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Bedrohungen der Klimakatastrophe bestimmen zunehmend den Zeitgeist

Ausgabe 314

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Foto: Thaut Images, Adobe Stock

(iz). Es war eine Zeitenwende. Am 01.11.1755 erschüttert ein gewaltiges Erdbeben Lissabon und verunsichert eine ganze Generation. Die Natur zeigte sich als unbeherrschbare, zerstörerische Energie. Die Nachricht über das Ereignis verbreitete sich in Europa, wenn auch die Geschwindigkeit der Übermittlung aus heutiger Sicht verwundert. So schildern Berliner und Hamburger Zeitungen nach vier Wochen die verheerende Lage in der portugiesischen Stadt. Das Erdbeben erschüttert das Weltbild der Europäer, bis hin zu metaphysischen Fragen, auch wenn das Wort „Ökologie“ erst Mitte des 19. Jahrhunderts aufkommen wird.

Das Verhältnis der Menschen zu ihrer Umgebung wird lange Zeit von der Idee des Fortschrittes geprägt sein, moderne Technik scheint der Schlüssel zu sein, um die Naturgewalten endgültig zu beherrschen. Die Kraft der Flüsse und der Meere wird mit Dämmen zurückgedrängt. In der Neuzeit wird der Philosoph Martin Heidegger das Wesen der Technologie als ein „Herausfordern der Natur“ beschreiben, im Gegensatz zum „Hervorbringen“, dass das Handwerk oder die Kunst über Generationen prägte. Im 20. Jahrhundert wachsen die Zweifel an der Allmacht der Technik und die Katastrophe von Tschernobyl zeigt beispielhaft die Risiken der Atomkraftwerke. „Das Problem der Technik ist“ schreibt ein Denker, „dass sie uns, nicht wir sie beherrschen.“

Im 21. Jahrhundert sind Krisen und Naturkatastrophen längst zu alltäglichen Ereignissen geworden. Verstärkt wird dieser Eindruck durch ein globales Nachrichtensystem, das im Sekundentakt jede Störung im Gleichgewicht der Erde meldet. Dabei wird immer wieder übertrieben, denn, wie es Peter Sloterdijk beschreibt, „nadelstichgroße Effekte im Realen werden durch unsere Medien bis auf das Format von interstellaren Phänomenen vergrößert“. Die Diskussionen über die Krisen der Zeit werden von Debatten über das Erkenntnisverfahren begleitet. Was ist Übertreibung oder Untertreibung, was sind Fakten, wo wird gelogen, wer verbreitet Verschwörungstheorien, wer vertritt die herrschende Meinung? Keine Krisenlage entsteht mehr, ohne derartige ideologische Auseinandersetzungen.

Dabei gibt es natürlich Phänomene, die so eindeutig in Wirkung und Größe erscheinen, dass sie nicht mehr geleugnet werden können. Der Bürgerkrieg in Syrien ist die humanitäre Katastrophe des 21. Jahrhunderts, das Corona-Virus hat weltweit Millionen Todesopfer gefordert und das Finanzsystem die größten Geldmengen der Menschheitsgeschichte geschaffen. Die Lage ist ernst, denn keine der großen Krisen wird gelöst, viel mehr werden sie verdrängt oder vergessen.

Damit nicht genug, kündigt sich mit der Klimakrise eine weitere Stufe der Herausforderung an. Hier geht es potentiell um die Rettung der Menschheit und um eine neue Dimension der Einschränkung gewohnter Freiheiten. „Der Klimanotstand ist unser dritter Weltkrieg. Unser Leben und unsere Zivilisation, wie wir sie kennen, stehen auf dem Spiel, genau wie im Zweiten Weltkrieg“, dramatisiert beispielsweise der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Joseph Stiglitz die Lage.

In Deutschland, dem Mutterland der grünen Bewegung, hat die Flutkatastrophe in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz die unaufhaltsame Dynamik des Klimawandels endgültig in das kollektive Bewusstsein gerückt. Die Bilder überfluteter Straßen, zerstörter Häuser und verzweifelter Menschen beschäftigte das ganze Land. Auch wenn die Katastrophe durch eine unkluge Bebauung von Flussgebieten teilweise menschengemacht ist, lässt sich die Zunahme von extremen Wetterlagen nicht mehr ignorieren. Dürrephasen und Sintfluten wechseln sich ab.

Die Zeit drängt und im Wahljahr überbieten sich die Parteien mit Vorschlägen, die ein ökologisches Gleichgewicht anrufen. Das symbolische Grundwort des Kapitalismus „Wachstum“ wird durch eine Philosophie der Nachhaltigkeit ersetzt. Dabei soll der ökonomische Wohlstand beibehalten, wirtschaftliche Dynamik durch die Ersetzung böser mit guten Technologien erzeugt werden. Die Attraktion für die Bevölkerung, die nebenbei einige ihrer gewohnten Freiheiten aufgeben muss, ist damit eine neue grüne Welt, die ein besseres Leben verspricht. Das Wort „Klimaschutz“ erfüllt somit alle Kriterien eines, wie es der slowenische Philosoph Zizek formulieren würde, erhabenen Objektes der Ideologie. Eine ganze Welle staatlicher Maßnahmen findet heute ihre Rechtfertigung in der Krisenbewältigung. Der politische Diskurs richtet sich neu aus.

Auf „Telepolis“ fordert der Theologe Franz Alt nichts Anderes als eine „grüne Revolution“. Diese Forderung überragt aus seiner Sicht die Ideale der Französischen Revolution, also Brüderlichkeit, Gleichheit und Freiheit. Damit definiert Alt die Vision eines gesellschaftlichen Neuanfangs, der zur rechten Zeit kommt.

