Der Wahhabismus als Ideologie, die tiefe Wunden geschlagen hat

Ausgabe 114

Die Reaktionen der muslimischen Gemeinschaft Großbritanniens auf die Bombenanschläge vom 7. Juli waren schnell und dem Anschein nach einhellig. „Die Tötungen werden absolut nicht durch den Islam gedeckt“, erklärte eine Konferenz von Imamen, die sich in der Londoner Zentralmoschee zusammen fand, während das Britische Muslimische Forum eine Fatwa veröffentlichte, die die Londoner Anschläge als „Hiraba“ einstufte. Dies ist ein islamisch-rechtlicher Begriff, der schwerwiegende Gewalttaten gegen Unschuldige beschreibt. Alle an den Verbrechen beteiligten sollten von „der muslimischen Gemeinschaft und ihren Orten der Anbetung ausgeschlossen werden, bis ihre Reue offenkundig geworden ist.“

Die laute Einmütigkeit der Führung hat viel dazu beigetragen, die Befürchtungen anderer Gemeinschaften zu beruhigen. Und doch sind die Auseinandersetzungen noch nicht an ihrem Endpunkt angelangt. Die Führung der Muslime hat ein Dekret erlassen, welches im Islam dem am nächsten kommt, was andernorts als Exkommunikation bekannt ist. Und doch wurde eine drängende Frage nicht deutlich beantwortet: Warum sollten offenkundig streng gläubige junge Männer ihre terroristischen Akte als durch die Religion erlaubt ansehen? Eine Erklärung könnte sein, dass die westlichen Verbrechen gegen Muslime, wie die Sanktionen gegen den Irak und die darauf folgende Invasion, so provokativ waren, dass ein muslimischer, radikaler Rückschlag vollkommen vorhersehbar war. Dies hat Sinn, aber nur im psychologischen Sinn und nicht im theologischen. Ein anderer Erklärungsversuch, der augenblicklich in der muslimischen Welt beliebt ist, lautet, dass der Islam nicht die einzige Weltreligion ist, die ihre wahnsinnigen Randexistenzen hat. Demnach repräsentierten die Londoner Bomber die muslimische Version dieser tragischen, allgegenwärtigen Verzerrung.

Solche Beobachtungen sind durchaus hilfreich. Und doch können sie nicht als ernsthafte religiöse Erklärung dienen. Sie erinnern an eine Selbst-Rechtfertigung, indem man Fehler in anderen findet; ein moralischer Makel, der in der islamischen Ethik als verdammenswert gilt. Die Muslime müssen immer noch eine klare Diagnose für die Außenwelt abgeben, die erklärt, wie diese Verirrung entstehen konnte. Vor allem, da wir davon ausgehen können, dass der Gebrauch des Terrors für „islamische“ politische Zwecke seit einem Vierteljahrhundert stetig ansteigt. Nun ist es an der Zeit für die Muslime, sich selbst zu befragen. Trotz aller Vollendung waren es die Propheten und Freunde Allahs, die sich selbst immer kritisch reflektierten, wie der Prophet Muhammad sagte: „Ich suche Allahs Vergebung siebzig Mal am Tag.“

Glücklicherweise ist das Bild der muslimischen Gemeinschaft als verletzte Unschuld nicht ganz zutreffend. Während sich muslimische Vertreter in der Öffentlichkeit häufiger einer selbst-rechtfertigenden Sprache bedienen, gibt es hinter den Kulissen und in den Publikationen und Konferenzen, die nicht für die Öffentlichkeit gedacht sind, eine leidenschaftliche Debatte. Diese Debatte jongliert mit zwei eng verwobenen Themen. Erstens sind sich die anerkannten Vertreter des Islam bewusst, dass die Radikalen nicht auf sie hören. Jedes muslimische Land hat seine maßgeblichen Gelehrten, oft angeführt von einem Mufti, die über strittige Fragen entscheiden. Um ein Mufti zu werden, muss ein Gelehrter eine Idschaza [Lehrerlaubnis] erhalten haben. Dies ist eine ausführliche Bescheinigung seiner Fähigkeit, zu unterrichten, und kommt von einer vergleichbar ausgezeichneten Person. Die Radikalen, wie die Bomber aus London und Usama bin Ladin, haben keine derartigen Qualifikationen. Entsprechend dem traditionellen System sollten sie an die Urteile der Muftis gebunden sein. Und doch verweigern sie diesen ihre Gefolgschaft. Im vergangenen Jahrzehnt wurden diese Männer in zunehmendem Maße von den Radikalen als Marionetten und Weichlinge denunziert. Von der Position Al-Qa’idas aus betrachtet, seien die religiösen Autoritäten darin gescheitert, das amerikanische „Reich des Bösen“ zu identifizieren, welches nur dann aufgehalten werden könne, wenn westliche Zivilisten, erschreckt durch Terror in den Städten, gegen die expansionistische Politik ihrer Regierungen stimmen würden.

