber seine Stille. Freilich, sie ist trügerisch. Plötzlich einmal kann sie unterbrochen werden und alles ist zu Ende.“

Die Sphäre, die sich in und um den Bau bildet, würde man heute als „kafkaesk“ beschreiben. Trotz aller Bemühungen bleibt das Vorhaben zur Erreichung maximaler, materieller Absicherung letztlich sinnlos.

„Ich lebe im Innersten meines Hauses in Frieden und inzwischen bohrt sich langsam und still der Gegner von irgendwoher an mich heran.“ Das Tier verlässt schließlich seinen Bau und beobachtet seinen Höhleneingang, die Umgebung. Hin und her gerissen, ob der völlige Rückzug und die Meidung seiner Umwelt geboten ist. Was dem Tier Kafkas trotz all seiner Instinkthandlungen fehlt, ist existentielle Gewissheit.

Selbstverständlich ist es Teil der menschlichen Sorge in einer Krise, maßvoll entsprechende Vorräte anzulegen. Wir lesen ja schon die Nachrichten von möglichen Versorgungsengpässen. Nach dem „Corona-Wochenende“ (BILD) werden wir schon wieder neue Besorgungen machen.

Kurzum: Wir Muslime ignorieren nicht einfach nur das Reale der Krise. Aber wir erinnern uns zusätzlich gegenseitig an die Tiefe unserer Offenbarung. Wir lesen sie jetzt täglich neu.

In der Sura At-Tauba heißt es: „Sprich: ‘Uns kann nichts passieren, außer dem, was Allah für uns bestimmt hat. Er ist unser Meister. Auf Allah sollten die Gläubigen vertrauen.’“

Und der Prophet sagte: „Wie wunderbar ist die Angelegenheit des Gläubigen; In allem ist Gutes für sie, und dies gilt nur für Gläubige. Wenn Wohlstand sie begleitet, drücken sie Allah Dankbarkeit aus und das ist gut für sie; und wenn ihnen Widrigkeiten widerfahren, ertragen sie es geduldig und das ist gut für sie.“

#15 Einordnung der Lage
Die aktuelle Lage muss man gedanklich angemessen einordnen, um dann die Natur unserer Entscheidungen zu verstehen.

Stufe 1: die wissenschaftliche-medizinische Einordnung des Coronavirus

a) Das Virus ist für die absolute Mehrheit symptomatisch ungefährlich. Für die Meisten gilt daher: Panik? Selbstverständlich nicht! Der Laie wird hier sagen, dass es sich um eine Art Grippe handelt.

b) Wir reagieren jetzt drastisch, weil die Ausbreitung exponentiell erfolgt. Das simple und logisch nachvollziehbare Ziel lautet: Erkranken zu viele Menschen gleichzeitig ernsthaft, könnte unser Gesundheitssystem zusammenbrechen. Theoretisch ließe sich das einfach in Kauf nehmen, nur die ethischen Folgen dieser Strategie wären katastrophal.

Stufe 2: die notwendige ethisch-politische Einordnung

a) Es gilt bisher der Grundsatz, dass die Mehrheit verpflichtet ist, eine bedrohte Minderheit zu schützen. Es geht (so Gott will) dabei nicht um uns (siehe oben), sondern um den Anderen. Das ist eine ethische Entscheidung.

b) Der Ausnahmezustand greift massiv in unsere Bürgerrechte ein. Dabei lautet eine offene Frage, wie lange eine lebendige Gesellschaft diese Maßnahmen akzeptieren kann, muss oder will. Das ist eine politische Entscheidung.

Stufe 3: die ökonomischen Folgen

a) Die getroffenen Maßnahmen haben wirtschaftliche Folgen. Machen wir uns hier unnötig Sorgen? Nein. Diese Sorgen sind völlig gerechtfertigt. Auch unsere Schulden und die Geldmengen werden ein weiteres Mal exponentiell wachsen.

b) Es droht eine veränderte Gesellschaft, die von der Dynamik von Gewinnern wie Monopolen und Krisenverlierern wie Arbeitslosen zerrissen wird.