In den letzten Jahrzehnten sind die Zweifel am bestehenden politischen System gewachsen. Es herrscht ökonomische Ungerechtigkeit zwischen Armen und Reichen, es gibt einen wachsenden Populismus und Nationalismus und die Krisen dieser Zeit haben zu immer mehr Staat und immer weniger Freiheit geführt. Ist die grüne Revolution die berühmte Flucht nach vorne? Die Frage, ob die Lage ein neues System erfordert, oder das alte Gemeinwesen in gewandelter Form gerettet werden kann, gehört zu den leidenschaftlich diskutierten Themen.

Bei aller Euphorie um eine klimaneutrale Gesellschaft sind Zweifel angebracht. Deutschland mag die ökonomischen Mittel haben, um den Wandel einzuleiten, trägt aber nur mit einem Bruchteil zum globalen Klimaausstoß bei und viele Erdregionen werden sich einen radikalen Kurs nach deutschem Vorbild kaum leisten können. Schon hierzulande werden die sozialen Folgen der Klimastrategie diskutiert, ein Auto zu fahren oder ein Haus zu bauen, droht zum Privileg der Oberschicht zu werden. Aber die Lage ist so dramatisch, dass ein einfaches Nichts-Tun der Selbstaufgabe gleichkäme. Die junge Generation ist naturgemäß nicht für die Hinnahme der Apokalypse oder für einen Zustand der Passivität zu gewinnen, stattdessen verlangt sie eine Aufbruchsstimmung. Ihre Lebensphilosophie dreht sich nicht um die alten Statussymbole und sie sind zu einer maßvollen Lebensweise, die sich am CO2-Ausstoß misst, bereit. Die Fridays-for-Future-Bewegung spricht hier eine eindeutige, in Zügen sogar radikale Sprache. Das Problem: Wer die Menschheit vor dem Untergang retten will, könnte eines Tages mit der Geschwindigkeit des demokratischen Prozesses unzufrieden werden. Immer wieder wird die Bewegung mit dem Vorwurf konfrontiert, sie trage „religiöse Züge“ in sich und befürworte sogar – falls die Gesellschaft sich nicht schnell genug wandelt – eine Art grüne Diktatur.

Wie stehen Muslime zu der Notwendigkeit der Revolution? Die Grundübereinstimmung mit der Umweltbewegung besteht darin, die Bewahrung der Natur als eine Grundaufgabe des menschlichen Daseins zu begreifen. Der Qur’an ist ökologisch und ganzheitlich ausgerichtet. Er spricht von Schöpfung (arab. khalq) und enthält über 250 Verse, in denen dieses Wort in seinen verschiedenen grammatikalischen Formen verwendet wird. Abgeleitet von der Wurzel kh-l-q, wird es in vielerlei Hinsicht erwähnt, um zu beschreiben, was wir in der Umgebung sehen, fühlen und spüren. Die Verse enthalten Hinweise auf die natürliche Welt, von Kräutern bis zu Bäumen, von Fischen bis zu Geflügel, vom Sonnenhimmel bis zu Sternen. Der Mensch ist Teil und zugleich Spiegel eines Ganzen. Der Qur‘an erinnert uns immer wieder daran, dass wir nicht die Herren, sondern die Diener der Welt sind. Man liest dort: „Die Erschaffung von Himmel und Erde ist weitaus größer als die Erschaffung der Menschheit. Aber die meisten Menschen wissen es nicht.“ (Ghafir, Sure 40, 57).

Allerdings gibt es einen wesentlichen Unterschied zur ausschließlich rational denkenden Umweltbewegung und ihrer Problemanalyse. Das Ziel der Bewahrung der Schöpfung steht im Islam, wie in allen anderen Religionen, in einem unauflöslichen Zusammenhang mit der Verantwortung des Menschen gegenüber ihrem Schöpfer. Gläubige bewundern die Natur, beten sie aber nicht an. Ihre Lebenspraxis lehrt auf verschiedenen Ebenen das Maß zu halten, fordert ökonomische Gerechtigkeit und empfiehlt den sozialen Ausgleich. Auf dieser Grundlage beteiligen sich Muslime und ihre Gemeinschaften schon länger an der europäischen Umweltbewegung. Der englische Denker Fazlun Khalid lehrt seit Jahrzehnten über den Zusammenhang von Ökonomie und Umweltzerstörung. Er sieht dabei in der überdimensional wachsenden Geldmenge, die Industriestaaten zu ihren Gunsten schaffen, einen Schlüssel, um den drohenden ökologischen Kollaps zu verstehen. Ein Aspekt, den die grüne Bewegung in Deutschland kaum reflektiert. Die Machtbegrenzung der Finanzwirtschaft und die Regulierung globaler Monopole gehört zu den Notwendigkeiten, die der europäische „Green Deal“ bisher nicht eindeutig beantwortet.

Wie immer sich die grüne Revolution in unserem Land manifestiert, aus Sicht der Offenbarungen gehören die Würde des Menschen und sein auf Transzendenz angelegtes Wesen zu einem positiven Weltbild. Jede Religion überwindet auf ihre Weise den reinen Pantheismus oder Materialismus. Dieser Geist trägt dazu bei, dass die andere vergessene Krise, die Verbreitung von Depressionen, eingehegt wird. Die alltägliche Anrufung des Krisenmodus gefährdet letztlich das Seelenheil des Menschen und lähmt seine Kreativität und Abwehrkräfte. Das Vertrauen auf ein gutes Schicksal und auf die Geheimnisse der Metamorphose gehört zu den geistigen Grundlagen der religiösen Lebenshaltung. Diese zeigt sich in dem berühmten Gleichnis, dass es sich sogar unter dem Eindruck des drohenden Untergangs auf jeden Fall lohnt, einen Baum zu pflanzen.