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Die Afghanen stehen derzeit vor multiplen Krisen

Ausgabe 316

Foto: UNHCR/Edris Lutfi

Von Unsicherheit über Jahrzehnten des Konflikts bis zu Naturkatastrophen und Dürre – Afghanen stehen vor vielfältigen Krisen, die in steigendem Maße Opfer fordern. Nach Kosten in Höhe von Billionen US-Dollars und dem Verlust Tausender Soldaten haben die USA und ihre Verbündeten das Land nach zwei Jahrzehnten verlassen, in das sie im Rahmen des „Kampf gegen den Terror“ einmarschierten. Von Fareha Khan

Inmitten der Machtübernahme der Taliban nach dem endgültigen Rückzug internationaler Truppen entfaltet sich eine menschliche Tragödie. Unzählige haben ihren Wohnort verlassen, nachdem sämtliche Provinzen des Landes erobert wurden. Diese jüngsten Fluchtbewegungen haben den Bedarf nach humanitärer Hilfe weiter verstärkt.

Binnenvertriebene (IDPs)

Tage vor der Einnahme der afghanischen Hauptstadt sind Tausende Menschen aus verschiedenen Teilen des Landes nach Kabul geflohen. Alleine in diesem Jahr wurden mehr als 500.000 Menschen vertrieben.

Rund 80 Prozent der IDPs sind Frauen und Kinder. Das sind in Hinblick ihrer Traumata, ihres Stresses, Sorgen und Verletzungen die Menschen, die am gefährdetsten sind. Am wichtigsten sind für sie jetzt Dinge wie Lebensmittel, Wasser, Obdach und medizinische Versorgung.

Provisorische Unterkünfte

Wegen der intensiven Kämpfe in ländlichen Gebieten und Schlüsselstädten während der letzten Monate haben viele Afghanen Zuflucht in Kabul gesucht. Aus diesem Grund entstanden in den nördlichen Zonen der Hauptstadt Schahr-e-Naw und Sarai Schamali Flüchtlingslager. Angesichts des kommenden Winters ist diese Frage von erheblicher Bedeutung.

Lebensmittelunsicherheit

Schon vor dem Abzug der USA war das Land aufgrund von Dürre, Pandemie und jahrzehntelangem Konflikt mit Nahrungsmittelknappheit konfrontiert. Angesichts der weit verbreiteten Ernährungsunsicherheit in Afghanistan sind weiterhin fast 50 Prozent der Kinder unter fünf Jahren unterernährt. Außerdem leidet ein Drittel der afghanischen Bevölkerung unter Problemen der Lebensmittelversorgung.

Bereits zu Beginn dieses Jahres benötigte die Hälfte der Bevölkerung humanitäre Hilfe. Frauen machen vier Millionen dieser Bevölkerung aus und Kinder bis zu zehn Millionen.

Hinzukommt, dass diese humanitären Bedürfnisse wegen des Konflikts und der anhaltenden Rekorddürre zugenommen haben. Nach Angaben des Welternährungsprogramms (WFP) beeinträchtigt die Trockenheit die Viehherden negativ. In der Landwirtschaft sollen die Verluste bei 40 Prozent der Ernten liegen.

Faktor Covid-19

Die sozioökonomischen Auswirkungen der Pandemie verschlimmern die Lage. Momentan kämpft das Land mit der dritten und bisher härtesten Welle des Coronavirus.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist besorgt über die Ausbreitung des Virus in Afghanistan, da die jüngsten Entwicklungen die Impfungen verlangsamt haben. Angesichts des Widerstands der Taliban gegen Impfungen befürchten die medizinischen Behörden eine rasche und ungehinderte Ausbreitung des Virus im Land.

Die UN-Beraterin Shahid Meezan hat jahrelang in Afghanistan gearbeitet und hält sich derzeit in Dhaka (Bangladesch) auf. Ihrer Ansicht nach hänge momentan viel von den Entscheidungen lokaler Kommandeure in jeder einzelnen Provinz ab. „Beispielsweise haben die Taliban im östlichen Bezirk Paktia Warnungen vor Impfungen veröffentlicht und Gesundheitsteams entmutigt“, sagte sie in einem Interview mit SciDev.net.

