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„Auf Zuwanderung angewiesen“

Ausgabe 315

Foto: Artwell, Adobe Stock

(GFP.com). Deutsche Wirtschaftsforscher sehen die Grundlagen der deutschen Exporterfolge vom demografischen Wandel bedroht und dringen auf größere Arbeitszuwanderung in die Bundesrepublik. Aufgrund der Alterung der deutschen Gesellschaft werde der Arbeitsmarkt hierzulande selbst bei „moderaten Annahmen“ bis zum Jahr 2035 mehr als „fünf Millionen potenzielle Arbeitskräfte“ verlieren, heißt es in einer aktuellen Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) in Köln.

Eine „qualifizierte Zuwanderung aus dem Ausland“ sei auch deshalb unabdingbar für die „gesamtdeutsche Stabilisierung des Arbeitskräftepotenzials“, da die Wanderungsbewegungen von Arbeitskräften innerhalb der Bundesrepublik ein „Nullsummenspiel“ seien, heißt es in der Studie. Zwar wiesen die meisten Regionen Deutschlands „ähnliche demografische Voraussetzungen“ auf, doch müssten sich vor allem ostdeutsche Städte und Kreise wie „Greiz, Gera, der Erzgebirgskreis und das Weimarer Land“ besonders intensiv um „Zuwanderung bemühen“. Die dortigen „Abwanderungsregionen“, in denen die extrem rechte AfD oft Wahlerfolge feiert, müssten „für Menschen aus dem In- und Ausland attraktiver werden“. Im Vergleich zum Osten stehe der demografische Wandel in Westdeutschland hingegen „erst am Anfang“.

Die Autoren der Studie betonen überdies, es habe zwar in den „letzten zehn Jahren“, also im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise, eine „hohe Nettozuwanderung“ in die Bundesrepublik gegeben; doch sei die Immigration im vergangenen Jahr im Verlauf der Coronakrise deutlich um 29 Prozent zurückgegangen. Solche „Wanderungsbewegungen“ hätten einen „eher kurzfristigen, vorübergehenden Einfluss auf die Bevölkerungsstruktur“. Ohne weiteren Zuzug werde der deutsche Arbeitsmarkt selbst bei „moderaten Annahmen“ zwischen 2020 und 2035 mehr als „fünf Millionen potenzielle Arbeitskräfte im Alter von 20 bis 66 Jahren“ verlieren; bereits in den kommenden fünf Jahren werden rund eine Million Lohnabhängiger aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden.

Dabei sei der sich deutlich beschleunigende demografische Wandel, bemängelt das IW Köln, „schon lange absehbar“ gewesen, ohne dass dies zu einer „vorausschauenden Gestaltung der politischen Rahmenbedingungen geführt“ habe. Die Autoren sprechen sich für die Förderung einer „erwerbsorientierten Zuwanderung qualifizierter Fachkräfte“ aus, da die Folgen der Migration „für den Arbeitsmarkt und die Sozialsysteme“ vor allem davon abhingen, ob die Migranten auch erwerbstätig seien. Eine umfassende und andauernde „Integration der Zuwanderer in den Arbeitsmarkt“ sei entscheidend, um die Folgen der Überalterung Deutschlands abzumildern. Mit Blick auf die Flüchtlingskrise, bemerken die Autoren, hätten nur 29,8 Prozent aller seit 2007 Immigrierten die Arbeitssuche als Migrationsgrund angegeben. Die Lohnarbeitsquote liege allerdings unter den Arbeitsmigranten mit 87,2 Prozent wesentlich höher als unter Zuwanderern, die sich etwa „aus familiären Gründen“ in der Bundesrepublik ansiedelten – bei diesen seien es 48,4 Prozent.

Arbeitszuwanderung ist laut einer weiteren Untersuchung des IW Köln auch unabdingbar, um die Innovationsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu sichern. Die Migration halte „Deutschlands stotternden Innovationsmotor am Laufen“, betitelte das Institut eine Studie, die Erfinder in der Bundesrepublik auf ihre Herkunft untersuchte.

Demnach sei der Anteil von Patentanmeldungen durch Menschen mit Migrationshintergrund zwischen 1994 und 2018 von 3,8 Prozent auf 11,2 aller Erfindungen angestiegen. In der Bundesrepublik lebende „Erfindende mit ausländischen Wurzeln“ stünden somit für rund „jedes neunte in Deutschland entwickelte Patent“. Mehr noch: Die „kumulierte Patentleistung von Erfindenden aus dem deutschen Sprachraum“ habe im 21. Jahrhundert stagniert und sei in den letzten Jahren sogar gesunken. Die Ursachen dafür seien vor allem in der demografischen Entwicklung in Deutschland zu verorten. Konkret seien hierzulande die Patentanmeldungen zwischen 2008 und 2018 insgesamt um 2,9 Prozent gestiegen, während diejenigen von Erfindern mit Vorfahren aus dem deutschsprachigen Raum um 1,8 Prozent gesunken seien. Dies bedeute, dass „der in den letzten zehn Jahren ohnehin nur moderate Aufwuchs“ bei den Patentanmeldungen „ausschließlich Erfindenden mit ausländischen Wurzeln zu verdanken“ sei, schlussfolgert das IW Köln.

Kann der demografische Wandel nicht durch Zuwanderung aufgefangen werden, droht dies laut einer Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin auch Folgen für die staatliche Leistungsfähigkeit sowie infolgedessen für die Infrastruktur mit sich zu bringen. Das ist das Ergebnis einer Studie zur Entwicklung in Ostdeutschland, die das DIW schon im vergangenen Jahr veröffentlicht hat.

Insbesondere in Ostdeutschland seien die staatlichen Haushaltsplaner in den kommenden Jahren mit „großen Herausforderungen“ konfrontiert, heißt es in der Untersuchung: Die schrumpfende Steuerbasis führe zu Sparzwängen, die wiederum „notwendige Investitionen“ in die Infrastruktur hemmten. Damit ist neben dem disziplinierten und gut ausgebildeten Arbeitskräftereservoir auch ein zweiter Konkurrenzvorteil der exportfixierten deutschen Industrie von der Erosion bedroht: die gute Infrastruktur, die stark zu den Exporterfolgen beiträgt.