#14 Stresstest
Ein Land im Stresstest. Alles ist im Steigen. Schaubilder zeigen stark ansteigende Kurven: die Zahl der Infizierten, die Geldmenge und die Zahl der Experten.

Surprise! Surprise! Verschwörungstheorien gedeihen auf so gut wie jedem idealen Nährboden. Die möglicherweise wichtigste Erzählung geht in etwa so: Das Corona-Virus ist kaum schlimmer als jede Epidemie zuvor, aber böse Kräfte im Finanzsystem schüren jetzt die Panik, um ihren Machenschaften effektiver nachgehen zu können. Wenig überraschend sind derartige „Experten“ eher nicht in Colmar, Bergamo oder Heinsberg zuhause.

Grundsätzlich sind ideologisch motivierte Kritiker am Finanzsystem den Fallstricken ihrer Dialektik ausgesetzt. Hier mag die Hysterie paradox wirken: Was geschieht mit der eigenen Daseinsberechtigung, wenn der Feind plötzlich untergeht? Selbstverständlich ergreift die Regierung Maßnahmen, dann zum Wohle von Wallstreet. Realisiert sie diese nicht, dann ebenso zum Wohle der Wallstreet. Überhaupt ist jedes denkbare geschichtliche Ereignis in dieser Logik immer und in jedem Fall Resultat der Machenschaften geheimnisvoll agierender Eliten.

Die Immunität gegen simple Erklärungsmodelle, bedeutet keinesfalls, dass wir das Denken einstellen. Hier gibt es zunächst mehr Fragen als leichte Antworten:

Wem nützt künftig das Quantitive Easing, die ungezügelte Produktion von Geldmengen in Trillionenhöhe? (Tatiana Koffman kommentiert auf Forbes-Online: „In der Tat wurde die quantitative Lockerung als universelles Grundeinkommen für reiche Menschen bezeichnet, da sie die Bedürftigen, während einer Krise nicht direkt betrifft.“)

Wie gehen wir mit dem Argument Giorgio Agambens um, wonach der Ausnahmezustand radikal in unser Dasein eingreift und unser Rückfall auf das „nackte Leben“ und das reine „biologische Überleben“ den Sinn und die Würde unserer Existenz bedroht?

Wachen wir nach dieser Krise in einer Welt auf, in der unsere Abhängigkeit von staatlicher Fürsorge, Monopolen sowie gigantischer Verschuldung keine gesellschaftlichen Alternativen mehr zulässt?

Wir erleben heute eine Phase radikaler Vereinzelung und sozialer Isolierung. Das darf nicht umsonst sein. Sondern wir müssen diese neue Realität als eine Vorbereitung für eine andere Welt verstehen.

#13 „Im Namen der Freiheit“
„Im Namen der Freiheit“ – dieser Buchtitel fällt mir auf, als mein Blick über das Bücherregal schweift.

Das Buch ist noch in eine Folie eingepackt. Ich hatte es vor Jahren gekauft und dann wieder vergessen. Heute ruft es nach meiner Aufmerksamkeit, in einer Zeit, in der die Ausgangssperre über dem öffentlichen Raum schwebt. Wir verstehen nun den Grund für die Beschränkungen unserer Freiheit. Aber: Wir sehnen uns sofort wieder nach den gewohnten Privilegien – sei es die Versammlungsfreiheit oder eine Reise nach Italien.

Michel Onfray hat das Buch geschrieben. Es ist eine Biographie über einer meiner Helden, die ich, bevor ich Muslim wurde, gerne gelesen hatte: Albert Camus. Als ich jung war, schien mir das Postulat des „Absurden“ eine treffende Zustandsbeschreibung deren persönlich und der allgemeinen Lage. Im Inhaltsverzeichnis gibt es ein Kapitel zur „Lebenskunst für Katastrophenzeiten“ und folgerichtig ein Abschnitt über „die Pest“, dem berühmten Buch des Franzosen.

