Mit Handicaps umgehen

Ausgabe 236

„Auch in Deutschland gibt es Muslime mit verschie­denen Arten von Behinderungen, deren genaue ­Anzahl wir leider nicht kennen und auch nur anhand der allgemeinen Verteilung von zum Beispiel Schwerhörigen und Tauben bundesweit grob einschätzen können.“

von Tugba Göksu und Ali Özgür Özdil

(iz). Der Prophet (Allahs Segen und Friede sei mit ihm) sagte: „Die Belohnung des Blinden, wenn er sich geduldet, ist (einzig und allein) das Paradies.“ (Überliefert bei Bukhari) Muslime müssen verinnerlichen, dass gemäß des vom Propheten, Allahs Segen und Friede mit sei ihm, geäußerten Grundsatzes „Allah blickt weder auf euer Aussehen noch auf euren Besitz, sondern nur in eure Herzen und auf eure Taten“ (überliefert bei Muslim), Äußerlichkeiten bei Allah keine Bedeutung haben.

Dennoch bestimmen diese äußerlichen Unterschiede das menschliche Zusammenleben, trennen uns voneinander und schließen aus. Die Frage besteht also darin, wie wir Fremd- und Andersartigkeit auf eine bewusste Art und Weise begegnen und mit ihr umgehen sollen?

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Der Prophet,Allahs Segen und Friede sei mit ihm, hat jene gerügt, die sich über Behinderte lustig gemacht haben (Ahmad ibn Hanbal). Khadidscha, die Frau des Propheten, bezeichnete ihn als „tahmilu’l-kalla“, das heißt, als jemanden, der die Schwachen trug. Mit „Al-kalla“ sind jene gemeint, die nicht in der Lage sind, ihre Angelegenheiten alleine zu regeln, also jene, die schwach und hilfsbedürftig sind. Dieser Begriff schließt somit jede Art von körperlicher und geistiger Behinderung ein.

Als der Prophet, Allahs Segen und Friede sei mit ihm, beispielsweise seine Gefährten aufforderte, dass sie für jeden Tag eine Sadaqa geben sollten, sagten diese: „Das können wir uns nicht leisten.“ Daraufhin sagte er: „Dass ihr dem Blinden den Weg zeigt, dass ihr mit den Gehörlosen so redet, dass sie euch verstehen, (…) dass ihr den Hilfsbedürftigen helft, dass ihr die Schwachen unterstützt, all dies ist eine Sadaqa.“ (Ahmad ibn Hanbal) Der Prophet, Allahs Segen und Friede sei mit ihm, hat jedoch auch gewisse Verantwortung an körperlich behinderte Gefährten übertragen, wie an Huzaifa Al-Jamani (gest. 656), der für die Verwaltung des Jemen eingesetzt wurde oder der blinde Abdullah ibn Ummu Maktum, den er als seinen Stellvertreter in Medina einsetzte. Wer aber war beispielsweise Abdullah ibn Ummu Maktam? In Sure Abasa (80, 1-10) lesen wir: „Er runzelte die Stirn und wandte sich ab, weil der blinde Mann zu ihm kam. Was aber lässt dich wissen, dass er sich nicht reinigen wollte, oder nach Ermahnung suchte und ihm somit die Lehre nützlich wäre? Was nun den angeht, der gleichgültig ist, dem widmest du Aufmerksamkeit, ohne dir etwas daraus zu machen, dass er sich nicht reinigen will. Aber der, der in Eifer zu dir kommt, und dabei gottesfürchtig ist, um den kümmerst du dich nicht.“ Der Prophet (Allahs Segen und Friede sei mit ihm) sagte später zu Abdullah ibn Ummu Maktum: „Willkommen ihm, wegen dem mein Erhalter mich gerügt hat.“

