Zehntausende Menschen setzten in Großbritannien nach den Ausschreitungen ein Zeichen gegen antimuslimische und rechtsextremistische Gewalt. Mehr als eine Woche lang erschütterten rechtsradikale Krawalle das Land.
London (KNA, dpa). Nach dem Ausbleiben neuer rechtsextremer Ausschreitungen in England wächst die Hoffnung auf eine dauerhafte Rückkehr zur Normalität. In vielen Städten waren am Mittwochabend neue Krawalle befürchtet worden – doch stattdessen gingen Tausende Menschen gegen Hass und Gewalt auf die Straße.
Die neue Labour-Regierung unter Premier Keir Starmer stand angesichts der fremdenfeindlichen Unruhen im Land vor ihrer ersten Krise. Dabei spielte das Thema Migration vor den britischen Parlamentswahlen Anfang Juli keine entscheidende Rolle. Das marode Gesundheitssystem, hohe Lebenshaltungskosten und Lohndebatten trieben den Sozialdemokraten die Wähler zu.
Dagegen konnten die Konservativen im Wahlkampf nicht mit dem Versprechen punkten, Asylzahlen zu senken, Migrantenboote über den Kanal zu stoppen und Abschiebungen zu forcieren – zumal sie damit längst gescheitert waren. Seit 2021 stieg die Zahl der Asylbewerber jährlich auf zuletzt mehr als 84.000.
Premierminister Keir Starmer zufolge war der weitgehend friedliche Verlauf des Abends vor allem Polizei und Justiz zu verdanken. „Ich denke, die Tatsache, dass wir gestern Abend nicht die befürchteten Unruhen erlebt haben, ist darauf zurückzuführen, dass wir viele Polizisten im Einsatz hatten (…)“, sagte der Labour-Politiker.
Antifaschistische Demonstranten drängen gewaltbereite Rassisten ab. (Screenshot: YouTube)
Antimuslimische Gewalt: Radikalisierung der weißen Arbeiterschaft
In bestimmten Milieus der unteren Mittelschicht und der weißen Arbeiterklasse befeuert das eine Radikalisierung, die seit etwa 15 Jahren zugenommen hat. Dafür stehen kleine, aber aggressive Gruppierungen wie die rechtsextreme British National Party oder die islamfeindliche English Defence League. Deren einstiger Chef Tommy Robinson (41) – eine Art englischer Martin Sellner in Hooligan-Ausgabe – genießt unter Asylgegnern Kultstatus.
Manche Beobachter führen „Fake News“ in den Sozialen Medien, die zu den tagelangen Ausschreitungen auf der Insel und der Eskalation am Wochenende beitrugen, direkt auf ihn zurück. Der 17-Jährige, der am 29. Juli in Southport drei Mädchen bei einem Tanzkurs mit einem Messer ermordet und viele verletzt hatte, sei muslimischer Asylbewerber, hieß es da. Tatsächlich wurde der Täter, dessen Eltern aus dem überwiegend christlichen Ruanda stammen, in Cardiff geboren. Mehr gab die Polizei bisher nicht bekannt, auch kein Motiv für die Tat.
Fest steht aber: Die Bilanz der einwöchigen Krawalle ist seit Beginn der Flüchtlingskrise vor rund zehn Jahren europaweit beispiellos. In Manchester, Liverpool und anderen englischen Städten rotteten sich teils hunderte Menschen unter dem Motto „Genug ist genug“ zusammen, griffen Moscheen und Asylunterkünfte an, zerstörten Geschäfte, bedrohten verängstigte Muslime und Migranten.
Es wird von einem „Pogrom“ gesprochen – aber auch breiter Widerstand durch die Zivilgesellschaft
Mehr als 400 Randalierer wurden festgenommen, Dutzende Polizisten verletzt. Plötzlich taucht mitten im kosmopolitischen Großbritannien ein Begriff auf, den man in Europa lange hinter sich glaubte: Pogrom.
„Das ist kein Protest, das ist Gewalt“, erklärte Premierminister Starmer am 5. August nach einer Sitzung des Krisenstabs. Verantwortlich sei eine winzige Minderheit rechter Mobs, die in keiner Weise die britische Gesellschaft repräsentiere.
Der Strafverfolgungsbehörde Crown Prosecution Service zufolge wurden bisher knapp 150 Menschen angeklagt. Beinahe 500 waren zuvor festgenommen worden. Bei ersten Verurteilungen wurden teils mehrjährige Haftstrafen verhängt.
Londons Bürgermeister Sadiq Khan bedankte sich auf X bei den Menschen, die friedlich demonstrierten, und den Sicherheitskräften. Er fügte hinzu: „Und an alle rechten Schläger, die noch immer Hass und Spaltung säen wollen – ihr werdet niemals willkommen sein.“
Der Organisation Stand Up to Racism zufolge versammelten sich im ganzen Land etwa 25.000 Menschen, um gegen rechtsextreme Gewalt zu demonstrieren. Darunter viele im Londoner Bezirk Walthamstow, im Osten Londons sowie in den Städten Bristol, Brighton, Liverpool und Sheffield.
Foto: Keir Starmer, No. 10 Downing Street
Gefühle der Entfremdung bei den „Autochthonen“
Fraglich ist allerdings, ob die Labour-Regierung das tieferliegende Problem ethnischer Spannungen allein mit den Mitteln des starken Staats ausreichend adressiert. Wie in anderen westlichen Gesellschaften fühlen sich auch Teile der Bevölkerung von der Zuwanderung nicht nur kulturell und wirtschaftlich bedroht, auch das Sicherheitsgefühl auf der Insel erodiert.
Mehr als 50.000 Messerangriffe in einem Jahr zählte die Polizei zuletzt. Aus Sicht der Migrationsgegner sind sie das logische Resultat einer ideologischen Politik, die ihre Heimat auf Biegen und Brechen zu einer multikulturellen Zone machen will.
Vielerorts bildeten sich auch Gegenproteste von Menschen mit „Refugees welcome“-Schildern. Solidarität kommt auch von christlichen Kirchen. So verurteilte der Flüchtlingsbischof der katholischen Bischofskonferenz von England und Wales, Paul McAleenan, die Exzesse. Die Taten weniger stünden im Gegensatz zum Einsatz von Flüchtlingshelfern und kirchlicher Gruppen, die Migranten unermüdlich die Hand reichen.
Man muss den Bürgerkrieg nicht für „unausweichlich“ halten, wie Elon Musk dies am 5. August auf seiner Online-Plattform X tat und damit Empörung in London auslöste. Doch die Woche der Gewalt hat die Polarisierung im Land dramatisch beschleunigt.