Die Pandemie, der wir uns heute ausgesetzt sehen, hat gottlob nichts mit der Pest des Mittelalters zu tun. Aber Camus beschreibt in dem Buch ebenfalls mehr als nur eine medizinische Krise. Die Seuche trägt eine Symbolik mit einer zeitlosen Bedeutungsvielfalt in sich. Sie ist für ihn eine Metapher für den Totalitarismus, der die Bevölkerung, aber gleichermaßen uns, jederzeit befallen kann. Unter dem Eindruck des Faschismus schreibt er so bis heute gültige Sätze: „Der Faschismus kommt nicht von außen. Er ist von Menschen geschaffen. Er kommt nicht vom Himmel, sondern von der Erde. Wenn ihr in nicht wollt, gibt es ihn nicht.“

Camus sorgte sich zeitlebens um die Opfer, weniger die Mächtigen. Seine Haltung ist klar: „Ich sage nur, dass es auf dieser Erde Plagen und Opfer gibt und dass man sich, so weit wie möglich, weigern muss, auf Seiten der Plage zu sein.“ (Die Pest, S 288) Jede Krise ist demnach eine Chance zur Charakterbildung, ein Aufruf zum Widerstand gegen den inneren und äußeren, sichtbaren und unsichtbaren Feind. Der Dichter fordert den Menschen, der sich im Zaum hält – also das Individuum, dem die Zähmung des Tieres im Innern gelingt.

Bis heute schätze ich den Dichterphilosophen, auch wenn ich die verführerische Theorie des Absurden, längst durch die ganzheitliche Praxis des Islam ersetzt habe. Propheten kamen, um guten Charakter zu vervollständigen. In Krisenzeiten zeigen sich diese Charaktere – nicht in ihrer Rhetorik, auch nicht in der religiös angehauchten Floskel –, sondern in ihrem Handeln und Tun.

#12 Logik
In der aktuellen Krise muss man seine Aussagen möglichst einer Logikprüfung unterziehen. Sonst droht ein neuer Virus. Dann werden die Maßnahmen der Regierung pauschal in Frage gestellt und die Menschen weiter verunsichert.

Fakt ist, die Mehrheit aller in Deutschland lebenden Menschen wird das Virus – Gott sei Dank – gesundheitlich nicht schädigen. Das wurde auch nie behauptet.

Die absolute Mehrheit der Bevölkerung schützt eine Minderheit, die – bei einem rasanten Ausbruch der Pandemie – ernste Probleme bekommen könnte. Von dieser Schnittmenge wird wieder eine Minderheit ins Krankenhaus müssen. Geschieht dies zu schnell und zu sprunghaft, würde das Gesundheitssystem schnell und nach aller Logik an seine Grenzen kommen.

Helden (die wir brauchen werden, wenn es darauf ankommt) sind aufgerufen, die aktuelle Lage im Elsass und in Norditalien genauer zu studieren. Diese Lage ist neu und eben nicht mit den „normalen“ Grippewellen vergangener Tage zu vergleichen. Natürlich fahren hier alle nur auf Sicht und jede Maßnahme muss fortlaufend überprüft werden.

Die Regierung hat im Moment eine ethische Grundsatzfrage beantwortet. Man stelle sich vor, sie würde anders entscheiden: Also unnötig viele Tote in Kauf nehmen, um zum Beispiel das eigene Wirtschaftssystem zu schützen.

Eine völlig andere Frage ist, wer in dieser Krise Gewinner und Verlierer sein werden. Spätestens seit 2007 wissen wir, dass unser Finanzsystem fragil aufgebaut ist und keine globale kritische Situation so leicht übersteht. Das haben wir eher verdrängt und erleben jetzt die Dynamik des Zusammenbruchs. Um dies zur Kenntnis zu nehmen, bedarf es aber keiner Verschwörungstheorien.