Gesundheitswesen

Die medizinische Versorgung ist ein offenkundiges und wichtiges Bedürfnis. In den Wochen bis zur Machtübernahme der Taliban wurden tausende Menschen bei innerstädtischen Kämpfen verletzt.

Nach WHO-Angaben wird die medizinische Ausstattung nicht der Nachfrage gerecht. Zu den wichtigsten Dingen gehören Mittel für Gynäkologie und Kinderheilkunde. Gleichzeitig brauchen Maßnahmen gegen Mangelernährung bei Kindern dringend weitere Nahrungsergänzungsmittel.

Wirtschaft und internationale Hilfe

Die ökologische Lage Afghanistans ist bereits ungewiss. Sie hängt überwiegend von ausländischer Unterstützung ab. Die Mehrheit davon steht in Frage. Zeitweise war es Exilafghanen unmöglich, Finanzhilfen an ihre Familien in Afghanistan zu senden.

Darüber hinaus waren die Banken zeitweise geschlossen, mussten aber auf Anweisung der Taliban wieder öffnen. Allerdings wurde die Höhe möglicher Barabhebungen begrenzt. Mehrere Berichte sprachen von einem akuten und einem strukturellen Bargeldmangel. Noch in den Monaten vor der Regierungsniederlage arbeiteten mehrere Projekte an der Einführung elektronischer Zahlungssysteme. Die Bargeldkrise hat immense Auswirkungen auf die Bevölkerung, da zahlreiche Menschen keinen Zugang mehr zu lebensnotwendigen Gütern haben.

Viel gravierender dürfte sein, dass die Vereinigten Staaten die Reserven der afghanischen Zentralbank (DAB) eingefroren haben. Das hat den Zufluss von Bargeld ins Land unterbrochen, um die Taliban von den Mitteln fernzuhalten. So bleibt ihnen der Zugang zu den internationalen Reserven verschlossen. Höchstwahrscheinlich wird dies Inflation steigern und zu einer Entwertung führen, was Lebensmittelpreise anhebt und die Armen belastet.

Auch die internationale Gemeinschaft verlangsamt die humanitäre Hilfe für Afghanistan. Die allgemeinen humanitären Maßnahmen in dem Land sind seit vielen Jahren rückläufig, nachdem Anfang der 2000er Jahre weltweit die größte Hilfe geleistet wurde. Internationale NRO, die früher in vielen Bezirken des Landes tätig waren, haben ihre Präsenz im Laufe der Jahre reduziert. Daher hat ein großer Teil der gefährdeten Bevölkerung keinen Zugang zu Hilfe.

Ausblick

Insgesamt befindet sich Afghanistan nach wie vor in einer humanitären Krise. Da die Taliban die Kontrolle über das Land übernommen haben, ist es zudem unwahrscheinlich, ihnen innerhalb Afghanistans zu entkommen.

In der Hoffnung, dass die Einheimischen wieder ihrem eigentlichen Leben nachgehen können, verkündeten die Taliban am Dienstag, den 17. August, eine „Generalamnestie“ für Regierungsbeamte. Allerdings sind die Erinnerungen an das letzte Taliban-Regime noch ziemlich tief verwurzelt. Es bleibt daher abzuwarten, wie viele der Vertriebenen in ihre Häuser zurückkehren werden.

Im Moment muss sich die Welt darauf konzentrieren, die humanitären Bedürfnisse des afghanischen Volkes zu befriedigen. Jahrelange Konflikte, häufige Naturkatastrophen und Armut haben dazu geführt, dass Afghanistan auf dem Global Crisis Severity-Index einen der vorderen Plätze einnimmt. Da der Zugang zu humanitärer Hilfe nach wie vor erschwert ist, werden die dringendsten Bedürfnisse nur unzureichend und unregelmäßig befriedigt.