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Bestandteil der Landschaft

Ausgabe 250

Foto IZ Medien

Der folgende Text des britischen Akademikers ist die Zusammenfassung eines längeren Vortrages und einer Artikelserie, die er vor rund zehn Jahren in englischsprachigen Magazinen veröffentlichte beziehungsweise hielt. Jenseits der sich wandelnden Tagessituation behalten die faszinierenden Grundannahmen Hellyers auch heute noch ihre Gültigkeit.

Keine Frage, Islamfeindlichkeit ist Realität. Solange aber niemand davon ausgeht, dass Europäer erblich bedingt dem Islam misstrauen, müssen wir uns mit dem Thema beschäftigen. Die derzeitige Darstellung, die Islam in Europas Ländern erfährt, lässt zwei Erklärungen zu. Entweder handelt es sich dabei um eine verschlagene mediale Verschwörung, oder wir haben es mit einer Bevölkerung zu tun, die nicht weiß, worüber sie spricht. Letzteres ist wesentlich glaubwürdiger.

Die Darstellung des Islam als Art überlegener nationaler Identität wird den Bestand solcher Irrtümer wahrscheinlich verlängern. Eine neue Form von Parteilichkeit in Kombination mit Vorurteilen mag emotional befriedigend und psychologisch erfreulich sein. Sie ist aber nicht umsonst zu haben, sondern hat ihren Preis.

Es hatte früher den Eindruck, als hätten muslimische Gemeinschaften im Westen ungeachtet der Umstände bleibenden Charakter. Das ist längst nicht mehr gesichert. Wir können nicht die Möglichkeit ignorieren – wie das Schicksal der bosniakischen Muslime in Bosnien belegt -, dass Vorurteile und Engstirnigkeit zu etwas viel Schlimmerem mutieren könnten: eine Vertiefung der Islamfeindlichkeit und die Möglichkeit der Zerstörung muslimischer Gemeinschaften durch demografische Mehrheiten, die – aus welchen Gründen auch immer – den „Ungläubigen“ in ihrer Mitte fürchten. Gegenwärtig besteht aber kein Bedarf, Alarmglocken zu schlagen. In den Rechtsstaaten der EU ist solch eine Verfolgung nicht gegeben. Obschon sich bestimmte Nachbarschaften eher schwierig gestalten, sind europäische Gesellschaften bemerkenswert tolerant.

Die heutigen muslimischen Gemeinschaften müssen dankbar sein und dürfen nicht den Wert ihrer hiesigen Existenz unterschätzen. Obwohl sie oft unter wesentlich schwierigeren Bedingungen lebten, neigten die klassischen muslimischen Gemeinwesen viel stärker dazu, über – von ihnen selbst verursachte – Schwierigkeiten zu reflektieren. Teile ihrer heutigen Nachfolger legen diese Denkweise viel weniger an den Tag. Auf der anderen Seite müssen Bemühungen seitens einiger Nichtmuslime, ihre bedauernswerte Engstirnigkeit zu demonstrieren, durch jeden Europäer hinterfragt werden, dem an der Zukunft des Kontinents gelegen ist.

Das Scheitern, sich zu hinterfragen und als fester Bestandteil der europäischen Gesellschaften zu verstehen, ist eine Quelle der Frustration für muslimische Gemeinschaften, die nach einem produktiven und relevanten Islambild suchen. Das Gleiche gilt auch für gutwillige Nichtmuslime . Reaktionäre politische Bewegungen missbrauchen eine verzerrte Darstellung der muslimischen Gemeinschaft. Demnach sei diese ausschließlich auf der Suche nach wirtschaftlichen Vorteilen, ohne ihren Beitrag zur Gesellschaft zu leisten. Außerdem wolle sie – in dieser Vorstellungswelt – nur ihre extremistisch-politischen Vorstellungen vorantreiben.

Die Wurzel von Hass ist Furcht. Es ist normal für den Menschen, das zu fürchten, was er nicht kennt und nicht versteht. Eine Sache, die Europäer wiederholt lernen mussten, aber immer noch nicht richtig begreifen können. Etwas, das bekannt und verstanden ist, wird nicht von den Massen gehasst und dämonisiert. Natürlich wird es immer Menschen geben, die aus unterschiedlichen Gründen Realitäten zurückweisen werden. Dies ist aber im Großen und Ganzen nicht die tonangebende Eigenschaft irgendeines Volkes. Ganz zu schweigen davon, dass es nicht auf jene zutrifft, die ihre Länder für andere geöffnet haben, große Mengen an Wohltätigkeit in alle Welt schicken und sich immer wieder für Anlässe engagieren, die keine direkte Bedeutung für sie haben.