Es gibt noch eine zweite Krise, die die traditionelle Führung in Unruhe versetzt. Diese offenbart sich in der Form einer tief gehenden doktrinären Trennung. Sympathisanten von Al-Qa’ida betrachten die traditionellen sunnitischen Muftis und Imame nicht nur als politisch rückgratlos, sondern auch als „Ketzer“. Die Masse der Imame folgen der traditionellen Sunna, während Al-Qa’ida seine Wurzeln im Wahhabismus hat; jener „Reformbewegung“ Zentralarabiens aus der Mitte des 18. Jahrhunderts. Strenge Wahhabis betrachten die Theologie und die Gläubigkeit der Sunna als Kufr [wörtl. das Bedecken der Wahrheit, umgangssprachlich mit „Unglauben“ übersetzt]. Daher zögern wahhabistische Radikale auch nicht bei der Tötung von Muslimen, unter ihnen anerkannte Gelehrte. Eigentlich waren die Muslime das wichtigste und erste Ziel von Al-Qai’da.

Der Wahhabismus steht für eine Art der islamischen „Reformation“: Keine Deutungen zulassend und feindlich gegenüber dem Respekt für die Freunde Allahs [Aulija] und die philosophische Theologie. Daher hören die wahhabitischen Zeloten genauso wenig auf die Worte der Muftis wie beispielsweise Cromwell auf die Abgesandten des Papstes, als seine Armeen Irland verwüsteten. Ein erhellendes Beispiel dieses zerrütteten Islams wurde von Usama bin Ladins „Fatwa“ im Jahre 1998 geliefert, als er die Muslime aufforderte, „die Amerikaner und ihre Alliierten, Militärs wie Zivilisten, in jedem Land zu töten, in dem das möglich ist.“

Dieser „Fatwa“ fehlt jeder Bezug zu den klassischen Methoden des islamischen Rechts und sie bezieht ihren Sinn von einem qur’anischen Vers, der lautet „tötet die Götzenanbeter, wo ihr sie findet.“ Klassischerweise wird diese Passage auf die arabischen Götzenanbeter bezogen; eine heute ausgestorbene Kategorie. Aber die wahhabistische Methode erlaubt Bin Ladin, die Ansichten der klassischen Schulen zu ignorieren und dem Text seine eigene Deutung aufzuzwingen. Die Geschütztheit von zivilem Leben, bestärkt durch die anerkannten Rechtsgelehrten, wird noch nicht einmal erwähnt. Diese „Fatwa“ bedeutet eine offenkundige Verletzung der traditionellen Übereinkunft (‘Idschma). Aber von einer derart drastisch „reformierten“ Perspektive aus betrachtet, sind nur seine [Bin Ladins] Anhänger die wahren Gläubigen, und die Übereinkunft wird einfach übergangen.

Muslimische Vertreter waren bisher schüchtern, die Rolle dieser Spaltung in der aktuellen Krise öffentlich zu erwähnen. Manchmal liegt dies an physischer Bedrohung: In Pakistan oder im Irak ist es heute möglich, für eine Kritik am Wahhabismus ermordet zu werden. Manchmal, wenn auch ohne schlechte Absichten, liegt es an der Überempfindlichkeit bei der Zurkenntnisnahme, dass das scheinbar einheitliche Gewand des Islam verheerend zerrissen wurde. Manchmal sind Institutionen und Staaten nervös über die öffentliche Darlegung ihrer Verärgerung über den Wahhabismus – aus Angst, dass die Überfülle saudischer Spenden plötzlich zu Ende sein könnte.

