
(iz). Ali Mete kam 1982 in der Türkei zur Welt und kam mit fünf Jahren nach Deutschland. Er studierte Religionswissenschaft in Frankfurt, ist aktuell Geschäftsführer des PLURAL Verlags und war Chefredakteur des Magazins „IslamiQ“. Aktuell ist Ali Mete Generalsekretär der Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş. Mit ihm sprachen wir über seine Aufgaben im Verband, die Rolle der türkischen Politik sowie über Herausforderungen für die Community.
Islamische Zeitung: Lieber Ali Mete, Sie sind seit Kurzem IGMG-Generalsekretär. Was ist an neuen Aufgaben und Pflichten auf Sie zugekommen?
Ali Mete: Mir wurde dieses Amt in einer Zeit anvertraut, in der sich die Welt in vielerlei Hinsicht im Wandel befindet. Der Ukraine-Krieg und seine Folgen stellen uns genauso vor neue Herausforderungen wie der Klimawandel. Wir als weltweit aktive islamische Religionsgemeinschaft müssen uns mit diesen Fragen auseinandersetzen, darüber diskutieren und schauen, wie wir Muslime unseren Beitrag leisten können. Insofern sehe ich viele neue Aufgaben und Pflichten.
Islamische Zeitung: Die IGMG begreift sich als grenzübergreifende Gemeinschaft und unterhält in verschiedenen Ländern Ableger. Besteht da eine Spannung zwischen dem internationalen Anspruch und gleichzeitig, lokale Religionsgemeinschaft zu sein?
Ali Mete: Die Moscheegemeinden der IGMG befinden sich in der Tat rund um den Globus – wenn auch mit Schwerpunkt in Deutschland. Wir haben insgesamt 40 Regionalverbände in Europa, Asien, den USA bis hin nach Australien. Diese transnationale Kultur der IGMG wird in den Debatten in Deutschland oft nicht berücksichtigt. Sicher bringt diese Größe gewisse Herausforderungen mit sich, ich würde sie aber nicht als Spannung bezeichnen. Die Organisationskultur ist auf Interaktion ausgelegt, und zwar sowohl mit der Zivilgesellschaft als auch mit den jeweiligen nationalen oder regionalen Regierungen etc. Jede Form des positiven und konstruktiven Austauschs wird von uns ausdrücklich begrüßt und auch gefördert.
Die Herausforderung einer jeden grenzüberschreitenden Gemeinschaft liegt darin, eine gewisse Binnenidentität und -solidarität zu pflegen. Hier sind die religiöse Lehre und daraus abgeleitete Positionen, wie etwa soziale Teilhabe, Religionsfreiheit oder Solidarität von zentraler Bedeutung. Mit dem letzteren ist zum Beispiel der Umma-Gedanke verbunden, den wir nicht nur mit stetiger humanitärer Hilfe weltweit konkret umsetzen, sondern auch mit Formaten wie dem kürzlich abgehaltenen Internationalen Uiguren-Forum (IUF) im Europäischen Parlament in Brüssel, das wir maßgeblich unterstützt haben. Es ist uns ein wichtiges Anliegen, die Unterdrückung der Uiguren und anderer muslimischer Gruppen sichtbar zu machen.
Islamische Zeitung: Die IGMG sucht nach einem angemessenen Umgang mit dem umstrittenen Erbe Erbakans. Werden Sie diese Auseinandersetzung fortsetzen?
Ali Mete: Der Prozess wird fortgesetzt. Hierbei muss auf zwei Dinge geachtet werden: Zum einen müssen bestimmte politisch-ideologische Ansichten Erbakans, historisch eingeordnet und im Kontext der damaligen politischen Atmosphäre gelesen werden. Unter seinen Positionen sind auch solche, die nicht geteilt werden, keine Relevanz für uns haben und auch auf Widerspruch gestoßen sind.