Schon in der Geschichte standen Muslime vor der Herausforderung, als „Minderheit“ zu leben. Historisch gesehen waren beispielsweise Muslime im chinesischen Kernland [im Gegensatz zu zentralasiatischen Regionen, die später annektiert wurden] zu Beginn ihrer Existenz im Vergleich wesentlich weniger. Sie hatten auch geringere Ressourcen als die heutigen Gemeinschaften in Europa. Einige Generationen betrieben im wörtlichen Sinne die Wirtschaft. Sie waren eingefügt in das Land. Und zwar in einem Umfang, dass Islam als eine der großen Religionen des Reiches anerkannt war. Sie begegneten nichtmuslimischen Chinesen mit einer Sprache, die diese verstanden, anstatt sich als fremde fünfte Kolonne aufzuführen, die sich weder für ihre Mitmenschen oder deren Kontext interessierte. Sie wurden in diesem Prozess Chinesen, aber blieben Muslime – bis zum heutigen Tage.

Das war anderswo ebenso der Fall; ungeachtet dessen, ob die muslimische Anwesenheit von politischer Souveränität (wie in Ägypten) begleitet war, oder nicht (wie in China). Allerorten übernahmen Muslime örtliche Gepflogenheiten. Die glorreiche Zivilisation von Al-Andalus war kein „arabischer Samen“, der in Europa eingepflanzt wurde, sondern eine frische, wunderschöne und neue Kultur der eigenen Art. Das Gleiche gilt für Nordafrika, den Grünen Halbmond, die Türkei, das subsaharische Afrika, Indien, und all die anderen Orte, zu denen Muslime kamen. Alle gingen eine Verbindung mit dem Land – und seinen Einwohnern – ein. Sie trennten mit Hilfe des Islam die „Spreu vom Weizen“. Damit entsprachen sie dem historischen Muster der Muslime.

Die Alternative wäre ein – mit Taten und Worten – konstantes Beharren darauf, dass Muslime in diesen Ländern nicht viel mehr seien als künstliche Importe aus anderen Orten. Muslime werden seit Jahrzehnten – trotz ihrer großen Zahl – in verschiedenen EU-Ländern unter anderem als „Pakistanis“, „Türken“ oder „Araber“ stereotypiert. Das ging so weit, als dass ein Nichtmuslim, wenn er den Islam annahm, historisch als „Türke“ etikettiert wurde.

In Zeiten, in denen neue europäische Dynamiken das Selbstverständnis der Europäer beeinflussen, sind solche Vorstellungen nicht hilfreich. Aufgrund der erstaunlich rasanten Veränderungen befinden sich auch Europäer in einer Identitätskrise. Diese wird permanent von Fremdenfeinden und Rechtsextremen ausgenutzt. Anstatt, dass das Problem unter Einbeziehung der neuen Dynamiken auf einer grundlegenden Ebene angegangen wird, nutzen einige den „muslimischen Anderen“ als Ausrede, um nicht das Rätsel der europäischen Identität zu lösen. Die politische Linke scheint sich damit zu beschäftigen, den Begriff der Nation zu dekonstruieren – unter dem Vorwand des Respekts vor und der Toleranz für Minderheiten. Währenddessen zieht es die Rechte vor, zu ignorieren, dass nationale Identitäten geprüft werden müssen. Das war in vorangegangenen Jahrhunderten die Norm. Die Linke scheint Muslime zu respektieren, aber nur als die „Anderen“. Rechte weisen sie zurück, auch als die „Anderen“.

Ein Schlüsselelement, das die Islamkritik seit Längerem ausbeutet, ist ein Unbehagen in vielen Teilen Europas. Europäer fühlen sich verletzlich im Angesicht einer Auflösung des sozialen Zusammenhalts und der Nation. Es ist wahrscheinlich, dass die ganze Schwere dieser Herausforderungen nicht in der muslimischen Anwesenheit begründet liegt. Muslime erscheinen als nützliche Entschuldigung, dem schmerzhaften Prozess der Selbstbefragung zu entkommen, welcher europäischen Gesellschaften bevorsteht. Anstatt sich den Fragen nach Identität zu stellen, zieht ein reaktionäres Element es vor, sich auf den „Anderen“ zu fokussieren.

Wie dem auch sei, Muslime sollten auch nicht den Anschein erwecken, zum Verschwinden des zivilen Ethos beizutragen. Ansonsten werden Nichtmuslime sie und ihre Religion misstrauisch beäugen. Selbst diejenigen, die Islam positiv gegenüber eingestellt sind, dürften keinen Wunsch verspüren, sie einer unnötigen kulturellen Apostasie zu bezichtigen. Müssen sie das überhaupt?

