Aus der Geschichte lernen?

Ausgabe 304

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„Die Vergangenheit ist ein fremdes Land. Dort gelten andere Regeln.“ L.P. Hartley

„Der Mensch war eine Kreatur aus wilder Natur, sowohl Zerstörer als auch Schöpfer des Neuen. Zwischen einer verschwundenen, halb erinnerten Vergangenheit und einer teilweise erreichten und immer noch nicht manifestierten Zukunft.“ Ian Dallas, The Entire City

(iz). Man könne anhand der Geschichte für die Gegenwart lernen, heißt es manchmal. Nicht selten endet dieser Ansatz in hinkenden Vergleichen – von denen Hitler und die Nazizeit die beliebteste ist. Der Ansatz, Äpfel mit ­Birnen zu vergleichen, findet sich darüber ­hinaus an vielen anderen Stellen. So setzten Kritiker der westlichen Interventionen im Nahen Osten diese mit den längst vergan­genen Kreuzzügen gleich. Und mancher, in Deutschland geborener Nachkomme türkischer Einwanderer fühlt sich dank heutiger TV-Serien als rechtmäßiger Nachfolger ­osmanischer Helden.

Historische Analogien sind im Wesentlichen der Versuch, dass zwei Ereignisse oder Erscheinungen, die durch die Zeit getrennt sind, bei entscheidenden Aspekten vergleichbar wären. Das drückt sich beispielsweise in dem beliebten Satz „die Geschichte wiederholt sich“ aus.

Bevor wir das Kind mit dem Badewasser ­ausschütten: Aus der Geschichte zu lernen, ist für Muslime ein qur’anischer Imperativ. Nicht umsonst besteht ein signifikanter Teil der Offenbarung aus den Geschichten vergangener Propheten und Völker. Muslime werden von Allah dazu aufgerufen, die Erde zu bereisen und die Geschichte der früheren Gemeinschaften zur Kenntnis zu nehmen: „Sind sie denn nicht auf der Erde umhergereist, sodass sie schauen, wie das Ende derjenigen war, die vor ihnen waren? Die Wohnstätte des Jenseits ist wahrlich besser für diejenigen, die gottesfürchtig sind. Begreift ihr denn nicht?“ (Jusuf, Sure 12, 109) Allerdings kommt nur eine Minderheit von Muslimen auf den ­Gedanken, heutige Ereignisse und Verhältnisse 1:1 anhand dieser Beschreibungen ­erklären zu wollen.

Ob und in welchem Maße Geschichte so leicht zu greifen ist, darüber streiten sich Geschichtsforscher und -autoren seit langer Zeit. 2002 schrieb der US-Historiker John Lewis Gaddis in „The Landscape of ­History“, einer lesenswerten Abhandlung zum Verständnis der Menschheitsgeschichte: „Aber die Vergangenheit ist in einem anderen Sinne etwas, das wir niemals haben können. Denn bis wir wissen, was passiert ist, ist sie für uns bereits unzugänglich: Wir können sie nicht erneut erleben, abrufen oder ausführen, wie es bei Laborexperimenten oder Computersimulationen der Fall wäre. Wir können sie nur darstellen. Wir können die Vergangenheit als nahe oder ferne Landschaft zeichnen.“ Wenn wir das Bild von Vergangenheit als einer Landschaft annehmen, dann sei Geschichte die Art und Weise, in der wir diese darstellen würden.

Beliebt sind historische Analogien insbesondere bei schlechten oder populistischen Politikern. Als George W. Bush die Bürger seines Landes auf den Einmarsch in den Irak vorbereitete, verglich er den irakischen Despoten Saddam Hussein mit Adolf Hitler. Dieser Idee lag die Vorstellung zugrunde, dass man nach den Erfahrungen der 1930er Jahre nie wieder Diktatoren beschwichtigen dürfe, wie es damals Frankreich und Großbritannien getan hatten. Dieses Mittel kann weiterhin wertvoll und erhellend sein. Bedingung dafür ist, dass wir uns jener, die es ­nutzen, bewusst sind und ihre Gründe kennen.

Historische Analogien sind für Menschen intuitiv ein Weg, mit einer verwirrenden und/oder beängstigenden Gegenwart fertigzuwerden. Der Rückgriff auf die bekannte Vergangenheit soll die Gegenwart verständlich machen. Das ist normal und manchmal wichtig, um moralische und normative Standards für die Welt zu finden, in der wir jetzt leben. Da jedes Ereignis der Geschichte einzigartige Aspekte hat, wird keine geschichtliche Entsprechung jemals ganz genau sein können.