Zudem muss darauf geachtet werden, dass wir verschiedene Perspektiven ins Gespräch bringen und sie zu einem Teil des Prozesses, des Wandels machen. Ich bin der Überzeugung, dass diese Entwicklung nur dann erfolgreich sein kann, wenn wir sie auf möglichst breiter Ebene angehen und möglichst viele Menschen mitnehmen – mit guten und überzeugenden Argumenten, die wir – wie ich finde – auch haben.
Diese Frage nach Erbakan scheint mir zu einem nicht unerheblichen Teil auch eine Generationenfrage zu sein. Necmettin Erbakan war eine bedeutende Identifikationsfigur für die erste Generation. Er hat den Menschen eine Türkei versprochen, in der Muslime nicht ausgegrenzt werden und in der sie in Wohlstand leben können, also eine echte Rückkehrperspektive in Aussicht gestellt. Der Rückkehrgedanke ist heute aber weitestgehend obsolet. Das gilt für alle Generationen. Ich persönlich habe diesen Wandel miterlebt, als nämlich die ehemaligen „Gastarbeiter“ in Deutschland und Europa zunehmend heimisch wurden und erste Differenzen entstanden. Es fand ein Sinneswandel statt. Das zeigte sich auch ganz konkret bei der IGMG: Fortan hat sie zunehmend in bleibende Einrichtungen in ihren Regionalverbänden außerhalb der Türkei investiert, statt weiter Provisorien zu schaffen, die getragen waren vom Rückkehrgedanken in die Türkei. Ich sehe meine Aufgabe darin, diesen Prozess fortzuführen und zukunftsfähig zu machen.
Islamische Zeitung: Lieber Herr Mete, seit 2015 sind zwischen 800.000 und 900.000 Geflüchtete gekommen. Hat sich das auf die Alltäglichkeit in Ihren Gemeinden ausgewirkt?
Ali Mete: Die grenzüberschreitende Sprache der IGMG ist bedingt durch ihre Gründungshistorie Türkisch. In unseren Moscheen in Deutschland, aber auch in anderen Ländern, ist jedoch auch die jeweilige Landessprache längst etabliert. Unsere Moscheegemeinden sind insgesamt so aufgestellt, dass auch Menschen, die kein Türkisch sprechen, selbstverständlich als Teil der Gemeinschaft willkommen sind. Das ist gelebte Umma.
Unsere Gemeinden sind hier sehr bedürfnis- und praxisorientiert. Wer zum Gebet unsere Moscheen aufsucht, kann unsere Predigten in mehreren Sprachen lesen. Es gibt mehrsprachige Jugendgruppen und Unterrichtsklassen sowie landessprachliche Angebote für Neumuslime und Publikationen in diversen Sprachen. Wir unterstützen diese mehrsprachige Entwicklung und sind in diesem Punkt – glaube ich zumindest – Vorreiter.
Die Geflüchteten, die verstärkt seit 2015 nach Deutschland kommen, sieht man selbstverständlich auch in unseren Moscheegemeinden. Nicht wenige, die gekommen sind, sind Muslime. Für uns und unsere Gemeinden ging es in den ersten Jahren zunächst darum, diese Menschen aufzunehmen, sie willkommen zu heißen, ihnen das Ankommen auch in religiöser Hinsicht zu ermöglichen.
Islamische Zeitung: Die IGMG ist über den Islamrat im KRM vertreten. Ist dieses Gremium derzeit so aufgestellt, um den gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen gerecht zu werden?
Ali Mete: Der Koordinationsrat der Muslime ist in der Tat ein wichtiger Punkt, über den wir reden müssen. Seit seiner Gründung 2007 hat er sich als Plattform für die innermuslimische Koordination etabliert und ist als Ansprechpartner auf Bundesebene anerkannt. Zu einem solchen Gremium gehört, dass auch Differenzen zwischen den Mitgliedern bestehen, die früher vielleicht zu einer Teilung geführt hätten. Doch der KRM besteht weiterhin fort, 2019 kamen sogar zwei weitere Religionsgemeinschaften hinzu.