Sorgen sollte die schnelle Aufhebung und Einschränkung diverser Bürgerrechte machen. Denn, so zeigt die Vergangenheit, diese Rechte werden uns nicht automatisch wieder zufallen. Hier bedarf es der Wachsamkeit.

Ein Gelehrter hat mir einmal eine zeitlose Formel vermittelt: „Hoffe auf das Beste und sei für das Schlimmste vorbereitet.“

#11 Das Dilemma
Ein unsichtbarer Virus.
Sichtbare Einschränkungen.
Eine Wissenschaft, die uns belehrt.
Ein Staat, der uns plötzlich rigoros regiert.
Eine Ökonomie, die in ihren Grundfesten erschüttert ist.

Die komplizierte Lage vermittelt sich naturgemäß als tiefe Verunsicherung: Was ist notwendig, gegebenenfalls aber auch übertrieben? Geht man besser auf Nummer sicher, oder sind die getroffenen Maßnahmen auf Dauer schädlicher als das Virus selbst?

Faust:
Da steh ich nun, ich armer Tor,
Und bin so klug wie stets zuvor!

Im Netz entwickeln sich hier die Positionen mehr oder weniger dynamisch – inklusive der üblichen Verschwörungstheorien. Jeder scheint die Botschaft zu senden, die ihm in der misslichen Lage den maximalen Genuss verspricht. Typen sprechen: der Unbelehrbare, der Belehrende, der Vernünftige, der Fromme, der Zyniker, der Wissende und der Kritiker. Manche Beiträge spiegeln die Überraschung, den Zweifel, den Verlust an Überzeugungen. Wir begegnen gleichzeitig jenen Zeitgenossen, die es schon immer wussten und praktisch jede Krise augenblicklich und spielerisch in ihre jeweilige Ideologie integrieren.

Wie immer ist auch der innere und äußere Ort interessant, von dem gesprochen wird: aus der Gelassenheit heraus, mit spürbarer Kompetenz, aus dem Argwohn, aus der Theorie, aus der Praxis oder aus dem Krankenhaus, aus der betroffenen Zone, aus dem Schaukelstuhl sowie vom Schreibtisch.

Gibt es so etwas wie objektive Wirklichkeit?

Immerhin, wir lernen zum Beispiel auch über das Phänomen des exponentiellen Wachstums. Muslime kennen das Phänomen schon im Rahmen der alten Zinsberechnungen. Das Wachstumspotential der Viren bildet heute eine Kurve, die merkwürdig an die Entwicklung der globalen Staatsschulden erinnert. Beides deutet Folgen und die Grenzen der Beherrschbarkeit an.

Auf Twitter erscheinen Bilder von Venedig, die Gassen sind so leer, wie das Wasser in der Lagune rein ist. Es entstehen Orte der Sehnsucht, die uns nicht zugänglich sind. Wir reisen zunächst im Innern.

Da alles still steht, müssen wir nicht schnell Endgültiges sagen. Wir haben nun Zeit, die Puzzleteilchen auf uns einwirken zu lassen. Vielleicht bilden die neuen Signifikanten bald eine Ordnung, in der wir uns morgen sicherer bewegen.

#10 Hamsterkäufe und innere Not
Nicht jeder Mensch ist gleich gut auf die anstehenden Veränderungen vorbereitet.

Der irrationale „Rush“ auf das Toilettenpapier zeigt ein Symptom, das man nicht nur verächtlich machen sollte. Es deutet auf eine profunde Not hin. Es ist eine unbewusste Handlung, die interessanterweise tiefer geht als die Angst vor dem Hunger. Hier äußerst sich die Angst vor dem Verlust der Würde und den Rückfall in das „nackte Leben“.

Die Begegnung mit elementaren Ängsten ist eine Übung, die leichter fällt, wenn eine Philosophie oder ein Glauben trägt. Wer hier den Mitmenschen etwas anzubieten hat, für den ist es an der Zeit zu sprechen!

#9 Nutzen wir die Gelegenheit
Die Menschheit geht nicht unter, wohl aber verändern sich die Perspektiven.

