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Immer wieder beeindruckend ist die Hauptstadt Sarajevo – vor allem, wenn man sich für den Islam in Europa interessiert. Die bosnische Metropole verändert, erinnert und inspiriert den Gast.
(iz). Zu den schönsten Büchern in der Welt der Reiseliteratur gehört zweifellos „Die italienische Reise“ von Johann Wolfgang von Goethe. Der Schriftsteller erklärt darin nichts weniger als den eigentlichen Sinn des Reisens. Beinahe zwei Jahre lang reflektierte er in Oberitalien, Rom, Neapel und Sizilien die Natur, die Kunst und die Menschen, denen er auf seinem Weg begegnete.
Er erwartete von seiner Reise in die Fremde eine Veränderung, eine Metamorphose seiner Persönlichkeit. Die Sehnsucht nach seinen (griechischen) Idealen versuchte er stets zu aktualisieren, weil ihm bewusst war, dass er in Weimar in einer anderen Raumzeit lebt. Seine Inspiration war es, nach der Rückkehr, seine Erkenntnisse in eine neue Alltäglichkeit einfließen zu lassen.
Ein Besuch in Sarajevo ist fruchtbar
Mit dieser Absicht der Aktualisierung ist ein Besuch in Bosnien fruchtbar. Immer wieder beeindruckend ist die Hauptstadt Sarajevo – vor allem, wenn man sich für den Islam in Europa interessiert. Blickt man von den Bergen auf die Stadt, erzählt die lokale Architekturgeschichte, mit ihren, wie an einer Perlenkette aufgereihten Manifestationen, vom Leben und Schicksal der Menschen. In der Stadt erlebt man eine einmalige Gastfreundschaft und wird schnell Teil eines gelassenen Lebensstils.
Nach den Schrecken des Bosnienkrieges in den 1990er Jahre wahrlich keine Selbstverständlichkeit. Die Metropole verändert, erinnert und inspiriert den Gast. Und selbstverständlich mahnt die Geschichte des Landes den aktiven Austausch mit den Nachbarn zu suchen, gerade wenn sie anderen Kulturen oder Konfessionen angehören.
Die Ghazi-Husrev-beg-Moschee, Mittelpunkt der osmanisch geprägten Altstadt, mit ihren für alle Besucher offenen Türen, wirkt wie eine Einladung in einen geistigen Innenraum, der das bunte Treiben der Gassen vergessen lässt. Man darf nicht vergessen, dass der sakrale Raum Teil einer größeren Anlage ist. Die Infrastruktur rund um das Gebäude besteht aus öffentlichen, sozialen und ökonomischen Einrichtungen.
Gebetsruf zum Abendgebet und Fastenbrechen in Sarajevo, Bosnien. Foto: Ammar Asfour
Das Phänomen der Stiftungen
Es ist das Phänomen der Stiftungen, das die höheren Absichten der Muslime bezeugt. Im Moscheemuseum lese ich das Testament des Ghazi-Husrev-beg aus dem Jahr 1531. Es ist ein Aufruf zur Großzügigkeit, ein Bekenntnis zum Sinn und Zweck der Stiftungen, die auf Dauer angelegt sind und ausdrücklich der politischen Einflussnahme oder Instrumentalisierung entzogen werden. Der Gründer lebte in einer anderen, vergangenen Zeit – aber, diese soziale Idee bleibt bestehen. Eine friedliche Gesellschaft ist nur denkbar, wenn den Armen und Bedürftigen ein würdevolles Leben und Zugang zum Wissen ermöglicht wird.
Mich persönlich fasziniert die Konstellation von religiöser, sozialer und ökonomischer Infrastruktur rund um das ehrwürdige Gebäude; ein Zusammenspiel, das die Möglichkeit einer Balance birgt. Hier besichtigt man kein Museum. Man erkennt vielmehr ein Modell, das Muslime und Touristen aus aller Welt daran erinnert, dass die islamische Praxis nicht auf Politik reduziert werden kann. Auf unserer Reise geht es nicht darum, die Vergangenheit zu romantisieren, sondern eher darum, die Grundprinzipien dieses städtebaulichen Ansatzes zu verstehen.
Idealerweise ist eine Moscheeanlage nicht nur ein sakraler, geschlossener Raum. Die Bedürfnisse von Menschen, die nach Sinn und Bedeutung suchen, die Pflege der Nachbarschaft, die Nöte der Armen, die Notwendigkeiten der Reisenden oder der Händler werden ebenso erfüllt. Wie wir diese Aspekte in die moderne Stadtentwicklung des 21. Jahrhundert einfließen lassen, ist eine der wichtigsten Fragen an unsere Intelligenz.
IZ-Autor Prof. Dr. Enes Karic auf einer Pressekonferenz. (Foto: YouTube)
Die Geschichten schreiben die Schriftsteller – eine Begegnung mit Prof. Dr. Enes Karic
Es mag ein Vogel sein, der sanft auf einer Mauer landet. Laub, das der Wind über die Gräber fegt. Ein Blick, eine Geste, die man auf der Straße sieht. Die Phänomene, die uns wirklich treffen, bewegen, zum Staunen bringen oder erschrecken, führen uns in einen Moment der Sprachlosigkeit. Wir suchen nach Worten, um das Reale des Schönen oder Schrecklichen zu beschreiben.
