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Berlin: Eine Jugend in Berlin

Ausgabe 332

Jugend Berlin Muslime
Foto: imago/PMAX

Salim Nasereddeen wurde vor 27 Jahren in Berlin geboren, wo er aufwuchs und zur Schule ging. Mit ihm sprachen wir über eine Jugend in der Hauptstadt.

Islamische Zeitung: Als gebürtiger Berliner hast Du in verschiedenen Bezirken gelebt und im Umland. Wie würdest Du das Aufwachsen in der Stadt beschreiben?

Salim Nasereddeen: Wir sind in meiner Kindheit mehrmals umgezogen. Es war teilweise ein Schlüsselmoment, als ich auf die Oberschule kam gegen Ende meiner Schulzeit. Das waren tatsächlich Einschnitte, weil sich parallel mein soziales Umfeld geändert hat. In meiner Grundschulzeit haben wir in Reinickendorf an der Grenze zum Wedding gewohnt, wo es 2001 bereits migrantisch geprägt war. Das direkte Umfeld meiner Kindheit würde ich als migrantisch-bürgerlich beschreiben. Auf der Grundschule habe ich wenige soziale Missstände gesehen. Ich glaube nicht, dass wir viel Geld hatten. Aber meine Eltern haben mich das nicht spüren lassen. Die Gegend war sicher, sodass wir Nachbarskinder draußen spielen konnten.

Danach sind wir umgezogen, weil ich noch zwei kleine Geschwister bekam und wir eine größere Wohnung brauchten. Das war im Märkischen Viertel, das auch über Berlin hinaus bekannt sein dürfte – auf jeden Fall durch Sido bekannt wurde und ein bisschen zum Klischee geworden ist. Das ist eine Westberliner Hochhaussiedlung, wo wir im neunten Stock leben. In den Plattenbauten hat man diese Anonymität erfahren. Auch da habe ich gemerkt, dass meine migrantischen Eltern sich ein bisschen abgeschottet haben. Wir hatten unsere Zelle im neunten Stock. Die anderen waren die „Hartz-IV-Empfänger“, auf die man ein bisschen herabgeblickt hat. In der Nachbarschaft wurden auch RTL-Reality-Shows gedreht.

Eine Jugend im Kiez und im „Speckgürtel“

Islamische Zeitung: Und dann haben die Eltern den Entschluss gefasst und sich im „Speckgürtel“ angesiedelt. War das ein Kulturschock?

Salim Nasereddeen: Ich fand es auf jeden Fall aufregend. Meine Eltern haben den Entschluss gefasst, ein Eigenheim zu haben. Das war in Berlin für Normalsterbliche nicht machbar. Der gangbare Weg war dann ein Grundstück, eine Baufirma und auf Kredit ein simples Haus zu bauen. Weil ich kleiner war, habe ich zu Beginn nicht viel mitbekommen. Wir sind dann immer hin zum Grundstück, haben Bäume gefällt und viele Arbeiten selbst gemacht. Für mich war das vor allem aufregend. Allerdings hatte ich da nie ein soziales Umfeld. Der kleine Ort Birkenwerder ist an die Berliner S-Bahn angebunden. Da kannte ich unser Haus und den Bahnhof, der um die Ecke liegt. Fünf Minuten Laufweg und sonst nicht so viel. Das war die Zeit, als mein soziales Umfeld vor allem die Moschee wurde.

Islamische Zeitung: Für das Studium hast Du dich dann wieder für den Speckgürtel entschieden?

Salim Nasereddeen: Nicht sofort. Ich habe erstmal drei Semester Energietechnik studiert, aber mich nicht darin gesehen. Weil ich mein Arabisch verbessern wollte – ich bin zweisprachig aufgewachsen – bin dafür nach Jordanien, was für mich wegen meiner Familie nicht so richtig Ausland ist. Dort war ich auf einer Sprachschule. Ich bin dann zurück und habe in Potsdam Linguistik und Religionswissenschaft angefangen, weil ich mir dachte: Ich bin an Religion und Sprache interessiert. Deshalb hat sich diese Kombination angeboten.