„Kein Muslim würde leugnen, dass Multikulturalismus bestimmte Grenzen haben muss“, schrieb Abdulhakim Murad. Denn der „Respekt für Vielfalt“ wird zu Wertemangel und nutzlosem Kulturrelativismus. Der Prophet, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, ermöglichte Medinas Juden ein großes Maß an Autonomie, aber verbot bedingungslos den Mord von weiblichen Neugeborenen. Das gleiche Prinzip gilt für die EU. Es ist nicht ungerechtfertigt, wenn europäische Gesellschaften ein Maß an kultureller Assimilation von Neubürgern erwarten. Über ihren Umfang lässt sich für immer streiten. Das ist eine Diskussion, an der sich die europäischen Muslime, als Gemeinschaft, die eine positive Absicht und einen ethischen Code hat, beteiligen müssen.

Wie die Konferenz zum malikitischen Recht in Europa in den 1980ern klar machte, ist es für die Muslime in Europa verpflichtend, zu bleiben. Das leitet sich sowohl von den klassischen islamischen Juristen ab, aber auch von zeitgenössischen, wie dem marokkanischen Hadithgelehrten Schaikh al Ghimari. Zur gleichen Zeit sind sie aufgerufen, sich an die Gesetze des Landes zu halten. Das soll nicht die Notwendigkeit einer kritischen Position zur europäischen Außenpolitik oder zur kulturellen Zerstörung leugnen. Solche Einschätzungen sind notwendig. Auf der anderen Seite sind für hiesige Muslime „wilde Anklagen gegen den großen Satan der eine globale Kreuzfahrer-Verschwörung plant, nicht nur gefährlich, sondern auch unhöflich – schwerlich eine geringe Sünde“ (A.H. Murad).

Das verweist auf die logische Schlussfolgerung, wonach alle Muslime sich als Mitglieder einer Gemeinschaft der positiven Absicht betrachten sollten. Sie sind angehalten, sich an der Verbesserung ihrer Gesellschaft im Rahmen der verfügbaren Mittel zu beteiligen.

In den Nachwehen des 11. Septembers 2001 traf Hamza Yusuf eine Feststellung für Muslime. Wenn sie – privat und öffentlich – keine gesetzestreuen Bürger sein könnten, seien sie nach der Schari’a verpflichtet, an einen Ort auszuwandern, an dem es ihnen möglich sei. Dafür wurde er von vielen kritisiert. Es ist schwer verständlich, warum.

In diesen wunderschönen Ländern bieten sich bestimmt für Muslime viele Möglichkeiten. Die Frage ist: Sind sie dafür bereit? Natürlich gibt es Probleme in unseren „westlichen“ Gesellschaften. Der 11. September 2001 gab den Anstoß (oder die Entschuldigung) für einen großen strukturellen Wandel. Der Polizeistaat mag noch nicht existieren, aber wir sind ihm so nah wie niemals zuvor. Und die Muslime müssen wahrscheinlich den Hauptteil des Drucks ertragen – unabhängig, was Experten oder Bürokraten behaupten.

Nichtsdestotrotz befinden sich Europas Gesellschaften – wie in vorangegangen Jahrhunderten – im Zustand der Veränderung. Unsere Werte werden ständig in Frage gestellt. Viele europäische Nichtmuslime wehren sich  seit Jahren gegen die Einschränkung ihrer Rechte und Freiheit. Sie bemühen sich mit ihrem Leben und ihrem Eigentum darum, dass wir in Freiheit leben können. Wo sind die Muslime?

Verharren sie am Rand einer solchen Debatte, können sie nur sich selbst die Schuld geben, wenn der Islam hier falsch wahrgenommen wird, anstatt sich an Diskussionen zu beteiligen. Wird „der Westen“ – in der Realität, nicht nur in Debatten – gleichbedeutend mit dem Begriff „Barbarei“, dann liegt ein Teil der Verantwortung bei Millionen Muslimen. Sie leben in diesen Ländern und haben noch nicht den nötigen Eindruck hinterlassen.

Inmitten all dessen besteht auch Hoffnung für Europa, wenn seine Zivilgesellschaft für die Beiträge seiner Bürger offen bleibt. Der Prophet, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, verstand die Pflichten des Individuums für die Gemeinschaft. Er lebte mehr als 40 Jahre unter seinen Leuten, beherrschte all ihre Dialekte und verkehrte mit ihnen in den jeweiligen Umgangsformen und Gewohnheiten. Als er Mu’adh in den Jemen entsandt, um die Leute des Buches zu treffen, riet er ihm, über die Einheit Gottes zu sprechen. Denn das war ein gemeinsamer Nenner, von dem aus er beginnen konnte. So müssen Integration, Teilhabe, Beiträge und Mitwirkung stattfnden. Es braucht ein Bewusstsein über das Gemeinsame, das Trennende, das Wesentliche und die überlieferte Kultur.