Der Schriftsteller, oder die Schriftstellerin, widmen dieser Suche ihr Leben. Sarajevo ist nicht nur eine Stadt, die Geschichten schreibt, sondern auch ein Anziehungspunkt für all diejenigen, die sie aufschreiben, verstehen und lesen wollen. Manchmal findet man Bücher, oder sie finden uns. So treten wir in einen kleinen Buchladen ein und entdecken ein tiefsinniges Werk von Prof. Dr. Enes Karic: „Lieder wilder Vögel“.
Das Buch über die Rolle der Macht, der Liebe und des Glaubens ist historisch im Balkan des 16. Jahrhunderts angesiedelt und ist gleichzeitig eine Aktualisierung religiöser und philosophischer Fragen. Dabei wird klar, dass es zu keinem Zeitpunkt ideale Verhältnisse gab, wohl aber das Bemühen um Gewissheit, Redlichkeit und die Orientierung an moralischen Grundsätzen. In der Nacht lese ich in dem Werk und staune. Jeder hat seine eigenen Helden, ich bewundere das Vermögen des Schreibenden, dem es gelingt, den Reichtum seiner Erfahrungen zur Sprache zu bringen.
Am Morgen besuche ich das Literaturmuseum der Stadt, lese einige Biografien von Männern und Frauen, deren Namen für mich fremd klingen. Einige sind vergessen, andere wie der Nobelpreisträger Ivo Andrić berühmt geworden. Sie alle teilen die gleiche Leidenschaft und schreiben, woran sie geglaubt oder nicht geglaubt haben. Allein die Qualität ist der Maßstab: Ein Ungläubiger, der gut schreibt, wird den Gläubigen nicht verunsichern, sondern nur anregen, sein Wissen zu erweitern und noch tiefer zu glauben.
Man lernt eine andere Perspektive nicht kennen, wenn man sich mit den niedrigsten Ausdrucksformen dieser Kultur beschäftigt. Deswegen lohnt die Beschäftigung mit den Denkern und Dichtern, die in der Lage sind, die andere Sicht, ihre Erfahrungen auf höchster Ebene mitzuteilen. Das heißt nicht, dass man die jeweilige Quintessenz unbedingt teilt, sondern ist Ausdruck, dass man die harte Arbeit im Steinbruch der Wörter respektiert. Leben und leben lassen, als Bedingung der Möglichkeit des friedvollen Umgangs mit den Anderen, basiert nicht auf der Substanzlosigkeit, sondern ist das Ergebnis der Einsicht, dass Menschen unterschiedliche Geschichten erleben.
Diese Unterschiede zu erfahren und nachzuvollziehen, schafft keine Unsicherheit über die eigene Identität, sondern endet vielmehr mit einem Zugewinn für die eigene Substanz. Oft lese ich zum Beispiel die Werke Andersdenkender und erkenne in ihnen die Umschreibung des ersten Teils unseres Glaubensbekenntnisses.
Seit 2014 hat die Gazi-Husrev-beg-Bibliothek ein neues Zuhause. (Foto: O. Dikbakan
Islam ist ein Meer des Wissens
Der Islam ist ein Meer des Wissens. Wir besuchen das Museum der 1537 gegründeten Gazi Husrev-Beg-Bibliothek mit ihrer Sammlung von zehntausenden Büchern. Das älteste vorhandene Manuskript ist eine Abschrift aus dem Jahr 1105 des „Ihya’ Ulum ad-Din“ von Abu Muhammad Al-Ghazali. Darüber hinaus gibt es unzählige Werke in bosnischer, arabischer, persischer und osmanischer Sprache. In dem modernen Gebäude sehe ich aus der Ferne Studenten, die über ihren Schätzen sitzen und ihrem Wissensdrang nachgehen. Was studieren Sie? Es sind unendliche Möglichkeiten.
„Ich weiß, dass ich nichts weiß“, ist eine der Einsichten, die wir Sterblichen, die nur über sehr bescheidenes Wissen verfügen, gerne wiederholen. Es sind die Gelehrten, auch die begnadeten Schriftsteller, die uns Zeit sparen können, uns helfen und an ihren Erkenntnissen teilnehmen lassen. Treffen wir sie persönlich, dann ist ein sicheres Zeichen der gelungenen Vermittlung, dass wir verändert aus der Begegnung kommen.
Foto: Paul Katzenberger | Lizenz: CC BY-SA 3.0
Die Zeit des Kriegs
Ein anderes, wichtiges Kapitel in dieser Stadt beschreiben Bücher, die den Verlauf des Krieges in den 1990er Jahren nachzeichnen. Sie handeln vom Unglaublichen, von ehemaligen Nachbarn, die zu Feinden werden, von Verbrechen, von Heldentaten, von der Hoffnung und der Verzweiflung. Viele dieser Bücher wurden unter Tränen geschrieben und schaffen eine Erinnerungskultur, die in Zeiten des aufkeimenden Nationalismus in Europa, wie eine Mahnung wirken.