Jugend
Neukölln
Straßenszene

Zwischen Imagination und Wirklichkeit

Islamische Zeitung: Es gibt unheimlich starke Bild- und Vorstellungswelten von Muslimen, Migranten und den Kiezen, bei denen man nicht weiß, was Wirklichkeit und was Vorstellung ist. Findest Du das Berlin, in dem Du aufgewachsen bist und lebst, überhaupt wieder?

Salim Nasereddeen: Ich sehe es, bin aber nicht so sehr darin aufgewachsen. Ich weiß, dass es diese Realitäten gibt. Migrantisch-bürgerlich ist einfach die Kategorie, in die meine Eltern passen. Beide haben eigentlich klassische Arbeiterberufe ergriffen. Meine Mutter ist Erzieherin, mein Vater Metallarbeiter und arbeitet jetzt in einem Onlinehandel für Stoffe. Er hat immer in einer Fabrik- oder Lagerhalle gearbeitet. Sie haben es aber „geschafft“ und sehen sich als Menschen, die eine Erfolgsgeschichte haben. Sie kamen damals mit zwei Koffern nach Deutschland, wobei meine Mutter in Berlin geboren ist und ihre Familie schon lange hier wohnt. Heute bin ich jeden Tag in Neukölln oder Kreuzberg und das ist eine Realität. Ich kann mich zwar ein bisschen in sie einleben, fremdele aber auch ein bisschen mit ihr.

Islamische Zeitung: In Berlin existiert eine bunte und vielschichtige arabische Community. Ein Teil lebt hier seit über 50 Jahren, ein anderer kam in den 1980er Jahren und viele jetzt ab 2015. Sehen sich die arabischen Berliner als Einheit oder gibt es unter ihnen auch Unterscheidungen?

Salim Nasereddeen: Schwer zu sagen. Es hat in meiner Familiengeschichte Flucht aufgrund von Not gegeben. Das liegt aber lange zurück. Das war meine Großeltern- und Urgroßeltern-Generation, sie flohen von Palästina nach Jordanien. Nach Deutschland kamen sie über Umwege. Mein Opa mütterlicherseits kam als 20-jähriger mithilfe der UNRWA nach Stuttgart, wo er eine Ausbildung machte und dann bei Daimler arbeitete, bevor er nach Berlin ging. Irgendwann hat er seine Frau nachgeholt und Kinder bekommen. Meine Mutter ist hier geboren, ihre Brüder sind alle Akademiker. Aber diese Fluchtbiografien und diejenigen, die sie erlebten, sterben aus. 

Wir sind schon Teil der arabischen Community. Aber dieses Phänomen des migrantisch-bürgerlichen ist meiner Wahrnehmung nach etwas typisch Jordanisches. Keiner in der Familie würde sagen, er sei „Jordanier“. Man ist sich seiner palästinensischen Identität bewusst. Man kommt aber aus einem Land, das stabil ist, aber auch stabil im Elend. Da macht man es sich zurecht. „Zumindest haben wir keinen Krieg wie in Syrien und im Libanon. Zumindest geht es uns nicht so wie in Palästina.“ Das Land Jordanien und wie dieser Staat aufgebaut ist, bringt eine ganz spezifische bürgerliche Haltung hervor. In Berlin, aber auch in Jordanien selbst, wo meine Verwandten teilweise recht wohlhabend sind, ist dadurch jeder ein bisschen individualistisch sowie selbstgenügsam.

Beeinflussen sich Raum und Muslime?

Islamische Zeitung: Glaubst Du, dass die Menschen, hier die Muslime, nur von der Stadt geprägt werden? Oder nehmen sie ihrerseits auch Einfluss auf den Raum selbst?

Salim Nasereddeen: Ich bin zwar noch nicht so alt, dass ich lange Zeitläufe überblicken kann; aber auf jeden Fall ist das so, wenn ich beispielsweise über die Sonnenallee laufe – und muss sagen, dass ich mich dort nicht unwohl fühle. Überwiegend haben die Läden arabische Werbung, es wird mehrheitlich Arabisch gesprochen und man kann überall auf Arabisch bestellen. Der Begriff „Straße der Araber“ hat sich längst etabliert. Das ist schon ein Mikrokosmos. 

