„Das moralisch Unsagbare ist sagbar geworden“

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Erstmals legt der Verfassungsschutz einen Lagebericht zum Antisemitismus in Deutschland vor. Judenfeindschaft finden sich danach in allen extremistischen Strömungen.

Köln (KNA). 75 Jahre nach dem Ende des Holocaust mit sechs Millionen Toten hat das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) erstmals einen 100 Seiten starken Lagebericht zum Antisemitismus in Deutschland vorlegt. BfV-Präsident Thomas Haldenwang erklärte am 10. August dazu, Antisemitismus sei schon immer eine erstaunliche Gemeinsamkeit von Demokratiefeinden gewesen. Doch Internet und Soziale Medien hätten eine neue Dynamik geschaffen. „Das moralisch Unsagbare ist sagbar geworden“, sagte er. Antisemitismus reiche bis in bürgerliche Kreise.

Bereits am Wochenende zuvor hatte Haldenwang eine deutliche Zunahme des Antisemitismus beklagt. „Wir müssen feststellen, dass es bei den rechtsextremistisch motivierten antisemitischen Straftaten im Jahr 2018 einen Anstieg um 71 Prozent gab und im vergangenen Jahr noch einmal um weitere 17 Prozent“ sagte er der „Süddeutschen Zeitung“ unter Verweis auf den Terroranschlag auf die Synagoge in Halle und häufige Beleidigungen, Bedrohungen und Attacken gegen Juden. „Wenn mir jüdische Bürgerinnen und Bürger sagen, dass sie sich fragen, wann der Zeitpunkt erreicht ist, Deutschland zu verlassen – dass sie überhaupt schon an diesem Punkt sind: Dann ist die Lage schlimm.“

Laut Lagebericht ist Antisemitismus in sämtlichen extremistischen Bereichen – unter Rechtsextremisten, bei „Reichsbürgern und Selbstverwaltern“, im Islamismus und Ausländerextremismus wie im Linksextremismus vorhanden. Allerdings hat er für die unterschiedlichen Bereiche eine unterschiedliche Bedeutung und auch ein unterschiedliches Ausmaß.

Die wohl größte Bedeutung besitzen antisemitische Welterklärungsmodelle laut Verfassungsschutz im Rechtsextremismus. Insbesondere für den „altrechten“ und völkischen Teil dieses Spektrums sei eine zumeist rassistisch begründete Judenfeindschaft konstitutiv, heißt es. Musik spiele bei ihrer Verbreitung eine besondere Rolle.

Eine vergleichbare Bedeutung hat der Antisemitismus laut Bundesamt in den islamistischen Strömungen. Muslimischer Antisemitismus werde vor allem aus (christlich-)europäischen Reservoirs gespeist. Einen rassistischen Antisemitismus gebe es hier allerdings nicht, heißt es. Den höchsten Stellenwert bei den islamistischen Strömungen besitzt laut Lagebericht der gegen den „Judenstaat Israel“ gerichtete antizionistische Antisemitismus.

Im Linksextremismus sehen die Verfassungsschützer nur eine nachrangige Bedeutung des Antisemitismus. „Gleichwohl greifen linksextremistische judenfeindliche Positionen auf dieselben Ressentiments und antisemitischen Bilder wie andere extremistische Erscheinungsformen zurück, wobei in erster Linie antizionistische Auffassungen ventiliert werden.“

Insgesamt schätzt der Bericht den antizionistischen Antisemitismus als derzeit bedeutendste Form der Judenfeindschaft ein. Er sei nicht nur die seit Jahren am häufigsten zu beobachtende Form. Er sei zudem in allen extremistischen Bereichen feststellbar und verbinde damit verschiedene Extremismen.

Besonders gefährlich ist er laut Bericht auch deshalb, weil er wie keine andere Erscheinungsform in einer breiten Öffentlichkeit anschlussfähig sei und extremistische Auffassungen mit nicht-extremistischen Diskursen verbindet. Bei den Debatten über die Situation in Nahost könnten antisemitische Aussagen einen weniger anrüchigen Charakter annehmen. Zudem bestünden weitverbreitete Unsicherheiten darüber, wo legitime Kritik am Handeln Israels aufhöre und antisemitisch grundierte Israelfeindschaft beginne.

Eine ganz neue Dynamik hat der Antisemitismus durch das Internet und die Sozialen Medien erhalten. Auf Webseiten, Blogs und Videoportalen würden nicht nur antisemitische Äußerungen verbreitet, schreiben die Verfassungsschützer besorgt. „Hier vollziehen sich vielmehr Radikalisierungsprozesse.“ Und hier würden auch antisemitische Gewalttaten angekündigt, live gestreamt und anschließend gewürdigt.

„Antisemitismus wird auf absehbare Zeit in allen Phänomenbereichen ein wesentliches Thema bleiben“, schreiben die Verfassungsschützer zusammenfassend. Opfer von Antisemitismus aber seien nicht nur die Juden, sondern die gesamte Gesellschaft.