Der Wahhabismus wurde im Allgemeinen von der islamischen Welt verabscheut, als er im 18. Jahrhundert das erste Mal auf die öffentliche Bühne trat. Der Zusammenbruch des Osmanischen Khalifats während des 1. Weltkriegs erlaubte ihm, sich durchzusetzen, während – in Szenen schrecklicher Massaker – die heiligen Stätten des Islam von ihm annektiert wurden. Im späten 20. Jahrhundert erlaubte die Explosion des Ölreichtums Saudi-Arabien, den gleichen Puritanismus ins Ausland zu exportieren. Es ist dieses Umfeld der wahhabitischen Theologie, in dem Bin Ladin und seine Anhänger operieren. Saudi-Arabien findet sich augenblicklich in der schwierigen Position der Erhaltung eines gemäßigten pro-westlichen internationalen Profils, während es gleichermaßen ein Lehrsystem unterstützt, welches von den Wütenden und Enttäuschten einfach als Rechtfertigung für Massenmord verstanden werden kann. Nach den Anschlägen vom 11. September haben die saudischen Behörden sich stark bemüht, ihre missionarische Infrastruktur zu überwachen und zu zügeln und sogar saudischen Wohltätigkeitsorganisationen eine Tätigkeit im Ausland zu untersagen.

Saudi-Arabien kämpft darum, sein wahhabistisches Erbe zu mildern, aber es wird von den muslimischen Führern aus meinem Bekanntenkreis immer noch als „Herz der Dunkelheit“ in der aktuellen Krise angesehen. Während eines kürzlichen Besuchs in Bosnien konnte ich erfahren, wie die verarmte muslimische Gemeinschaft hart daran arbeitet, Hochschulen zu etablieren, von denen der Wahhabismus ausgeschlossen ist. Dies ist Teil einer Reaktion gegen die manchmal harte Unduldsamkeit einiger bosnischer Muslime, die von der saudischen Großzügigkeit bei der Ausbildung in wahhabistischen Schulen profitiert hatten. Noch erhellender ist der Fall Indonesiens. Dieses große muslimische Gemeinwesen bietet den Theoretikern des Fundamentalismus wenig Behaglichkeit. Und doch hörte eine jüngste Konferenz in Jakarta an der Islamischen Universität Einzelheiten, wie von Saudi-Arabien unterstützte Gruppierungen entscheidend waren bei der Ausbildung der Ideologie der Attentäter, die der Anschläge von Bali im Oktober 2002 beschuldigt wurden. Unter entfremdeten und verwirrten jungen Muslimen im Vereinigten Königreich gibt es auch einen wahhabistischen Einfluss. Ein muslimischer Buchhändler erzählte mir, dass die Mehrheit der islamischen Buchläden nicht mit der radikalen Alternative konkurrieren können, da saudische Organisationen die Bücher ohne Bezahlung liefern. Nicht weniger bedrückend ist für anerkannte Moscheeleitungen die Tendenz einiger junger britischer Muslime, in neuen wahhabistischen Hochschulen in Pakistan und anderswo zu studieren. Das Gesamtbild ist komplex, aber es legt nahe, dass das Mittel gegen den Terror innerhalb der muslimischen Gemeinschaft selbst verabreicht werden muss und innerhalb der theologischen Ressourcen des Islam. Soziologische Erklärungen umschreiben die Bedingungen, aber könnten nicht die religiösen Ursachen für die Verirrungen offenlegen oder Gegenargumente anbieten.

Die Gesetzgebung, wie auch andere Formen des Eingreifens seitens der Regierung, sind wahrscheinlich nicht in der Lage, dem Problem ein Ende zu bereiten. Sie könnten es sogar noch verschlimmern. Es ist deutlich, dass nur Muslime diese Wunde heilen können. Glücklicherweise sind ernsthafte Schritte auf den Weg gebracht worden, die Extremisten auf religiöser Grundlage herauszufordern. Im Vereinigten Königreich entwickelt sich eine im steigenden Maße gebildete muslimische Gemeinschaft mit einer religiösen Identität, die wenig Raum für Eiferertum lässt. Die Einheitlichkeit und Mäßigung der gemeinschaftlichen Antwort auf die jüngsten Ausbrüche weist auf den Fortschritt hin, der in den letzten 15 Jahren seit dem Rushdie-Debakel gemacht worden ist. Die Gemeinschaft reflektiert sich in immer reifer werdenden Kurzgeschichten, Theaterstücken, Filmen und Gedichten. Vielleicht wird dieser Reifungsprozess durch die jüngsten Schrecken noch beschleunigt, und wir können in unserer Lebenszeit sehen, wie traditionell korrekt ausgebildete britische Muslime nach Saudi-Arabien und in andere verstörte Länder reisen, um nicht nur theologische Hilfestellung zu geben, sondern auch eine alternative und ansprechendere Methode des Umgangs mit der Moderne anzubieten.

Abdal-Hakim Murad unterrichtet Islamwissenschaften an der Universität Cambridge. Er ist Imam der Moschee von Cambridge.