Islamische Zeitung: Wenn man die Sonnenallee hochläuft und über den Mehringdamm zum Kottbusser Tor kommt, wandelt sich das Bild von Arabisch zu Türkisch. Ist es so, dass verschiedene Milieus ihren jeweiligen Raum oder „Kiez“ prägen?

Salim Nasereddeen: Ich habe zwar keinen demografischen Nachweis, aber die Gegend [wir sitzen in einem Café in der Nähe] nehme ich eher als türkisch geprägt war. Das hängt auch damit zusammen, wo welche Moscheen sind.

Vom Leben in den Kiezen

Islamische Zeitung: Und die dann in den jeweiligen Vierteln entstehen, wo der Bedarf möglicherweise größer ist als in einem anderen Quartier… Wie stark sind die Menschen neben der Stadt als Ganzem an ihren jeweiligen Stadtteil gebunden?

Salim Nasereddeen: Das ist interessant. Zum einen glaube ich, dass es so ist. Aber ich stehe durch meine Wohnortwechsel außen vor, weil ich über zehn Jahre entweder außerhalb oder knapp am Stadtrand gewohnt habe. In der Zeit, als ich eigentlich in Berlin gewohnt habe, hatte ich kein so starkes soziales Leben. Danach war es für mich normal, eine Stunde oder 50 Minuten mit S-Bahn zu fahren. Dafür gehe ich an verschiedene Orte von Moabit bis Wedding, von Kreuzberg bis Neukölln. Der Anziehungskraft der Kieze bin ich nicht so stark ausgesetzt, aber viele andere schon. Die Bezirke sind so aufgebaut, dass man vieles, was man braucht, in der unmittelbaren Umgebung hat. 

Islamische Zeitung: Heute ist der Begriff der „Parallelgesellschaft“ mehrheitlich negativ besetzt. Aber ist Berlin nicht schon sehr lange ein Sammelsurium verschiedener solcher Milieus – von den Arbeitersiedlungen im Norden zu den Villen am Wannsee, von den Kiezen Kreuzköllns bis zum Latte-Ghetto im Prenzlauer Berg?

Salim Nasereddeen: Es ist Teil einer Realität. Einige reflektieren das auch kritisch, viele nicht. Ich habe mal als Kassierer im KDW gearbeitet und da echte Parallelgesellschaft gesehen. Das war so für mich ein Erlebnis, was diesen Begriff relativiert oder sinnvoll erweitert hat. Ich denke, das ist unübersehbar. Ich glaube nicht, dass es geleugnet wird. Ich glaube aber, dass viele es sich in Parallelgesellschaften bequem machen, was vielleicht ein natürlicher Prozess ist. Besonders paradox wird es allerdings, wenn Leute es sich da bequem machen, während ihre „Blase“ weltanschaulich geprägt ist. Dabei hat man eigentlich doch den Anspruch, in die Welt hinauszuwirken. Ich merke, dass viele dieser Communities das vernachlässigen und es sich einfach gemütlich machen und nur darin leben. Ich glaube, diese Selbstzufriedenheit ist ein sehr bürgerliches Konzept.

Eine sinnvolle Kategorie?

Islamische Zeitung: Zur letzten Frage, weil Du von Handeln und Veränderung gesprochen hast. Jetzt haben wir in Berlin 250-300.000 Muslime. Glaubst Du, dass sie in Berlin das Potenzial haben, im positiven Sinne etwas zu Veränderung der Stadtgesellschaft beizutragen?

Salim Nasereddeen: Das weiß ich nicht. Ich frage mich, ob Muslime auf der Stadtebene Berlin eine sinnvolle politische Kategorie sind. Zumindest ist es für mich mittlerweile nicht mehr die alleinige. Unter diesem Begriff finden sich sehr unterschiedliche Menschen, die beispielsweise in der Frage der Klasse sehr verschieden sein können. Auch ihre Interessen können stark variieren. Ich denke, der Anspruch muss sein, erst mal in der Community selbst Brücken zu schlagen und diese Gemeinschaft zu einem Subjekt zu formen.

Islamische Zeitung: Danke für das Interview!