Jeden Abend, wenn wir aus der Altstadt hoch hinauf in die Berge in unsere Unterkunft wollen, benutzen wir ein Taxi. Die Gilde hat sich gut abgesprochen, es gilt ein Einheitspreis, der nicht zu verhandeln ist. Auf der Strecke entwickeln sich interessante Gespräche über Land und Leute. Beeindruckend ist zum Beispiel die Fahrt mit einer freundlichen Taxifahrerin, die sehr gut Deutsch spricht.
Als junge Frau, während des Krieges, lebte sie zwei Jahre in Deutschland und kehrte später zurück. Es war eine harte Zeit, seufzt sie. „Ich hatte schreckliches Heimweh und Angst um meine Eltern, die weiter in Sarajevo lebten.“ Ich frage sie, ob sie es für möglich hält, dass sich die schrecklichen Ereignisse eines Tages wiederholen könnten. „Ja, ich glaube das. Wir alle glauben das“, antwortet sie mit einem gequälten Lächeln, das ein Achselzucken begleitet. In ihrem melancholischen Ausdruck spiegeln sich gleichzeitig Sorge und Schicksalsergebenheit.
Wir sprechen über ihre ökonomische Lage. Sie beklagt sich, dass ihre gut ausgebildeten Kinder kaum Arbeit finden. Wir verstehen: Welche Mutter hat schon gerne, dass ihre Lieben die Heimat verlassen? Und sie deutet etwas an, das wir in unseren Gesprächen mit Slowenen, Kroaten und Bosniaken öfters hören: „In Jugoslawien waren die Verhältnisse bescheiden, aber immerhin gab es keine so extremen sozialen Unterschiede.“
Wir glauben nicht, dass es sich hier um Nostalgie handelt, oder gar um eine Sehnsucht nach der Rückkehr des Kommunismus. Die Botschaft ist einfacher: Es gibt in dieser Region nicht nur ökonomische Gewinner, sondern auch Armut und Zukunftsängste. Diese Phänomene – und nicht nur in dieser Region – sind immer der Nährboden für politische Unruhestifter.
Wir verabschieden uns herzlich von der Frau und das Gespräch wirkt nach. Am nächsten Morgen besuchen wir die Markthalle in Sarajevo. Hier sitzen Frauen vor ihren Ständen mit Obst und Gemüse, sie wirken gelangweilt. Die Geschäfte scheinen schleppend zu laufen und es ist ruhig an diesem Morgen. In der Ecke des Marktes sehen wir die Spuren des Einschlages einer Granate. Am 5. Februar 1994 waren hier viele Menschen gestorben. Wie bei jedem Krieg, kann man sich als Außenstehender nicht vorstellen, was eine Belagerung über so lange Zeit und das Leben in ständiger Todesgefahr bedeutet. Man kann hier eigentlich nur schweigend verweilen.
Gründe für einen gesunden Optimismus
Gott sei Dank gibt es gute Gründe für einen gesunden Optimismus. Keine Frage, das Land entwickelt sich: In vielen Städten in Bosnien sieht man Neubauten, moderne Geschäftshäuser und neue Straßen. Neben dem pulsierenden Leben entdeckt man noch immer die Narben vergangener Tage an den alten Häusern. Man lernt hier, dass der Frieden etwas Wertvolles ist und dass man diese Zeit nutzen muss, um Brücken zu schlagen. Selbstredend gesellt sich zu dieser Praxis die Verpflichtung, den Nationalismus und jedes andere Extrem abzulehnen. Die Existenz von Moscheen, Synagogen und Kirchen erzählen von einer Tradition: die Kunst des Zusammenlebens auf engstem Raum. Das ist etwas, was man aus Bosnien mit nach Hause nimmt.
Der Schriftsteller Dzevad Karahasan schrieb in seinem Buch „Die Schatten der Städte“ allgemein gültige Sätze über seine Heimat: „In Sarajevo ist die kulturelle Identität (…) unverbrüchlich mit einer Art sozialen Unbehagens verbunden, weil der soziale Kontext des Menschen in Sarajevo ständig daran erinnert, dass die Welt voll von andersartigen Leuten ist, dass sein Glaube nur einer von vielen ist, dass er und alles Seine nur eine von unzähligen Möglichkeiten im Ozean der göttlichen Allmacht sind.“
Für den bosnischen Denker hängt es vom Charakter und Erleben des Menschen ab, ob er in dieser Situation eine Chance, eine Verpflichtung zum gegenseitigen Kennenlernen oder eine Gefahr sieht. Diese Herausforderung, ein Klima des von gegenseitigem Respekt getragenen Miteinanderseins zu schaffen, stellt sich heute in allen Städten Europas. Zur Aktualisierung historischer Erfahrung gehört es, sich an die gelungenen und gescheiterten Versuche der Geschichte zu erinnern.