Natürlich könnte ein strukturell noch weiter gefestigter und mit mehr Mitteln sowie Ressourcen ausgestatteter KRM die ihm auferlegte Funktion produktiver und wirksamer ausfüllen. Ich würde mir beispielsweise wünschen, dass der KRM neben seiner Koordinierungs- und Vertretungsfunktion im Bereich der verbandsübergreifenden Medien-, Bildungs- und Jugendarbeit mehr tut.
Islamische Zeitung: Seit einigen Jahren wird von Seiten der IGMG und vielen anderen Vereinen stark zum Thema „Islamophobie“ gearbeitet. Kann es sein, dass durch diese berechtigte Fokussierung andere Themen in den Hintergrund geraten sind?
Ali Mete: Antimuslimischer Rassismus beziehungsweise Islamfeindlichkeit ist ein Thema, das uns beschäftigt und leider auch in Zukunft beschäftigen wird. Ob aus diesen oder anderen Gründen traten lange Zeit viele andere wichtige Themen in den Hintergrund, die wir jedoch schon seit einigen Jahren verstärkt angehen. Angesichts der Themenvielfalt ist das natürlich auch eine Ressourcenfrage. Energiewende, Klimawandel, Armut, Kriege und Vertreibungen, Wiedererstarken rechtsextremistischer und islamfeindlicher Kräfte in Europa und darüber hinaus die Pandemie. Hinzu kommen zahlreiche politische und gesellschaftliche Themen des Alltags, wie Inflation, Altersarmut oder Bildung, über die man sich eine Meinung bilden und gegebenenfalls Maßnahmen ergreifen muss. All diese Themen erfordern Ressourcen. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, sich zu fokussieren. Sonst läuft man Gefahr, am Ende alles und nichts gemacht zu haben.
Islamische Zeitung: Lieber Herr Mete, zwei Jahre Pandemie haben viele freie Moscheegemeinden und Projekte finanziell und personell unterschiedlich stark beeinträchtigt. Gehen Sie davon aus, dass dieser Prozess umkehrbar ist?
Ali Mete: Wir müssen uns auf neue Verhältnisse einstellen – das gilt für “gebundene“ wie für „ungebundene“ Moscheegemeinden – genauso wie für andere Religionsgemeinschaften. Die Pandemie hat uns deutlich gezeigt, wie verletzlich manche Strukturen teilweise sind und wie wichtig breit aufgestellte gefestigte Gemeinschaften sind. So oder so müssen wir uns auf Krisenzeiten einstellen, planen und besser vorsorgen. Daran arbeiten wir mit unseren Gemeinden. Wir haben beispielsweise gesehen, wie wichtig es ist, Menschen davon zu überzeugen, Mitglied in Moscheegemeinden zu werden, statt unregelmäßig zu spenden. Wir können und dürfen es uns nicht leisten, dass Moscheen aufgrund finanzieller Engpässe schließen müssen. Das geht nicht nur zu Lasten der Muslime, sondern zu Lasten der Gesamtgesellschaft. Ich muss nicht betonen, wie wichtig Moscheegemeinden für den gesellschaftlichen Zusammenhalt sind.
Islamische Zeitung: Bereits vor einigen Monaten haben die IGMG und andere Verbände sowie der Tag der Offenen Moschee auf die jetzigen und kommenden Belastungen durch die Energiekrise, Preissteigerungen und Inflation hingewiesen. Ihr Verband hat eine Kommission einberufen, um Einsparmöglichkeiten und Alternativen zu erarbeiten. Wo stehen Sie bei dem Thema?