Behinderung wird im Qur’an mit da’afa (körperlich schwach) beziehungsweise sahih (schwach im Geist; allgemein da’if = schwach) bezeichnet und nicht als darar (Schaden, Nachteil, Leid). Im Islam sind Menschen – entsprechend der Art und dem Grad ihrer Behinderung – von verschiedenen religiösen und sozialen Pflichten befreit (siehe zum Beispiel Sure 24, 61 und 48, 17): „Kein Tadel trifft den Blinden, noch trifft ein Tadel den Gehbehinderten, noch trifft ein Tadel den Kranken (…).“ (48,17). Den vielleicht wichtigsten Grundsatz hierzu bildet aber der Vers: „Allah erlegt keiner Seele mehr auf, als sie zu tragen vermag (…).“ (Sure Al-Baqara, 286) Was sagt uns dieser Vers? Er sagt uns, dass jeder nur für das zur Verantwortung gezogen wird, wozu er imstande ist. Menschen mit Behinderung können zum Beispiel auch im Sitzen oder im Liegen ihre Gebete verrichten. Wer finanziell nicht in der Lage ist, Zakat zu zahlen oder nach Mekka zu pilgern, ist von diesen Pflichten befreit. Besonders bemerkenswert ist die Aussage des Propheten (Allahs Segen und Friede mit ihm): „Jemand, der versucht den Qur’an zu lesen, obwohl es ihm schwer fällt, für den gibt es die doppelte Belohnung.“ (Bukhari, Muslim) Niemand muss sich schämen für seine Behinderung, sondern diese mit Geduld ertragen.

Auch der Prophet Ajjub, Friede sei mit ihm, war sehr lange körperlich krank. Er ertrug es aber mit Geduld und beschwerte sich nie. Demnach können wir irgendwann alle von Behinderungen verschiedener Art betroffen sein, wie Schwerhörigkeit oder Sehschwäche im Alter, oder auch von einer Sportverletzung. Es ist also ein Thema, dass uns alle angeht.

Kommen wir nun zu der islamischen Gemeinde in Deutschland, die uns direkt betrifft, für die sich jeder einzelne von uns verantwortlich fühlen sollte. Auch in Deutschland gibt es Muslime mit verschiedenen Arten von Behinderungen, deren genaue Anzahl wir leider nicht kennen und auch nur anhand der allgemeinen Verteilung von zum Beispiel Schwerhörigen und Tauben bundesweit grob einschätzen können. So sollen es schätzungsweise 15.000 taube und schwerhörige Geschwister sein, die unscheinbar zwischen uns leben. Unscheinbar, weil wir sie größtenteils nicht wahrnehmen. Wie wollen wir sie auch wahrnehmen, wenn wir selbst sie nicht in unseren eigenen Reihen vertreten und uns für sie einsetzen? Der Prophet, Allahs Segen und Friede sei mit ihm, hat uns aufgefordert, den Bedürftigen den Weg zu weisen. Der Bedürftige ist aber nicht nur der Obdachlose, der Hungrige oder Durstige.

Wir Muslime sollten uns die Frage stellen, welches unser wichtigstes Bedürfnis ist. Ist es nicht in erster Linie der Islam? Wenn es doch so ist, warum berücksichtigen wir nicht diejenigen, die uns offen bekunden, dass sie den Islam lernen und kennen lernen wollen? Es sind diejenigen, die sich betroffen fühlen von dem Qur’anvers „Allah erlegt keiner Seele mehr auf, als sie zu tragen vermag (…).“ (Sure Al-Baqara, 286) Diejenigen, deren Augen nicht sehen, Ohren nicht hören, Arme und Beine nicht ihre Aufgabe erfüllen, die aber trotz dieser Einschränkungen solch einen Iman besitzen, dass sie den Islam lernen und kennen lernen wollen – mit den Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen beziehungsweise stehen sollten. Doch sie können es nicht, weil wir zwischen uns für sie Barrieren aufgestellt haben, wir haben sie vernachlässigt und in unserem Eifer, das Ansehen der muslimischen Gemeinde in Deutschland zu verbessern, haben wir genau jene vergessen und unverstanden gelassen, deren Verantwortung doch uns auferlegt war. Genau in diesem Punkt, sollten wir uns wieder die Frage stellen, ob wir dem Begriff der einen Umma noch gerecht werden können.

Wir leben in einer Zeit, in der sich die Gebärdensprache und die Blindenschrift etabliert haben und als offizielle Sprachen anerkannt werden. Gebäude werden barrierefrei errichtet, sodass auch Rollstuhlfahrer Zugang zu ihnen haben. Menschen studieren in Gebärdensprache und in der Blinden- beziehungsweise Brailleschrift. Es gibt hochqualifizierte Gebärdendolmetscher, Priester und Pastoren, die die Gebärdensprache beherrschen. Jugendliche haben die Möglichkeit, ihren Glauben in der Gebärdensprache, oder in der Brailleschrift zu erlernen. Somit werden mittlerweile die wichtigsten Lebensbereiche und der Zugang zu diesbezüglichen Informationen für zum Beispiel Blinde und Taube weitestgehend ermöglicht. Was aber den Islam angeht und den Zugang zu islamischem Wissen für Menschen, deren Muttersprache beispielsweise die deutsche Gebärdensprache ist und nicht Arabisch, Türkisch oder die deutsche Schriftsprache, so befindet sich die engagierte Umma bedauerlicherweise noch auf dem Stand, auf dem sie sich befand, als sie das erste Mal den deutschen Boden betrat.