Langsam ahnen die Menschen, dass der Staat als gewohnter Allversorger ausfallen könnte. Im besten Fall ist er künftig in der Lage, ein allgemeines Grundeinkommen einzuführen. In einer weniger günstigen Prognose wird er seine Leistungen nach einer Weltwirtschaftskrise stark zurückfahren müssen.

Für uns Muslime – nutzen wir die Zeit – gilt es, neben unserer spirituellen Stärke unsere Kompetenz zu sozialen und ökonomischen Einrichtungen zu erneuern. Stiftungen, lokale Märkte, echtes Geld sowie Zakat sind hier die Stichworte, die wir in einer digitalen Welt neudenken und aktualisieren müssen.

#8 Das Virus und das Reale
Das Reale zeigt sich nicht in Statistiken, es wirkt in uns.

Sorge ist zunächst ein Existential und stellt sich naturgemäß ein. Wir besorgen die Lage, soweit wir das eben können.

Dann gilt es sich, dem inneren Feuerwerk zu stellen. Unsere imaginäre Vorstellungen: Was wäre wenn? Was könnte sein und was dann? Das kann spannend sein. Denn man spürt, wie sich die Priorität der Ängste langsam dem Elementaren zuwendet. Da fällt auch viel ab, was uns gestern noch verrückt machte. Es erscheint heute schon banal. So stellt sich langsam ein neuer innerer Haushalt ein und trägt zur Gesundung bei.

Die Sonne scheint. Der Augenblick lädt zum Verweilen ein. Wir wussten schon länger, dass der Fortschritt und die ewige Flucht nach vorne auf Grenzen stoßen müssen.

Die Offenbarung lehrt, wie man mit dem Realen der Situation umzugehen hat. Immer. Das Gebet erfüllt seine Funktion. Nicht als Flucht, sondern als Bekenntnis, dass da etwas Größeres in uns und um uns wirkt.

#7 Bastionen der Freiheit
Die Regierung verbietet Versammlungen mit mehr als fünf Personen. Das heißt: ade Bürgerrechte. Die letzte Bastion der Freiheit ist nun das Internet: Aber, nüchtern betrachtet: Schauen wir mal.

#6 Das Symbolische
Unsere symbolische Ordnung ist kein Haus aus Beton, in dem wir nur Mieter sind.

Dieser Grunderfahrung – ausgelöst von einer Störung aus dem Realen – sind wir heute ausgesetzt. Sprache verändert sich per Notwendigkeit. Zum Beispiel tauchen neue Signifikanten auf, wie „Triage“, die jetzt unsere imaginäre Vorstellung neuordnen. Meldungen, die uns gestern bedeutsam erschienen, verlieren – vergleichbar zum Geschehen an der Börse – ihren Wert.

Da die Bevölkerung über lange Zeit schon von irrationalen Ängsten geprägt ist, wird die neue Rationalität der Gefahr enorme Auswirkungen haben. Politisch ist unsere Ordnung erschüttert, gewohnte Bürgerrechte lösen sich in Luft auf. Ökonomisch bleibt alles beim Alten. Das Finanzsystem meldet sich mit seinem absoluten Anspruch zurück: „Whatever it takes.“

Alle diese Phänomene sind gefährlicher als das Virus selbst.

Wir werden sehen, dass unsere muslimischen Repräsentanten bedeutungslos werden, da ihre Signifikanz in den Medien vom Händedruck mit Politikern, aber nicht von relevanten Inhalten bestimmt wird. Das islamische Wirtschaftsrecht, Zakat, Stiftungen und unsere soziale Kompetenz werden in der Zukunft dagegen mehr Interesse finden. Zumindest dann, wenn es mehr Muslime gibt, die darüber sprechen.

#5 Die Geldpressen laufen
Sorge, Vorsorge und Fürsorge sind selbstverständlich das Gebot der Stunde. Darüber hinaus gilt aber auch, das Denken nicht einzustellen.