Ali Mete: Die Kommission hat die Arbeit aufgenommen und hat auch schon zahlreiche Ideen erarbeitet, wie wir unsere Moscheen klimafreundlicher machen können – über Erneuerungen und Sanierungen von älteren Heizkesseln bis hin zu Solaranlagen und viele weitere Optionen, die mich sehr freuen.
Diese Ideen haben wir auch auf unserer letzten Delegiertenversammlung mit unserer Basis eins zu eins diskutiert. Die Maßnahmen und Projekte werden mit der Zeit umgesetzt werden. Das wird insgesamt ein großer Kraftakt, der sich aber lohnen wird.
Islamische Zeitung: Ein anderes Thema, das vor allem türkische Staatsbürger betrifft, ist der anstehende Wahlkampf in der Türkei. In Deutschland besuchen türkische Politiker auch ihre Moscheegemeinden und betreiben dort Wahlkampf. Wie sehen Sie das?
Ali Mete: Moscheen sind in erster Linie Gebetsstätten, aber auch gesellschaftliche Einrichtungen, Orte der Begegnung. Ihre Türen sind immer und jederzeit offen für alle, sofern sie oder er nicht gegen die Hausordnung oder das geltende Recht verstößt. Das gilt auch für Politiker, unabhängig davon, aus welchem Land sie kommen.
Wir registrieren auch vor diesen Wahlen, dass Politiker aus der Türkei bemüht sind, türkische Wähler in Deutschland zu erreichen. Das geschieht auch in Moscheegemeinden. Sie kommen in die Moscheen als Privatpersonen, meist zu stärker frequentierten Gebetszeiten, um mit den Gemeindemitgliedern in den Kantinen oder Cafés innerhalb der Moscheeräumlichkeiten ins Gespräch zu kommen.
Solche Besuche innerhalb von Gemeinderäumen bedeuten aber nicht, dass Moscheen politischen Wahlkampf betreiben oder bestimmte Parteien unterstützen. Noch einmal: Wir können keine Person, die in die Moschee kommt, ausschließen, nur weil er sich mit anderen Moscheebesuchern unterhält.
Diese Klarstellung erscheint im Hinblick auf vereinzelte Medienberichte nötig, weil in solchen oft suggeriert wird, Moscheen machten Wahlkampf für bestimmte Parteien. Als Beleg dienen oft Social-Media-Posts vom Moscheebesuch, den der Besucher selbst oder Gemeindemitglieder ins Netz stellen. Das trifft keinesfalls zu.
Die IGMG ist als Religionsgemeinschaft ausdrücklich parteiübergreifend. Sie ist finanziell unabhängig, ihre Organisationsstruktur ist transparent und offen. Sie macht keinen politischen Wahlkampf.
Islamische Zeitung: Lieber Ali Mete, wo liegen für Sie derzeitig und zukünftig die größten Herausforderungen und Chancen für die muslimische Community?
Ali Mete: Wir stecken, auch wenn vermutlich die allermeisten Muslime in Deutschland schon in dritter, vierter und sogar schon in fünfter Generation hier leben, in vielen Bereichen noch in den Kinderschuhen. Wir sind nicht ausreichend vertreten in Entscheidungspositionen. Ich will keinen einzelnen Punkt oder Bereich gesondert hervorheben – dafür ist alles viel zu verzahnt miteinander. Aber das gilt in nahezu allen Lebensbereichen: Politik, Medien, Staatsdienst, in zivilgesellschaftlich organisierten Verbänden, in Gewerkschaften und so weiter. Insofern gibt es viel Luft nach oben, mithin auch viele Herausforderungen, und damit auch viele Chancen für Muslime. Ich denke, dass Vieles eine Frage der Zeit und einer natürlichen Entwicklung ist. Ich bin aber auch überzeugt, dass es von uns Muslimen – aber nicht nur von uns – abhängt, wie lange es braucht, bis man aus den Kinderschuhen rauswächst.
Islamische Zeitung: Lieber Ali Mete, wir bedanken uns für das Gespräch.