Der Mann, der mich das Lieben lehrte

Ausgabe 276

Foto: Georges Jansonne, vie Wikimedia Commons | Lizenz: CC BY-SA 3.0

(iz). Wie sehr kann einen die Liebe verändern? Antworten auf diese Frage gibt es so viele, wie es Menschen auf der Erde gibt. Doch als Muslim, als jemand, dem von vielen Teilen der europäischen Gesellschaften die Fähigkeit zur Liebe abgesprochen wird, fühle ich den Wunsch, dieses Gefühl, welches ich im Herzen trage, in Worte zu fassen.
Meine Vorbilder, die mir helfen, es in Worte zu fassen, sind keine unbekannten: der ehrenwerte Maulana Dschalal Ad-Din Rumi, Yunus Emre, Saadi Schirazi. Was sie alle eint, ist, dass sie dichteten. Auch ich schreibe Gedichte. Im Alter von 16 Jahren habe ich damit angefangen und mit 23 begannen meine Gedichte, sich zu verändern. Mir ist das passiert, was auch diesen Poeten passiert war. Rumi ist auf Schems aus Täbris gestoßen, Yunus Emre auf Tapduk Emre, Saadi Schirazi auf Suhrawardi – und ich las Ghazali und wünschte mir einen Menschen zu treffen, der mich darüber aufklären würde, was die Welt im Innersten zusammenhält. Dante, Cervantes, Molière, Shakespeare, Voltaire, Goethe, Schiller, Wilde – sie alle konnten den Durst in mir nicht stillen. Sie machten mich nur noch durstiger – nach der Weisheit, die mit Ghazalis und später mit Descartes’ Worten „unumstößlich“ ist. Eine dieser unumstößlichen Weisheiten habe ich Jahre später in den folgenden Versen formuliert: „Der Verstand, der nicht zur Liebe führt, / Hat sich lebenslang umsonst gerührt.“
Der ehrenwerte Rumi widmete seinem Lehrmeister einen ganzen Diwan, den Diwan-i Schems. So sehr liebte er den, der ihn dem Wahren, Allah, den über alles Erhabenen, näher brachte. Er war bereit, seine Reputation, seine bisherigen Freunde, Bekannten, ja alles aufzugeben für die Liebe, die er für Schems, der Sonne von Täbris, empfand. „Horch des Täbriser’s Wort; er bietet Frieden; / Horch schweigend ihm, sein Wille ist so rein; / Wo nicht, so sind auf immer wir geschieden; / Du siehst es morgen; doch zu spät wird’s sein.“
Was macht ihn aus, diesen reinen Willen? Warum ist er bereit, sich von allen zu trennen, die ihn von seinem geliebten Lehrmeister trennen möchten? „Unser Reigen kennt den Dünkel, / Kennt die schnöde Selbstsucht nicht: / Männlich deinem Selbst entsagen / Sei darum dir strenge Pflicht.“ Seine persönlichen Interessen aufzugeben und sein Ego, die eigenen Bedürfnisse bewusst hinten anzustellen, Lob und Tadel der gesamten Menschheit als einerlei anzusehen, das erfordert wahre Männlichkeit. Diese drückt sich in Selbstlosigkeit aus. Weisheiten dieser Art wurden Rumi von seinem Geliebten gelehrt. Wer war sein Geliebter? – Allah, der über alles Erhabene. Und wie ist es möglich von Allah, dem Erhabenen, geliebt zu werden? Durch die Ausbildung der Wünsche, Bedürfnisse, des Egos – kurz, des körperlichen Selbst.
Die Hauptbeschäftigung der meisten Menschen besteht darin, Geld verdienen zu wollen, um dieses Leben in vollen Zügen genießen zu können. Gedanken an Leckerbissen, wohltuende Getränke, an attraktive Partner und Geschlechtsverkehr beherrschen die meisten. Die Furcht vor Armut und der Wunsch, reich zu sein, werden als Normalität angesehen, als menschlich. Der Besitz, das Auto, das Haus, der Partner an der Seite – dies sind Dinge, mit denen in der Gesellschaft Anerkennung erheischt werden soll. Wenn jemand in einem Ferrari vorbeifährt, werden die Augen groß, doch sie leuchten nicht auf, wenn ein Mensch bei Anfeindungen ruhig bleibt. Obwohl dieses Verhalten weit erhabener ist, erkennen wir es nicht als wertvoller an. Wir verkennen das Übersinnliche, was über den fünf Sinnen steht, und verehren und bewundern das Sinnliche. Dies ist der Beweis dafür, dass wir uns durch und durch auf dem Pfad der Sinnlichkeit befinden. Dazu sagt Rumi in seinem Diwan-i Schems: „O vergeude nicht dein Leben / Auf dem Pfad der Sinnlichkeit, / Dass du frisch und grünend bleibest / Für und für in Ewigkeit.“ Und er spricht: „Denn Gold und Silber kann mich nimmer ehren, / Es hat in meinen Augen keinen Werth: / Ein Herz nur ist mein sehnliches Begehren.“
Dies sind Erkenntnisse, zu denen Schems seinen Schüler führte, sodass er selbst zum Meister wurde. Und heute lebt wieder ein Meister in Konya. Sein Name ist Muhammed El-Konyevi – von seinen Schülern Seyda, der Geliebte, genannt. Er tut dort, was Maulana zu seiner Zeit tat. Er bietet Heilmittel, den Krankheiten seiner Zeit entsprechend.