Besondere Aufmerksamkeit sollten wir dem dynamischen Geschehen auf der ökonomischen Bühne schenken. Die Fragen, die sich schon aus der Finanzkrise 2007/8 ergaben, wurden uns mehr oder weniger als gelöst verkauft. Allerdings liefen seitdem die Papiergeldpressen heiß, ohne dass wir uns der Frage nach der Ethik der Geldproduktion (Hülsmann) und den praktischen Folgen gestellt haben.

Die neue Coronakrise wird diese Dimension modernen Wirtschaftens nochmals neu entfesseln – mit bisher ungeahnten Dimensionen, da sie absolut alternativlos erscheinen wird. Schon heute sind die zahlreichen Verlierer klar: An den Börsen haben beispielsweise die Rentenkassen bereits gigantische Summen verloren. Gewinner werden dagegen die immer kleinere Zahl der Menschen sein, die über reale Werte verfügen. Was nun?! Denkt nach!

Es ist bedenkenswert, dass während der Finanzkrise 2007/8 der Islam als ökonomische Alternative kurz diskutiert wurde. Am Horizont erschien er so als Teil einer Lösung. Der folgende Aufstieg des sogenannten politischen Islam hatte diese konstruktive Debatte im Keim erstickt. Er wurde zum Teil eines Problems.

#4 Distanz und Solidarität
Vielleicht muss man diesen Begriff klären. Im Kontext der Pandemie meint dies, auf (unnötige) körperliche Nähe im Austausch mit Mitmenschen zu verzichten. Das ist nicht mit sozialer Kälte zu verwechseln!

Natürlich sind Muslime gerade jetzt aufgefordert, ihre Solidarität und soziale Kompetenz abzurufen. Das heißt, sich zum Beispiel darauf vorzubereiten, wie man in seinem Umfeld in Not geratenen Mitmenschen – wie ältere Nachbarn – künftig helfen kann usw.

#3 Nachricht aus Italien
Heute erhalte ich eine Nachricht von einem engen Fraund aus Norditalien:

Good morning,

I feel necessary to inform you that the situation about the virus here in Italy is a lot worst than we aspected. The Italian government has tempestively acted with the best possible countermeasures but many people are nevertheless dying in a horrific way and lonely.

Who is found positive is insulated and no relative can see him or her anymore, unless he or she survives!

I hope to be wrong but my strong impression is that other European countries are very late in the countermeasures and that this will lead to a disaster.

We are anyway, alhamdulillah, so far well.

#2 Soziale Distanz
Hm… Alltagspossen. O, Macht der Gewohnheiten. Den freundlichen Mann in der Werkstatt will ich wie üblich per Handschlag begrüßen. Er weicht zurück, wie von der Tarantel gestochen. Ich rette dann die Situation, indem ich mich souverän mit für den Fauxpas entschuldige und mit der Handbewegung zum Herzen, eine neue, sofort akzeptierte, und adäquate Begrüßungsform einleite. Allerdings grüße ich ihn jetzt, ebenso gewohnheitsmäßig sofort mit einem herzlichen „As Salaamu ‘alaikum“. Kurze Irritation, dann lachen wir gemeinsam. Soziale Distanz kann neue Türen öffnen…

#1 Das Virus und die notwendige Gelassenheit
Man liest heute viel über Panik und Hysterie, die das weltweit verbreitete Corona-Virus auslöste. Die Vernunft gebietet, dass man sich von diesem Zustand nicht anstecken lässt. Allerdings ist die Sorge um das eigene und das Wohlbefinden Anderer Teil unserer menschlichen Natur und eine grundlegende Seinsweise unserer Existenz. Der Mensch ist auf dieser Grundlage – im Gegensatz zur Panik – immer auch zur Vorsorge fähig, begleitet mit einer nüchternen Reflexion, Sinnsuche und Analyse der Lage.