Dies hat unter anderem dazu geführt, dass wir heute „muslimische“ Jugendliche haben, die mit dem Namen Muhammad, Allahs Friede und Segen sei mit ihm, nichts anfangen können, weil er in ihrer Welt nie existiert hat; welche die Moschee meiden, weil sie dort nichts verstehen und niemand sich darum schert, dass sie etwas verstehen. Die im Grunde genommen religiös verwahrlosen müssen, weil die Umma diese beschämende Lücke selbst produziert hat und nichts daran ändert.

Diese Lücke ist erst vor kurzer Zeit einigen wenigen gewissenhaften Muslimen und den Gründern des kürzlich entstandenen Interkulturellen Instituts für Inklusion e.V. aufgefallen, welches die Initiative ergriffen hat, sich für die Belange dieser vergessenen Minderheiten einzusetzen und überall dort eine Barrierefreiheit herzustellen versucht, wo islamische Informationen angeboten und islamische Religionspraktiken vollzogen werden.

Das oberste Ziel ist die Inklusion der Muslime mit Behinderung in Deutschland in die islamischen Gemeinden. Unter Inklusion versteht der I.I.I. e.V. die gleichberechtigte Teilhabe aller Muslime an der muslimischen Community Deutschlands entgegen der bloßen Integration nur derjenigen, die abhängig ihrer Kompetenzen integriert werden können. Im Falle einer Integration würde eine sprachliche Barriere zum Beispiel zur Exklusion und somit zur Separation innerhalb der Gesellschaft führen, was momentan bezüglich Muslimen mit einer Behinderung der Fall ist.

So hat der blinde Muslim in Deutschland nicht ohne erheblichen Aufwand die Möglichkeit, den Qur’an in der Brailleschrift zu lesen, dem tauben Muslim fehlt nahezu die gesamte islamische Terminologie in seiner Muttersprache, der deutschen Gebärdensprache, und es fehlen ihm Gelehrte und Ansprechpartner, die ihm in seiner Sprache den Glauben beibringen könnten. Die wenigsten der um die 2.500 existierenden Moscheen in Deutschland sind so konzipiert, dass auch Rollstuhlfahrer das Haus Allahs ohne Probleme betreten können.

Nicht nur diesen, sondern auch vielen anderen unerwähnten Sorgen und dem Missstand von Muslimen mit Behinderung in Deutschland will das Interkulturelle Institut für Inklusion e.V. mit verschiedenen, teilweise schon laufenden Projekten, entgegenwirken. Denn der Durst von Muslimen mit Behinderung nach islamischem Wissen wird langsam von allen Seiten sichtbar. Dies zeigt sich nicht nur im enormen Interesse und in der Zahl der schwerhörigen und tauben Teilnehmer an der vom I.I.I. e.V. begonnenen Seminarreihe zu den islamischen Glaubensgrundsätzen in der deutschen Gebärdensprache, die sich von der einen auf die andere Veranstaltung verdoppelt hat, sondern auch in den immer häufiger werdenden Anfragen zu sämtlichen Themen in diesem Bereich.

Der I.I.I. e.V. befindet sich noch im Aufbaustadium und soll inscha’Allah zukünftig ein bundesweites Netzwerk aus ehrenamtlich engagierten Muslimen bilden. Derzeit trägt der Verein sich noch selbst und benötigt sowohl personelle als auch finanzielle Unterstützung. Gedenken wir der Worte unseres Propheten (Allahs Friede und Segen mit ihm): „Dass ihr dem Blinden den Weg zeigt, dass ihr mit den Gehörlosen so redet, dass sie euch verstehen, (…) dass ihr den Hilfsbedürftigen helft, dass ihr die Schwachen unterstützt, all dies ist eine Sadaqa.“ (Ahmad ibn Hanbal) und überlegen wir, ob wir unsere Sadaqa – egal ob mental oder finanziell – nicht auch denjenigen widmen wollen, die in unserer unmittelbaren Nähe sind und deren Verantwortung somit in unserer Hand liegt.