Was stellt eine Krankheit dieser Zeit dar? – Das Aufregen und Beklagen, das Empören über Missstände. Was sagt ein Arzt der Herzen dieser Zeit, der Sufi Muhammed El-Konyevi, dazu? „Sich über den schlechten Charakter anderer zu beschweren, legt Zeugnis für den eigenen schlechten Charakter ab.“ Der Sufi fährt fort: „Wer sich selbst in Gefahr befindend für andere Mitleid empfindet, der ist ein großer Lügner.“ Die Frage ist: Befinden wir uns in Gefahr oder nicht? Die Antwort ist offensichtlich: Ja. Wir sind gefährdet, keinen guten Charakter zu besitzen. Hätten wir diesen, drückte sich dies darin aus, dass wir der Barmherzigkeit für alle Welten, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden schenken, gleichen würden. Doch das tun wir nicht. Dies deutet darauf hin, dass wir in unserer Anbetung zu Allah etwas falsch machen: „Wenn jemand gottgefällige Dinge tut und Ibada verrichtet, aber dennoch einen üblen Charakter besitzt, deutet dies darauf hin, dass die verrichtete Ibadat ihm keinen Nutzen einbringen.“
Zudem sagt mein Maulana, ein Meister dieser Zeit: „Der Mensch sollte sich nicht über die Geschöpfe Allahs, des Erhabenen, aufregen, sondern ihnen mit Güte und Barmherzigkeit begegnen. Um sich diese vorzügliche Eigenschaft anzueignen, muss er sowohl Allah, den Erhabenen, um Beistand bitten, als auch selbst Anstrengungen unternehmen.“
Sich über das niedere Verhalten anderer Menschen aufzuregen, deutet darauf hin, nicht Herr seiner Selbst zu sein. Es zählt zum tierischen Verhalten, dass dem Körperlichen entspringt. Körperlich deshalb, weil ein solcher Mensch rein biologisch dem Reiz-Reaktionsmuster Folge leistet. Dies zu durchbrechen ist nur durch starke Willenskraft, die den Menschen vom Tier unterscheidet, möglich. Ein solches handelt nur nach Instinkt. Der Mensch ist aber in der Lage, seinen Trieben Widerstand zu leisten und sich schöner zu verhalten. Dies ist die wahre Bedeutung des Wortes „Menschlichkeit“. Nur wer sein körperliches Selbst im Zaum hält, das Reiz-Reaktionsmuster durchbricht, verhält sich erhaben.
Die erhabene Antwort auf Anfeindungen wäre, sich nicht auf diesen Reiz einzulassen und sich seine Freiheit zu bewahren. Dazu sagt Muhammed El-Konyevi: „In der Tat zählt das Beherrschen des Zorns zu den Charakterzügen der Propheten, Gottesfreunde und Gelehrten. Vom Zorn besessen zu sein gehört hingegen zu den Eigenschaften der Tyrannen, Niederträchtigen, Unwissenden und Ehrlosen.“
Dies sind die Lehren der Freunde Allahs, der Repräsentanten Muhammads, Allah segne ihn und schenke ihm Frieden, wie dieser es selbst verkündete: „Die Gelehrten sind die Erben der Propheten.“
Diese Repräsentanten der islamischen Lehre sind die Lehrer der Menschlichkeit. Wer mit seinem körperlichen Selbst liebt, der liebt nicht wirklich. Er ist ein Sklave des Reiz-Reaktionsmusters. Ein solcher ist kein Liebender. Nur wer sich jemandem oder etwas bewusst zuneigt, der ist ein Liebender. Der ehrenwerte Rumi verlieh dieser Weisheit folgenden Ausdruck: „Gestehe, dass die Liebe eine gute Angelegenheit ist. / Jedoch zerstört die schlechte Natur ihre Reinheit. / Du hast deiner Begierde den Namen der Liebe gegeben; / Obwohl doch zwischen der Begierde und der Liebe eine große Distanz liegt.“
Begierde bedeutet, dem Körper Folge zu leisten, während zu lieben bedeutet, sich von der Herrschaft des Nafs zu lösen und sich zur höheren Menschlichkeit zu erheben. Auf Beleidigungen freundlich zu reagieren, Verwandte und Bekannte aufzusuchen, die den Kontakt abgebrochen haben, Geizigen etwas zu spendieren, kurz: Die schlechten Charaktereigenschaften anderer zu ignorieren und entsprechend eigener Werten zu agieren ist ein Ausdruck der Liebe.
Doch warum sollte ein Mensch so etwas tun, wenn er doch daraus keinen Nutzen zieht? Die Weisheiten, die ich von meinen Lehrer aufsog, ließen mich dies wie folgt beantworten: „Logik ist dort nicht zu Hause, Wo uns Liebe Leben lehrt; Jeder Mensch ist ein Banause, Der sich tollkühn gegen Liebe wehrt.“
Denn ein Mensch, der sich der Liebe erwehrt, der verschließt sich seiner Bestimmung, die Menschlichkeit in sich auszubilden. Diese Kunst lehrte mich Muhammed El-Konyevi, ein Erbe Muhammads, Allah segne ihn und schenke ihm Frieden, der mir das ist, was Schems für Rumi war: „Wo die Liebe mich als Meister lehrt, Dort verzweifeln Philosophen… Was das Denken Menschen bloß erschwert, leistet Liebe! Ausgedrückt in diesen Strophen.“
Was wir in unserer Gesellschaft am nötigsten brauchen, sind Menschen, die uns das Lieben lehren, denn: „Was Du erwirbst, ist alles bloß ein Sumpf, Wenn Liebe nicht im Blatt bleibt als Dein Trumpf: Die Liebe ist der einzige Triumph! Bei Allah, Er lässt nur Verliebte seh’n!“