Das Problem mit dem Virus fällt in eine Zeit, in der der Mensch sich unter dem Stichwort Globalisierung eingerichtet hat. Ewiges Wachstum, andauernde Beschleunigung, vollständige Kontrolle sind Maximen, die sich mit den Prinzipien der Natur nur schwer in Einklang bringen lassen. Schon Goethe hat sich mit diesem Grundwiderspruch im Faust beschäftigt: Das expansive Streben sowie der Herrschaftswille des modernen Menschen trifft dort auf die Grenzen der Natur. Oder wie der Dichter an anderem Ort mahnt: „Die Natur hat manches Unbequeme zwischen ihre schönsten Gaben ausgestreut.“

Wenn wir heute der unheimlichen Störung aus der Welt der Biologie ausgesetzt sind, betrifft das unsere imaginäre und symbolische Ordnung, die wir nach jeder neuen Krise immer mühsamer aufrechterhalten. Signifikante Begriffe unserer symbolischen Ordnung, wie zum Beispiel Menschenrechte, Demokratie und Gerechtigkeit haben unserer Politik bisher absolute Legitimität verliehen. In unserer Vorstellung sollte es eine Welt der Perfektion werden: Märkte die den Wohlstand verteilen, bürgerliche Gesellschaften sowie eine Technik, die uns bei der Umsetzung dient. Schon länger driftet aber das, was sein soll, und das Bestehende weit auseinander.

Es gehört zu den paradoxen Folgen der Epidemie dieser Tage, dass sie mit ihren, unserer Politik entzogenen Mitteln, einen faktischen Zustand der Mäßigung schafft. Weniger Konsum, weniger Reisefreiheit, weniger Ressourcen-Verbrauch sind in etwa die Verhaltensweisen, die wir für ein Überleben der Menschheit in der Theorie angemahnt hatten. Dass das konkret Notwendige mit derart schmerzlichen Folgen verbunden ist, gehört zur unausweichlichen Tragik der menschlichen Situation.

Unsere Hoffnung, dass diese Einschränkungen nur ein vorübergehendes Phänomen darstellen und nach einigen Monaten wieder der Vergangenheit angehören, deutet auf unseren geistigen Ort, den wir im Projekt der Moderne längst klaglos eingenommen haben. Wir Unverbesserlichen sehen in jeder dramatischen Krise nur noch eine kurzzeitige Störung. Vergessen wir nicht, mit dem Predigen von Mäßigung gewinnt man heute keine Wahlen, sie ist vielmehr eine Position, die der Politik von uns nur im Ausnahmezustand gewährt wird.

Die Aufforderung zur sozialen Distanz – der faktischen Entfernung zum Mitmenschen – korrespondiert merkwürdig mit dem Vorwurf der sozialen Kälte, der unsere Gesellschaften schon länger trifft und sich nun, und sei es nur für einige Monate, als Einheitlichkeit der Lebensumstände entfalten. Das Denken in Kausalitäten verbietet hier jede Konstruktion eines Zusammenhangs. Aber man mag hier dennoch einen Bedeutungszusammenhang sehen; nicht im Sinne einer Verschwörungstheorie, wohl aber bezüglich einer ganzheitlichen und nachdenklichen Bestandsaufnahme unserer Situation im Ganzen.

„Gelassenheit ist eine anmutige Form des Selbstbewußtseins“, schrieb Marie von Ebner-Eschenbach einmal. Muslime haben kein gesondertes, geheimnisvolles Schutzschild gegenüber biologischen Katastrophen anzubieten. Islam beansprucht vielmehr nur, eine natürliche Lebenspraxis zu sein, die auf jede Lage, sei sie gut oder schlecht, passt. Es ist eine Praxis, die keinen menschlichen Fortschritt ablehnt, aber Mäßigung anempfiehlt und in jeder Lage, so wie sie eben ist, Trost, gutes Verhalten und Solidarität ermöglicht. In der Tat sagte der Prophet (möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben): „Die Gläubigen gleichen Halmen auf einem Feld, die der Wind hin und her wogen lässt.“