Analogien sind keine Vergleiche. Ein Vergleich zwischen zwei Events, die von Natur aus ähnlich sind, kann direkter und simpler sein. Analogiebetrachtungen sind ihrem Wesen nach deutlich gleichnishafter – und nicht nur das wiederholte Beispiel des gleichen Phänomens. Wenn wir im Gegensatz zum Vergleich eine historische Analogie ­formulieren, nehmen wir verschiedene Arten von Ereignissen und deuten an, dass sie ähnlich sind. Sie sollen uns etwas Wesentliches über das andere erzählen. Aus diesem Grund sind Analogien umstrittener. Wenn sie wahr sind beziehungsweise so klingen, sind sie ­einflussreich und anregend.

Werden sie in guter Absicht und fakten­orientiert formuliert, bieten sie entscheidende Punkte über die Gegenwart. Sie helfen bei der Klärung, wo wir in moralischen und politischen Fragen stehen. Problematisch wird es, wenn wir diese Metaphern als Ersatz für historische Untersuchungen benutzen. Schlimmer wird es, wenn wir meinen, ­Geschichte „wiederhole sich“. Dieser Satz ist zu einem Klischee in unserem öffentlichen Diskurs geworden.

Letzterer Aspekt liegt auch daran, dass diese Analogie häufig aktuellen Bedürfnissen folgt. Die häufige Anrufung der Vergangenheit dient oft dem Verständnis der Gegenwart und manchmal der Hoffnung, zukünftige Entwicklungen beschreiben zu können. Ein gutes Beispiel dafür sind die Analogien, die in den Krisen der letzten Jahrzehnte in der muslimischen Welt angestellt wurden und werden. Angesichts oft deprimierender ­Verhältnisse werden historische, wenn nicht mythologische, Gestalten der Vergangenheit angerufen, an denen sich die Menschen zu orientieren hätten. Ein beliebtes, wieder­kehrendes Bild ist das angerufene „goldene Zeitalter“, in dem alles besser als heute ­gewesen sei.

Der Modus der Metaphernbildung und des Versuchs, eine Verbindung zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart zu ziehen, gilt nicht dem historischen Verständnis. Sein Ziel ist die politische Motivation im Heute. Dabei gibt es einen deutlichen Unterschied zwischen der Arbeitsweise von Geschichtswissenschaftlern und dem, wie historische Analogiebildungen in den Sphären von ­Öffentlichkeit und Politik funktionieren. Fachwissenschaftler – eine Ironie – benutzen diese Methode nur selten.  Wir dürfen nicht vergessen – was auch für unser „Wissen“ von der muslimischen Vergangenheit gilt –, dass alles Denken und Schreiben über die Vergangenheit in unserer Gegenwart wurzelt. Daher sind viele Versuche, Gleichnisse zwischen Vergangenheit und dem Heute zu ziehen, oft nur aufgehübschte politische Aussagen. Hinzu kommt, dass sie ein Wunschdenken bezüglich der Ergebnisse beinhalten.

Wie oben erwähnt, fundiert der Wunsch, die Zukunft in dieser Weise aus dem Früher ­vorhersagen zu wollen, gelegentlich in einer Art Eskapismus. Insbesondere in der muslimischen Welt gibt es dieses Verlangen der Flucht aus einer als unerträglich wahrgenommenen Gegenwart. Mit jener Sehnsucht geht häufig die Scheu einher, historische Ereignisse zu untersuchen, die uns dahin führten, wo wir genau in diesem Moment sind.

Geschichtliche Reflexion bedeutet nicht, ­gesonderte Episoden der Vergangenheit zu finden, die den heutigen Verhältnissen ­ähneln könnten. Sondern zu verstehen, wie die Welt zu dem wurde, was sie ist – und wie sie anders sein könnte. Positive Beispiele wie Greta Thunberg und Negativfälle wie ­Donald Trump sind ein Argument gegen die These, Menschen und ihre Gruppen würden vorrangig durch gesichtslose Strukturen und Trends gesteuert.

Wir sind – im Rahmen unserer Existenz als Erschaffene des Herrn der Welten – immer gleichermaßen geschichtlich Handelnde – Ergebnisse der Vergangenheit und Hervorbringende von Zukunft.